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2 Skitourengeher neben einer Lawine im Kühtai.
01. Mrz. 2023 - 10 min Lesezeit

Wisdom of Crowds: Senkt eine Gruppe das Lawinenrisiko?

Gefahren einzuschätzen, ist für Einzelne schwierig. Doch ist es in einer Gruppe einfacher? Wie fällen wir gute Gruppenentscheidungen am Berg?

Die Lawinengefahr richtig einzuschätzen und die entsprechenden Entscheidungen zu fällen, gehört zum Schwierigsten und Wichtigsten im Bergsport überhaupt. Es gibt so viele Unbekannte: Wie störanfällig ist die Schwachschicht? Wo ist sie genau vorhanden? Haben wir ausreichend Hinweise gesammelt? Was wären die Konsequenzen bei einer Lawinenerfassung? Seit Jahren versuchen wir, diese Unbekannten zu reduzieren und unsere Schnee- und Lawinenkenntnisse zu verbessern.

Schneekristalle und persönliches Wissen sind wichtig, aber nicht alles. Oft unerkanntes Potential für bessere Entscheidungen sehen wir derzeit vor allem noch in der Gruppe. Unter den richtigen Bedingungen sind Gruppen nämlich fähig, deutlich bessere Entscheidungen zu treffen als die Individuen alleine.

Optimierung der Gruppenentscheide als Risiko-Reduktionsstrategie

Wenn wir in die Berge gehen, tun wir dies oft mit anderen zusammen. Wir haben Spaß, unterhalten uns und teilen unsere Erlebnisse. Wir sind also in einer Gruppe oder einer Seilschaft unterwegs – beim Höhenbergsteigen spricht man auch oft von einem Team.

In dieser Gruppe fällen wir auch unsere Entscheidungen, wobei dies sehr unterschiedlich geschehen kann. Es kann dies eine Person alleine tun, meistens ist das dann die Person mit der größten Erfahrung, zum Beispiel ein Bergführer oder eine Bergführerin. Auch wenn dies nach einem „Einzelentscheid“ aussehen mag, ist der meist beeinflusst von der Gruppe. Oder wir entscheiden tatsächlich gemeinsam als Gruppe.

Wir diskutieren, beraten und entscheiden uns. Es ist aber oft ein schwieriger und langwieriger Prozess, den wir vermutlich weniger geübt haben, als den Lawinenlagebericht individuell zu interpretieren oder die Schneedecke zu analysieren. Es ist an der Zeit, den Entscheidungsprozess in der Gruppe etwas genauer unter die Lupe zu nehmen und dadurch unsere Treffergenauigkeit beim Entscheiden zu erhöhen. „Wisdom of Crowds“ in den Bergen? Die Autoren sehen darin ein oft ungenütztes Potential zur Erhöhung der Sicherheit im Lawinengelände.

Skitouring Scotland
Kann eine Gruppe die Gefahr besser einschätzen? Nora Hanson genießt feinsten „Plattenpulver“ in Schottland. Foto: Philip A. Ebert

Social choice theory und ein Gedankenexperiment

Die Sozialwahltheorie oder social choice theory ist ein interdisziplinäres Arbeitsgebiet in der Ökonomie, Entscheidungstheorie, Philosophie und Politikwissenschaft, das sich mit verschiedenen Wahlmethoden und Formen der „kollektiven Entscheidung“ befasst. Dabei ist das Phänomen des „Wisdom of Crowds“ oder der kollektiven Intelligenz ein wichtiger Schwerpunkt (Surowiecki, 2004).

In der Medizin, im Risikomanagement und in sogenannten „prediction markets“ werden diese Methoden seit Langem genutzt. Im Risikomanagement im Bergsport hingegen ist die Idee der kollektiven Intelligenz noch wenig diskutiert. Ganz im Gegenteil, im Bergsport bei Lawinenunfällen wird die Gruppendynamik oft mit nachteiligen Risikoeffekten erwähnt. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass die Gruppe gerade bei Lawinen auch erhebliche Vorteile mitbringt, die zum Beispiel bei einer Rettungsaktion sehr offensichtlich sind.

Worüber wir uns aber kaum bewusst sind, ist die Möglichkeit, dank dem Potential für kollektive Intelligenz, als Gruppe bessere Entscheidungen zu treffen, als die einzelnen Gruppenmitglieder dies können. Das klingt vielleicht wie Magie, ist aber eigentlich Mathematik. Der Mechanismus, der dem Phänomen „Wisdom of Crowds“ zu Grunde liegt, ist aber an Voraussetzungen gebunden, die oft schwer zu erfassen sind. Ein kurzes abstraktes Gedankenexperiment kann hier hilfreich sein.

Stell dir vor, du besitzt eine gezinkte „magische Lawinenmünze“. Auf der einen Seite der Münze steht eine „L“ für Lawine, auf der anderen Seite ein „S“ für sicher. Was die Lawinenmünze magisch macht, ist, dass sie eine 80-prozentige Treffsicherheit hat. Das bedeutet, dass wenn eine solche magische Münze geworfen wird, sie relativ gut spezifische lawinengefährdete Hänge erkennt und im Durchschnitt vier von fünf Mal auf „L“ landet; das gleiche für „S“ bei sicheren Hängen.

Nun stell dir vor, deine zwei Skipartner haben beide ihre eigene magische Münze mit der gleichen Treffsicherheit und ihr wisst auch, dass die Münzen sich nicht gegenseitig beeinflussen und somit unabhängig voneinander sind. Sollte man am Gipfel einfach nur eine Münze werfen oder macht es Sinn, alle drei Münzen zu werfen und dann die Mehrheitsentscheidung dieser drei Münzen zu benutzen?

Die Antwort ist ganz klar: Unter idealen Bedingungen und wenn die drei Münzen wirklich unabhängig voneinander sind, erhöht sich die Treffersicherheit von 80 Prozent auf bis zu 90 Prozent. Das heißt, statt acht von zehn können wir nun neun von zehn Lawinenhängen richtig einschätzen und dies nicht aufgrund neuer Informationen, sondern nur, weil wir statt einer Münze, analog zu einem kompetenten Entscheidungsträger, eine Gruppe von Münzen, also eine Gruppe von drei kompetenten Entscheidungsträgern benutzten.

Der Grund, warum drei Münzen besser sind als eine, ist, dass Fehler im Entscheiden sich hier gegenseitig ausschließen können. Eine Münze, die eine falsche Entscheidung trifft, kann durch zwei richtige Entscheidungen überstimmt werden und somit kann sich die Treffergenauigkeit der Gruppe erhöhen. Natürlich ist dies ein idealisierter Fall und diesen direkt auf echte Entscheidungen im Bergsport anzuwenden bedarf Vorsicht. Trotzdem möchten wir mit diesem Gedankenexperiment zu Ideen und Vorschlägen für die wirklichen Gruppenentscheidungen im Bergsport anregen und dies zur Diskussion bringen (weitere Diskussionen, Ebert & Morreau 2022).

Gedankenexperiment „magische Lawinenmünze“
Anhand des abstrakten Gedankenexperiments „magische Lawinenmünze“, welche eine 80-prozentige Treffsicherheit aufweist, können relativ gut spezifische lawinengefährdete Hänge erkannt werden.

In unserem Gedankenexperiment fokussieren wir uns auf eine ganz spezifische Entscheidung, nämlich die: Tritt eine Lawine an diesem Hang auf, ja oder nein? In vielen anderen Fällen ist aber wohl nicht allen Gruppenmitgliedern klar, auf was sich die Entscheidung bezieht und was die Optionen sind. Um die kollektive Intelligenz zu generieren, müssen alle Gruppenmitglieder die gleiche Frage beantworten. Eine Mehrheitsentscheidung als Gruppenentscheidung ist dann angemessen, wenn es um eine einfache Ja-/Nein-Entscheidung geht.

Wenn aber eine Varianten-Entscheidung ansteht – nehmen wir das Beispiel, wenn von einem Gipfel drei verschiedene Abfahrtsvarianten möglich sind –, dann funktioniert die Mehrheitsentscheidung nicht immer. Besser ist es, in diesem Fall, eine Entscheidung mit individuellen Bewertungen auf einer Skala von 1 bis 5 zu machen (z. B. 5 = höchstes Risiko, 1 = niedrigstes Risiko), wobei dann der Median oder Mittelwert der individuellen Bewertungen als Gruppenentscheidung benutzt wird.

Entscheidungskompetenz, Unabhängigkeit und Beratung

Wenn die Fragestellung klar formuliert ist, sind drei Faktoren für eine gute Entscheidung in der Gruppe entscheidend. Erstens müssen die einzelnen Gruppenmitglieder eine Entscheidungskompetenz haben, die besser ist, als eine normale Münze zu werfen. Eine Treffergenauigkeit von über 50 Prozent ist also gefragt. Dies mag etwas seltsam klingen, da wir uns bei unseren Entscheidungen ja meist recht sicher fühlen. Bedenken wir aber zum Beispiel ein Altschneeproblem, wo unsere Treffsicherheit aufgrund der vielen Unsicherheiten vermutlich eher niedrig ist.

Hier ist ein offener Umgang mit Unsicherheiten gefragt und man muss akzeptieren, dass es nicht immer einfach ist, richtig einschätzen zu können, wie treffsicher man wirklich ist. Falls die Treffergenauigkeit unter 50 Prozent beträgt und man in diesem Sinne dann „inkompetent“ ist, besteht ein weiteres kritisches Problem. Der Mechanismus, der dem Phänomen „Wisdom of Crowds“ unterliegt, vergrößert nun diese Inkompetenz. Drei Personen, die je eine Treffsicherheit von nur 20 Prozent haben, werden bei einer Mehrheitsentscheidung eine zehnprozentige Treffersicherheit haben.

Skitourengruppe neben Lawine.
Gruppen können mit der richtigen Entscheidungsstrategie gute Entscheidungen treffen. Foto: Lukas Ruetz

Das folgt direkt aus unserem Gedankenexperiment und somit ist klar: Gruppenentscheidungen sind bei Inkompetenz der Gruppenmitglieder ein zusätzlicher Risikofaktor. Zweitens, damit eine kollektive Intelligenz entstehen kann, müssen bei einem Gruppenentscheid unabhängige Meinungen der einzelnen Gruppenmitglieder verwendet werden. Dies ist ein sehr wesentlicher Faktor, um eine bessere Gruppenentscheidung zu erhalten. Wir wissen aber auch, dass eine Beratung – der dritte wichtige Faktor für gute Entscheidungen – über die Entscheidungsfaktoren in der Gruppe wichtig sein kann.

Nun stellt sich umgehend die Frage, ob diese Beratung in der Gruppe nicht die Unabhängigkeit der einzelnen Meinungen untergräbt, und dazu gibt es in der Wissenschaft selbst noch viel Diskussion. Folgende Punkte sind aber klar:

  • Im Idealfall fällen Skitourengruppen ihre Entscheide auf einer gemeinsamen Grundlage von Erkenntnissen (wie eine Jury von Geschworenen). Wichtig ist dabei, dass die Beobachtungen richtig interpretiert werden. Wenn dies nicht der Fall ist, kann Inkompetenz entstehen. Denken wir an den Fall, etwas beobachtet zu haben, was die Gefahr angeblich reduziert, aber in Wirklichkeit hat die Beobachtung gar keinen Einfluss auf die Lawinengefahr oder erhöht sie sogar.
  • Der Begriff der Beratung, den wir hier verwenden, soll allerdings mehr umfassen als nur den offenen Austausch von Indizien. Wenn ein Tourenfahrer seine Wahrnehmung von einem Wummgeräusch oder von einem anderen Alarmzeichen mit der Gruppe teilt, stellt dies alleine noch keine Beratung dar. Unter einer Beratung verstehen wir vielmehr den Prozess, dass die Gruppe die ausgetauschten „Facts“ offen diskutiert und gegeneinander abwägt. Was ist die Relevanz, was sind die Stärken und die Schwächen der vorgebrachten Facts? Im günstigen Fall kann diese Beratung dazu beitragen, Fehler in der Evaluierung zu reduzieren, und kann damit dem Prozess der Gruppenentscheidung gewissermaßen zusätzliche Kraft verleihen.
  • Bei einer Beratung ist die Gefahr von einer Informationskaskade zu beachten: Einzelentscheide werden nacheinander und offen getroffen. Das birgt normalerweise aber die Gefahr, dass spätere Entscheide von früheren Entscheiden zu stark beeinflusst werden, so dass spätere Entscheide den früheren Entscheiden folgen, nur damit die einzelnen Personen ihr Ansehen bewahren (es entsteht eine Art „Herdeninstinkt“). Dass wir geneigt sind, irrationale Entscheide zu fällen, hat schon sehr eindrücklich das Asch Experiment (1951) gezeigt . Um dies zu vermeiden, ist es sinnvoll, nicht sequenziell, sondern gleichzeitig Entscheide zu treffen.

Die fünf Stufen zur Gruppenentscheidung

Das folgende Vorgehen zeigt, wie in fünf Stufen in der Gruppe eine Entscheidung getroffen werden kann, die die wichtigsten Voraussetzungen zu einem „Wisdom of Crowds“-Effekt enthält (siehe auch Zweifel 2014, Checkliste zur Gruppenbildung).

wie in fünf Stufen in der Gruppe eine Entscheidung getroffen werden kann

Meinungsverschiedenheiten

Es sollte allen Gruppenmitgliedern klar sein, dass es für unter- schiedliche Entscheidungen oft verschiedene Gründe geben kann. So mag es sein, dass zwei Personen die gleiche Risikoeinschätzung bezüglich eines Hanges haben (der Tatsachenbefund ist der gleiche), aber wegen verschiedener Risikoakzeptanz kann es sein, dass einer den Hang als „sicher (genug)“ einschätzt, der andere aber nicht. D. h., es ist immer wichtig zu verstehen, ob die Meinungsverschiedenheit durch individuelle Variationen der Werteinstellungen (wie Risikoakzeptanz) begründet ist oder in der Evaluierung der Eigenschaften des Hanges. Es ist daher auch wichtig zu verstehen, wie Gruppen im Bergsport entstehen und wie die Verschiedenheit der Gruppenmitglieder sich positiv oder negativ auf die Gruppenentscheidung auswirken kann (Zweifel & Haegeli 2014).

Gruppenerfahrung, Vetorecht und Gruppenverantwortung

Die vorgeschlagene strukturierte Gruppenentscheidungsmethode ist natürlich nicht bei allen Gruppen anwendbar, sondern bezieht sich in erster Linie auf erfahrene Bergsportler*innen, die ausreichend Lawinenkenntnisse besitzen. Für Ausbildungszwecke kann unsere Methode auch gut in Kursen benutzt werden, um die Verschiedenheit der Meinungen einfach darzulegen und gegen den sogenannten „Expert Bias“ vorzugehen. Zu guter Letzt sollten wir uns noch eines überlegen: Angenommen, von fünf Skitourenfahrenden entscheiden vier, dass sie einen bestimmten Hang befahren würden, und eine Person ist dagegen, diesen Hang zu befahren.

Entscheidungsstrategie bei Gruppen
3, 2, 1: Daumen hoch oder Daumen runter Wie können wir im Gelände unabhängig und rasch, aber nicht nacheinander abstimmen? Wir schlagen vor, dass jede Person ihren Entscheid im Kopf fällt. Dann zählt jemand bis drei und bei drei zeigen alle ihren Daumen (hoch gleich ja, runter gleich nein). Etwas schwieriger ist es bei Entscheidungen mit mehreren Varianten. Dort kann jede Person ihr Smartphone benutzen und für jede Variante eine Zahl (z. B. wie vorgeschlagen von 1 bis 5, wobei 5 = höchstes Risiko, 1 = niedrigstes Risiko) eingeben (in der Notiz-App oder im Taschenrechner) und dann können alle Resultate gezeigt und ausgewertet werden. Foto: Archiv Zweifel

Ob dann ein Mehrheitsentscheid gerechtfertigt ist oder ob die Person, die den Hang nicht befahren würde, das Vetorecht hat, ist durchaus zu überlegen und hängt wohl auch vom Kontext der Entscheidung ab. Wenn es nur um Sicherheit geht, kann es gut sein, dass ein „Bias“ zu mehr Sicherheit mit einem Vetorecht durchaus berechtigt ist. Aber der Gruppenentscheid per Wahl kann auch in anderen Kontexten benutzt werden, z. B. wenn es darum geht, welche von zwei Abfahrten den besseren Schnee hat (angenommen, es sind beide als sicher angesehen).

In diesem Fall ist vielleicht kein Vetorecht gerechtfertigt. Daran erkennt man einen weiteren Vorteil der strukturierten Gruppenentscheidungsmethode: Jedes Gruppenmitglied hat die Chance, zur Gruppenentscheidung in demokratischer Weise etwas beizutragen. Dies kann unter den richtigen Bedingungen (wenn Kompetenz besteht) zur Sicherheit beitragen, aber es kann auch helfen, eine echte Gruppenidentität entstehen zu lassen, in der jede Person „zählt“ und letztlich Mitverantwortung trägt.

Erschienen in der
Ausgabe #121 (Winter 22-23)

bergundsteigen #121 cover