Wechtenbruch: Glück hoch 2 am Schrötterhorn
Die Vorgeschichte ist rasch erzählt: Extrem schlechte Verhältnisse rund um den Mont Blanc gaben den Ausschlag, die Karwoche 2023 in der südlichen Ortlergruppe zu verbringen. Wir waren sechs – Familie, Freunde, privat und kennen uns gut von gemeinsamen Touren. Start in Sulden, mit der Bergbahn zur Schaubachhütte, Aufstieg zur Suldenspitze. Das Ziel an diesem ersten Tag war das Rifugio Pizzini.
Kurz vor der Suldenspitze, auf der Janinger Scharte (3323 m), machte ich den Vorschlag, noch zu Fuß einen Ausflug aufs Schrötterhorn (3386 m) zu machen. Eine unschwierige Gratwanderung, 60 Höhenmeter, knapp 400 Meter horizontal. Das Wetter war gut, kein Zeitdruck und eine gute Gelegenheit, uns an die Steigeisen zu gewöhnen. Da war eine Spur! Die frische Skispur eines Einzelnen, die sich über den Grat zog (nur ein Teil des Gratverlaufs ist von dem Joch einsehbar).
Also – Skidepot, Steigeisen an und los ging’s. Ich ging als Letzter – auch um Tipps zur Steigeisentechnik zu geben (Motto: Steigeisen sind auch Stolperfallen). Eine erste Grathöhe war erreicht, dann ging’s leicht abfallend weiter, ein Vorgipfel war markant, links dahinter der Hauptgipfel. Ich war noch immer an letzter Position, machte Fotos.
Der immer wieder nach vorne über den Gratverlauf schweifende Blick ließ mich keine Gefahr erkennen. Am Vorgipfel, von dem wir das erste Mal das letzte Gratstück einsehen konnten, warteten alle zusammen. Als ich aufschließe, ist es mucksmäuschenstill. Wir sahen nun den Einzelgänger oben am Gipfel. Und wir sahen die gebrochene Wechte, die Kante zum Abgrund messerscharf, wie von einem Riesen abgeschnitten. Das allein wäre schon eindrucksvoll gewesen, aber sicher noch kein Grund, dankbar an Schutzheilige zu denken.
Doch da war diese Skispur, die unten an der Abbruchkante endete und sich erst oben – ca. 15 Meter entfernt – wieder fortsetzte. Dazwischen gähnender Abgrund. Erleichterung und Staunen, dass ein Mensch so viel Glück haben kann. „Der feiert gerade seinen zweiten Geburtstag“ – hat das jemand gesagt oder ging mir das nur durch den Kopf?
Nicht nur die Interpretation des Spurverlaufs machte klar, dass hier jemand unglaubliches Glück gehabt hatte, wir sahen den Einzelgänger auch am Gipfel stehen. Zu einem Zusammentreffen – wir stiegen dann noch in einem weiten Linksbogen zum Gipfel auf – sollte es nicht kommen, da er den Grat noch ein Stück weiterverfolgte, um dann nordseitig nach Sulden abzufahren.
Das war’s. Vorerst. Für mich heute erstaunlich ist, wie lange es gedauert hat, bis mir dieser Beinaheunfall in seiner ganzen Bedeutung bewusst geworden ist: Hätten wir die Gefahr erkannt? Was, wenn der Einzelgänger die Wechte nicht ausgelöst hätte? Wären wir der Spur weiterhin gefolgt? Vielleicht sogar dicht aufgeschlossen? Nicht viel Fantasie ist notwendig, um sich den Worstcase vorzustellen: Wir sechs stapfen sorglos und gut gelaunt der Spur entlang, nicht ahnend, dass es unsere letzten Meter sein werden (mit dabei sind auch mein Sohn und mein Bruder).
Feber 2024
„Glaubt ihr, dass – wenn die Wechte durch den Einzelgänger gerade noch nicht gebrochen wäre – glaubt ihr, dass wir die Gefahr erkannt und einen ausreichend großen Abstand gehalten hätten oder wären wir der Spur gefolgt? Diese Frage stelle ich uns allen acht Monate später.
Elisabeth (32): Vermutlich wären wir der Spur nachgegangen. Allerdings, wenn ich mir jetzt das Foto noch einmal anschaue und mir überlege jetzt auf der Kuppe zu stehen, würde ich zu meinen Tourenpartnern sagen, dass die Spur gefühlt zu weit am Grat führt und dass es mir recht wäre weiter links davon eine neue Spur anzulegen. Da wir aber Abstand zueinander hielten ist fraglich, ob Josef überhaupt auf der Kuppe gewartet hätte und es zu einer Absprache gekommen wäre. Aber ja, im Nachhinein ist man immer klüger.
Josef (35): Ich hätte die Gefahr nicht erkannt. Ich bin der Spur bis zu diesem Moment gefolgt und habe diese zuvor schon als konservativ und sicher (auch gegen Wechten) eingeschätzt. Hätte ich selbst gespurt, wäre ich kaum anders gegangen, auch im Bereich der dann gebrochenen Wechte nicht. Danke für deine Fragen, sehr anregend, sich zu hinterfragen.
Martin (55): Ich bin mir eigentlich zu 100 Prozent sicher, dass ich ohne diese Erfahrung der Skispur gefolgt wäre. Vielleicht wäre ich doch etwas weiter links gespurt, wenn ich die erste Spur gezogen hätte? Trotz dieser Erfahrung kann ich mir nicht sicher sein, mich so einer Gefahr zu entziehen. Fällt wohl auch in die Kategorie Schicksal oder so?
David (32): Ich war an diesem Tag durch Corona angeschlagen und deshalb nicht sehr aufmerksam. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Gefahr gesehen hätte. Vielleicht hätte ich – wenn noch keine andere Spur vorhanden gewesen wäre – die Spur etwas tiefer angelegt, aber dass ich sie so tief angelegt hätte, wie es tatsächlich nötig gewesen wäre und wie wir es dann auch gemacht haben, glaube ich, ehrlich gesagt, nicht. Als Vierter der Gruppe hätte ich wahrscheinlich nichts bemerkt, sondern wäre den anderen der Spur entlang gefolgt. Ich denke, dass ich in Zukunft in ähnlichen Situationen vorsichtiger sein werde, wie z. B. heuer auf der Marchreisenscharte – dort dürfte auch eine größere Wechte in Richtung Schlick gewesen sein. Ich bin dort bewusst sehr weit vom Rand weggeblieben.
Fabian (34): Erst zurück am Skidepot oder sogar erst über die nächsten Tage und Wochen wurde mir bewusst, dass wir genau gleich viele Schutzengel hatten wie dieser Mann. Denn ich bin mir sehr sicher, dass wir dieser Spur bis zum Gipfel gefolgt wären. Es war meiner Meinung nicht einzusehen, dass diese Wechte so weit hinausragte. Die Spur des Mannes war nicht fahrlässig, extranah am Abgrund, sondern geschätzt ca. drei Meter weiter hineingesetzt.
Michael (ich, 64): Die Frage, ob ich die Gefahr erkannt hätte, provoziert meinen Bergführerstolz: Selbstverständlich (!) hätte ich rechtzeitig – spätestens am Vorgipfel – erkannt, dass uns an dieser einen Stelle, auf wenigen Metern, der Grat mit einer hinterfotzigen Falle herausfordern will. Breit hätte ich allen erklärt, was zu tun ist: Ganz weit links bleiben, zumal Wechten überraschend weit innen brechen – wesentlich weiter, als es Hausverstand und Bauchgefühl erwarten lassen.
Auch für ein wenig Alpingeschichte hätte ich den Anlass genützt: Damals, 1957, Hermann Buhl an der Chogolisa und in den 1930er-Jahren war es Willo Welzenbach, vulgo „Eispapst“, der in seiner Dissertation Statik und Bruchverhalten von Wechten erforschte. Gefahr erkannt, Gefahr gebannt – so einfach ist das, wenn man Bergführer ist, staatlich geprüft.
Ganz ehrlich: Ich tendiere eher zu einem „Nein“: Gefahr nicht erkannt, der Spur nachgelatscht! Recht genau zu wissen glaube ich, was ich in diesen Stunden nicht optimal, sondern falsch gemacht habe:
Ich ging ganz am Ende, fotografierte und ließ zu, dass unsere Gruppe auf eine Länge von 40, 50 Meter auseinandergezogen wurde. So hatte ich immer erst verspätet Einsicht in sich neu eröffnende Gratabschnitte. Dass die Gruppe am Vorgipfel zusammenwartet, war nicht ausgemacht!
Auf die alpine Gefahr „Wechte“ gab es von mir keinen Hinweis an die Gruppe. Ein Ansprechen am Skidepot hätte bei allen die innere Einstellung aktiviert, die Augen offen zu halten.
Die vorhandene Skispur und der optische Eindruck des ersten Gratstückes brachten mich vorschnell zu dem Urteil „einfach und sicher“. Dieses Urteil übertrug ich blitzschnell auf den gesamten Grat bis zum Gipfel, obwohl große Teile gar nicht einsehbar waren.
Es war windstill, gemütlich, blauer Himmel, gute Stimmung, kein Zeitdruck – das alles schläferte mein Gefahrenbewusstsein ein. So kann ich mich nicht erinnern, dass mir der Gedanke „Wechte“ gekommen wäre. Ich glaube, das Wort „Wechte“ als Gedanke blitzte nie in meinem Kopf auf.
Es war der erste Tourentag nach einer Bürowoche. War ich noch nicht richtig in der Natur angekommen, noch nicht ganz bei der Sache?
Kein Fehler, aber ganz offensichtlich falsch war meine bisherige Annahme, dass Wechten genau dann brechen, wenn sie belastet werden. Nicht zeitverzögert oder fernausgelöst – wie z. B. ein Schneebrett bei einem Altschneeproblem. Wurde der Einzelgänger durch das Ausziehen der Skier und die größere Einsinktiefe zur „großen Zusatzbelastung“?
Noch eine Erfahrung erstaunt mich: die Wirkung der Verschriftlichung, jetzt da ich diesen Beitrag für bergundsteigen schreibe. Wie viele Details mir erst jetzt bewusst werden, wie sehr das Schreiben das Erlebte vertieft und verarbeitbar macht. Könnten das zwei gute Tipps sein, um Lernen zu fördern: niederschreiben und reden mit allen, die dabei waren, offen und ohne Angst, Fehler zu entdecken und zu benennen.
Conclusio
O heiliger Bernhard von Menthon, bitte für uns. Bewahre uns vor Hochmut und Überheblichkeit. Lass uns immer in Respekt und Demut über Bergsportunfälle sprechen, niemals als Richter oder Klugscheißer. Möge unsere Neugier auf Unfallhergang und Unfallursachen allein dem Ziel dienen, etwas zu lernen und mich selbst und andere vor Schaden zu bewahren. Dank an alle Beteiligten für ihre Offenheit und Bereitschaft, unser Erlebnis selbstkritisch zu reflektieren!
Wie hat Christian (57) die Situation erlebt?
Christian ist jener Einzelgänger, der mit den Skiern unterwegs war. Über mehrere Ecken konnten wir seinen Namen ausforschen und mit ihm in Kontakt treten. Christian ist ein Alpinist aus Sulden, der seine Berge kennt, wie seine Westentasche:
„Skitouren mache ich seit mehr als 40 Jahren. Hab hier in Sulden eigentlich alles gemacht – 268 Mal den Ortler über alle Routen, Königspitze von allen Seiten usw. Oft auch schwierigere Skitouren, wie Königspitz-Ostrinne, Ortler-Minigerode, Ortler-Schückrinne. Habe bereits zweimal die Zebru-Nordwand mit Skiern befahren und im Mai bin ich viel unterwegs Richtung Montblanc und Monte Rosa.“
Wie hast du den Wechtenbruch erlebt?
Mir ist eigentlich erst richtig klar geworden, wie viel Glück ich hatte, als ich deinen Vortrag gesehen habe. Ich habe diese Strecke sicherlich schon 50-mal gemacht, meistens fahre ich früher rechts weg und mache die Abfahrt durch diese Nordflanke, wo immer super Verhältnisse herrschen. Ich selber weiß natürlich sehr gut über die Wechte Bescheid, weil ich ja immer drunter durchfahre, deshalb bleibe ich ja auch immer sehr links davon.
An diesem Tag wollte ich definitiv über das Schrötterhorn drüber und über den Nordgrat abfahren. Bin ganz normal links von der Wechte durchgegangen und musste dann die Skier ausziehen, weil es zu Fuß besser ging. Als ich knapp unter dem Gipfel war, hörte ich einen Ruck und sah, dass die Wechte ca. 20 m hinter mir in die Tiefe gebrochen ist.
Der Bruch passierte in dem Moment, als du die Skier ausgezogen hast und das erste Mal mit den Skischuhen in den Schnee reingetreten bist?
Ich glaube tatsächlich, dass die Wechte in dem Moment abgebrochen ist, als ich die Skier ausgezogen habe, oder ganz kurz danach, als ich zu Fuß weiter gegangen bin.
Und dann?
Ich muss ehrlich sagen, dass ich mich eigentlich gar nicht erschreckt habe. Meine größte Sorge war, dass hoffentlich keiner in der Nordflanke mit Skiern unterwegs war. Der hätte definitiv keine Chance gehabt. Am Gipfel machte ich dann noch einige Fotos, kletterte hinten den Grat wieder ab und fuhr wieder abwärts.
War das „Risiko Wechtenbruch“ an diesem Tag in deinem Kopf präsent?
Das Risiko Wechtenbruch war natürlich präsent, deshalb bin ich ja ziemlich links gegangen, ich denke sicher ca. fünf Meter links von der Kante. Aber anscheinend doch zwei Meter zu wenig.
Deine Spur war die erste am Grat, alte Spuren waren nicht sichtbar?
Meine Spur war die erste. Ich bin eigentlich immer der, der diese Wand als Erster und am öftesten fährt.
Warst du mit Wechtenbruch schon einmal konfrontiert?
… Nein, direkt nie, mit Lawinen auch nicht direkt, oft aber durch meine Arbeit bei der Bergrettung.