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Gehen am kurzen Seil I bergundsteigen.blog|Gehen am kurzen Seil
01. Mrz 2017 - 5 min Lesezeit

Wann lohnt sich das kurze Seil (nicht)?

In bergundsteigen #96 haben Kurt Winkler und Bruno Hasler verschiedene Sicherungsmethoden für Hochtouren vorgestellt, darunter auch das Gehen am kurzen Seil: Eine Sicherung für einfaches, aber trotzdem absturzgefährdetes Gelände, bei der wir das Seil straff und ganz kurz (ca. 1 m) halten und auf Fixpunkte verzichten. In diesem Beitrag zeigen sie anhand von theoretischen Überlegungen und Berechnungen, in welchen Fällen das kurze Seil sinnvoll ist – und wann wir trotz exponiertem Gelände besser seilfrei gehen.
Das Täschhorn ist 4.491 m hoch und anspruchsvoll.
An diesem verwechteten Gratabschnitt kann nicht auf der Gratkante gegangen werden und Fixpunkte sind kaum an- zubringen. Foto: Moritz Kieferle

Intro

Wie hoch ist das Risiko eines Anfängers oder eines Experten und wie oft kann der Seilpartner einen Absturz verhindern? Wir haben uns bemüht, für unsere Berechnungen möglichst plausible Werte zu  verwenden, aber letztendlich sind alles Annahmen. Nehmen wir andere Werte an, kommen bei den Berechnungen auch andere Risikowerte heraus.

Interessant ist daher nur der Vergleich zwischen den Risikowerten: welches Risiko ist höher, welches tiefer? Im Unterschied zu den absoluten Werten ist die Reihenfolge der Risiken nämlich recht zuverlässig. Sie bleibt auch bei deutlich veränderten Annahmen stets dieselbe.

Viele weitere Einflüsse bleiben unberücksichtigt. So besteht z.B. seilfrei manchmal noch die Chance, einen Rutscher in einer Firnflanke mit der Pickelbremse zu stoppen, während angeseilt das Seil beim Absturz irgendwo um einen Felszacken verhängen und so den Absturz doch noch stoppen kann.

Mit den getroffenen Annahmen haben wir das kumulierte Todesrisiko einer Person auf insgesamt 48 Touren berechnet, also für jeden Schweizer Viertausender eine Tour. Weil wir nur an Quervergleichen interessiert sind, setzen wir den Risikowert für seilfreie Begehungen eines „normalen“ Alpinisten auf „1“ (die Berechnung ergibt mit unseren Annahmen 2,4 %).

Zwei „normale“ Bergsteiger

Wir berechnen das Risiko bei der Anwendung verschiedener Sicherungstechniken für einen „normalen“ Bergsteiger, der mit einem gleich starken Partner unterwegs ist. Dabei nehmen wir an, dass pro 2.000 Touren der eine Bergsteiger abstürzt und pro 2.000 Touren der andere.

Verzichten die beiden Bergsteiger auf jegliche Fixpunktsicherung, haben sie die in Abb. 1 angeführten Möglichkeiten.

Tab. 1 Möglichkeiten und Risiko von zwei „normalen“ Bergsteigern, die auf eine Fixpunktsicherung komplett verzichten.

Auf vielen Hochtouren, aber auch auf Abstiegen von klassischen Klettereien wechseln sich leichtere und schwierigere Stellen ab. Dann ist es sinnvoll, an den schwierigen Stellen an Fixpunkten zu sichern. Wir nehmen mal an, dass die beiden Bergsteiger damit die Hälfte der Abstürze verhindern. Alles zu sichern dauert meist zu lange. Deshalb wählen die beiden Bergsteiger zwischen den schwierigen Stellen dieselben Strategien wie im Beispiel davor – dargestellt in Abb. 2.

Tab. 2 Möglichkeiten und Risiko von zwei „normalen“ Bergsteigern, die sich bei schweren Passagen an Fixpunkten sichern. Damit könnte die Hälfte der Abstürze (0.5 statt 1, vgl. Tab. 1) verhindert werden.
Foto: Bruno Hasler

Unterschiedliches Können

Egal ob ein routinierter Alpinist mit seiner neuen Partnerin oder eine Bergführerin mit ihrem Gast, wir betrachten in Abb. 3 die Risiken zweier Bergsteiger mit stark unterschiedlichem Können.

Tab. 3 Möglichkeiten und Risiko von zwei bzw. drei Bergsteigern mit stark unterschiedlichem Können.

Viel unterwegs

Das Risiko kumuliert sich. Wir betrachten in Abb. 4 das gesamte Risiko für einen Bergführer, der während 20 Jahren in jeder Saison 15 Hochtouren mit wenig trittsicheren Kunden führt, insgesamt also 300 solcher Touren. Alle anderen Annahmen sind gleich wie oben („Experte“, unterwegs mit „Anfänger“, Abb. 3).

Tab. 4 Risiko für einen Bergführer/Experten, der 20 Jahre lang 15 Hochtouren pro Saison mit einem Kunden/Anfänger macht.
Foto: Bruno Hasler

Empfehlung

Auf vielen Hochtouren gibt es Abschnitte, wo das Gehen am kurzen Seil die adäquate Sicherungstechnik ist. Bedingung ist aber, dass das Sturzrisiko relativ klein ist und der Seilführer in einem ansehnlichen Teil der Fälle den Nachsteiger halten kann.

Wird das kurze Seil in zu schwierigem Gelände verwendet oder nicht korrekt ausgeführt (Seil zu lang, nicht straff usw.), führt jeder Sturz eines Einzelnen zum Seilschaftsabsturz. Dies bedeutet das maximale Risiko für alle Beteiligten und muss unter allen Umständen verhindert werden. Daher gilt:

  • Kurzes Seil nur einsetzen, wenn wir es vorgängig erlernt und in harmlosem Gelände gründlich geübt haben. Kurse sind leider Mangelware, in der Schweiz wird man aber fündig. Ohne diese Kenntnisse sollten wir selbständig keine Touren unternehmen, die Gehen am kurzen Seil erfordern.
  • Auch wer das Gehen am kurzen Seil beherrscht, sollte an schwierigen Stellen konsequent auf Fixpunktsicherung wechseln. Selbst wenn es sich nur um einen Schritt handelt.

Bei gleich starken Bergsteigern ist das kurze Seil dann sinnvoll, wenn an den schwierigen Stellen auf Fixpunktsicherung gewechselt wird. Das ist ausser in reinen Firnflanken auf den meisten Touren möglich, oft stecken an neuralgischen Punkten sogar Bohrhaken oder Sicherungsstangen.

Theoretisch noch besser wäre es, wenn sich gleich starke Bergsteiger zwischen den schwierigen Stellen losseilen. Praktisch gestaltet sich dies aber oft schwierig, denn nach dem Losseilen steigt die Gefahr, dass sie an der nächsten schwierigen Stelle in Wirklichkeit dann doch nicht wieder anseilen, oder sie realisieren zu spät, dass die Stelle schwieriger ist als erwartet. Ist der Vorsteiger bereits in der schwierigen Stelle, ist es zu spät, um noch anzuseilen. Also „Augen zu und durch“!

Bei unterschiedlichem Können trägt der Schwächste seilfrei oft ein enormes Risiko. Dieses wird mit dem kurzen Seil massiv reduziert. Die damit erreichte Reduktion des Gesamtrisikos geht allerdings auf Kosten des besseren Bergsteigers, sein Risiko steigt an.

Beim kurzen Seil sind Zweierseilschaften ideal. Mit grösseren Seilschaften steigt das Risiko massiv an. Es ist für den Seilführer sicherer, eine Tour zweimal zu machen mit je einem Nachsteiger als einmal mit zwei Nachsteigern

Literatur

Erschienen in der
Ausgabe #98