Verhauer: Staublawine bei Lawinenwarnstufe 1
Richard und ich steigen mit Skiern Richtung Ammergauer Kreuzspitze: Die Devil ́s Line wird seit Wochen (Februar 2018) eifrig eingepickelt und hat beste Verhältnisse, auch wenn die erste Länge leider unterm Schnee verschwindet. Die Web-Kommentare gehen von „Fetzen Gaudi“, über „gar kein schwerer Fels“ bis hin zu „allerbestes Eis“. Für meinen Geschmack wie üblich alles viel zu sehr verharmlost. Für uns heute Lawinenwarnstufe 1, es gab laut Meteoblue im Gebiet über Nacht nur zwei cm Neuschnee. Wir starten um 6:30 Uhr mit Stirnlampen, wir wollen die Ersten sein, denn das einzige Risiko wäre Eisschlag durch vorausgehende Seilschaften, so denken wir. Vor Ort sind ́s dann doch drei bis vier Zentimeter Neuschnee, aber das sollte kein Problem sein, schließlich erfolgte die Erstbegehung damals ja bei viel Neuschnee und im Schneesturm.
Spindrift gehört mit zum Geschäft.
In der ersten Säule, Meter über der ersten Schraube eine heftige Spindrift – weißer kalter Wind, null Sicht. Augen zu, beide Geräte gut nachschlagen, herblockieren, vorspannen, warten, während die feuchte Kälte in die Klamotten zieht. Wie so oft, das gehört mit zu dem Geschäft.
Von der Spindrift zur Staublawine – die Erste.
Später stehe ich im Mittelteil, im langen leichten 40-50-Grad-Schneegully, lässig weit am Bohrhakenstand verankert: Richard ist fast zu mir aufgeschlossen, da ruft er: „Achtung!“ Blick nach oben, nur noch weiß, ich spüre kalten Sturm und schon folgen Schläge vom Schnee auf Kopf und Schulter, es wird schwarz, der Druck auf die Brust, kurzer Kampf dagegen, schon hebelt ́s mich aus dem Stand und wirft mich auf den Rücken, ein Ruck, die Sicherung. Gedanke an Richard und schon blockiert der Tuber das Nachsteigerseil (wie praktisch) mit festem Ruck über meinen Oberschenkel. So hängen wir in der Sicherung als der Spuk nachlässt, liegen im Gully, er auf dem Bauch und ich am Rücken.
Staublawine – die Zweite.
Fünf Minuten später bin ich grad mal zwei Meter vom Stand weg vorgestiegen, da folgt der gleiche Spuk nochmal: Beide ausgehebelt und in die Sicherung. Ich vier Meter unterm Stand wieder am Rücken, Richard wieder auf dem Bauch – offensichtlich vom Sicherungsruck hart mit Kopf und Gesicht in den Schnee getaucht. Nach einer ewigen reglosen Sekunde rührt er sich auch wieder. Wir warten ab, diskutieren die Optionen, gehen später zügig weiter, die 90-Meter-Synchronseillänge wird behutsam mit drei Schrauben und Tibloc abgesichert. Später, am Stand oberhalb der letzten Säule sehe ich die zwei Jungs, die hinter uns eingestiegen waren, synchron angeseilt, aber ohne Zwischensicherung durch die leichte Schnee-Gullypassage hochpickeln – die wissen offensichtlich nicht, wie hautnah sie am Rande eines Seilschaftssturzes wandeln …
Reflexion
Eine frische Neuschneeschicht kann sich bereits ab zwei Zentimeter Dicke im Steilgelände spontan entladen. In Gullys mit oben weitem Einzugsbereich akkumuliert sich eine solche an sich harmlose Spindrift manchmal zur gefährlichen Staublawine: Die Schneekristalle fallen nicht mehr einzeln langsam, sondern als Kollektiv mit Fallgeschwindigkeiten wie ein Festkörper, also bis zu 200 km/h. Der Winddruck und das enthaltene Pulverschneematerial entwickeln eine hohe Wucht, sodass ein Eiskletterer ausgehebelt werden kann.
Unser Fazit
Im Fall selbst kleiner Neuschneemengen auch bei Lawinenwarnstufe 1 nicht in Couloir-Routen einsteigen, sondern mindestens einen, besser mehrere Tage abwarten, bis die Wand entladen ist oder in offene Wandrouten gehen.