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Zillertaler Alpen. Foto: Simon Schöpf
09. Aug 2023 - 5 min Lesezeit

Verhauer: 4 Weitwanderer in Zillertaler Alpen gerettet

Beim Bergsteigen passieren ständig Fehler, die (beinahe) zu Unfällen führen. Niemand spricht gerne darüber. Wir schon! Die Redaktion über schlechte Ausrüstung, Gruppenphänomene und Tourenplanung.

Im Zuge einer geplanten Weitwanderung von Deutschland nach Venedig wollten vergangenes Wochenende vier Personen über die Alpeiner Scharte in den Zillertaler Alpen. Gegen Mittag erreichte die Gruppe die Alpeiner Scharte auf 2959 Metern Höhe, wo sie von kalten, windigen Witterungsverhältnissen, Graupelschauer sowie zehn Zentimeter Neuschnee überrascht wurden. Alle vier Personen waren schlecht ausgerüstet, hatten weder Mützen, Handschuhe noch warme oder wetterfeste Kleidung dabei. Zudem bekam eine Person leichte Kreislaufprobleme.

Nachdem sie sich nicht mehr in der Lage sahen, den Weg selbstständig fortzuführen, setzten sie einen Notruf ab. Die Bergrettung St. Jodok begab sich zu Fuß mit fünf Bergrettern zur Alpeiner Scharte, wo sie die unterkühlte Gruppe erstversorgten. Anschließend brachten sie die Wanderer zur Geraer Hütte.

Überblick: Alpeiner Scharte, Zillertaler Alpen

Verortung der Tour. Screenshot: alpenvereinaktiv.com
Verortung der Tour. Screenshot: alpenvereinaktiv.com

In den Alpen kommt es immer wieder – ob jung oder alt, erfahren oder unerfahren – zu Rettungseinsätzen aufgrund schlechter Ausrüstung bei widrigen Witterungsbedingungen. Im Folgenden möchten wir keinen Zeigefinger erheben, sondern uns konstruktiv anschauen, warum wir manchmal falsche Entscheidungen treffen, was uns trotz ausreichender Informationen daran hindert umzudrehen und wie wir uns besser vorbereiten können. 

4 Fakten zu (Fehl-)Entscheidungen am Berg

1. Warum wir Geld hinterherwerfen

Die Nullgradgrenze sinkt auf unter 2500 Metern Höhe, Schneefall ist angesagt und im Rucksack weder ausreichend Isolationsbekleidung noch Mütze und Handschuhe – und trotzdem steigen wir weiter auf. Eine (von vielen) möglichen Erklärungen beschreibt aus psychologischer Sicht die „Sunk Cost Fallacy“, auch „Sunk-Cost Effect“ genannt – auf Deutsch „Versunkene-Kosten-Falle“.

Die Theorie beschreibt eine irrationale Beharrlichkeit – also die Tendenz von Menschen, ein Vorhaben fortzuführen, weil bereits Geld, Anstrengung oder Zeit investiert wurde. Die bereits getätigten „Investitionen“ beeinflussen unsere Entscheidung und führen oftmals dazu, dass „gutes Geld schlechtem hinterhergeworfen“ wird. Dieses Verhalten lässt sich nicht nur in der Wirtschaft erkennen, sondern ebenso beim Bergsteigen: Die Planung einer Weitwanderung war mit Aufwand verbunden, die Hütten sind reserviert und die ersten Etappen geschafft. Diese Investition oder dieses „Commitment“ führt nun zu einem aus entscheidungstheoretischer Perspektive irrationalem Verhalten. In diesem Fall: Weitergehen trotz ausreichender Informationen zur Wetterlage.  

2. Gemeinsam sind wir dumm

Gruppen treffen oft risikoreichere Entscheidungen als Einzelpersonen. Ebenso wie uns ein blauer Himmel und Sonnenschein ein höheres, subjektives (!) Sicherheitsgefühl vermitteln als Wind und Schlechtwetter, so fühlen wir uns auch in Gruppen sicherer als alleine. Dieses Sicherheitsgefühl hat beim Bergsteigen oft, aber nicht immer seine Berechtigung. Wenn wir also den tatsächlichen Sicherheitsgewinn durch eine Gruppe überschätzen, sind wir auch eher bereit risikoreichere Entscheidungen zu treffen.

Ein trügerisches Sicherheitsgefühl kann unter anderem durch einen Mangel an negativen Konsequenzen entstehen. Da glücklicherweise nur ein geringer Teil von Fehlentscheidungen beim Bergsteigen tatsächlich fatale Folgen hat, kann dies zu einem unangemessenen Lernprozess führen: Wir lernen, dass sich sorgloses Verhalten beim Bergsteigen bewährt und handeln getreu dem Motto: „Bisher ging es immer gut, also wird es auch in Zukunft gut gehen.“ Dabei unterschätzen wir systematisch die Gefährlichkeit der Situation und überschätzen die Kompetenz unseres Handelns.

Zillertaler Alpen. Foto: David Schaubert
Zillertaler Alpen. Foto: David Schaubert

3. Die Unfähigkeit, Alternativen zu bedenken

Ein weiterer, gruppenspezifischer Punkt ist, dass Gruppen sich selbst und ihren Leiter unter erheblichen Erwartungs- und Entscheidungsdruck setzen können. Besonders anfällig sind Gruppen, die sehr starre Normen und Regeln haben. Dadurch werden die Handlungsoptionen einer Gruppe stark eingeengt.

Eine Gruppe mit der Norm „Wir müssen den Gipfel bezwingen“ steht im Gegensatz zu einer Gruppe mit der Norm „Wir können auf einen Gipfel steigen, müssen aber nicht“ unter mehr Erwartungsdruck, den Gipfel auch erreichen zu müssen. Die erste Gruppe schränkt nicht nur ihre Handlungsoptionen ein, sondern sie ist möglicherweise so auf diese eine Handlungsform fixiert, dass sie gar nicht mehr in der Lage ist, ihrer Entscheidung widersprechende Informationen wahrzunehmen und entsprechende Alternativen zu bedenken.

4. Je größer die Gruppe, desto wahrscheinlicher die Handlungsunfähigkeit

Je größer Gruppen sind, desto mehr verringert sich die subjektiv wahrgenommene Verantwortlichkeit des Einzelnen. Dieses Prinzip wird in der Psychologie „Verantwortungsdiffusion“ genannt und beschreibt die Tendenz, die allgemeine Verantwortung auf alle anwesenden Personen aufzuteilen. Besonders gefährlich ist es, wenn „Experten“ gemeinsam unterwegs sind: Jeder schiebt die Verantwortung auf die andere Person.

Ebenso gefährlich ist die „Verantwortungsfalle“: Wenn es einen oder mehrere formale bzw. offizielle Leiter in einer Gruppe gibt, kann Unklarheit darüber entstehen, wer eigentlich die Verantwortung für Entscheidungen hat. Die klassische Verantwortungsfalle besteht darin, dass der Leiter trotz seiner Bedenken weitergeht, weil die Gruppe ohne Einwände hinter ihm hergeht.

Mehr zum Thema Entscheidungsfindung in Gruppen im bergundsteigen Archiv-Artikel „Warum wir uns selbst zum Risiko werden

Tourenplanung und Risiko: Hilfreiche Websites & Apps

Das Bergwetter auf alpenverein.de genauso wie auf alpenverein.at informiert täglich über das Wetter in den gesamten Alpen (Aktualisierungen erfolgen i.d.R. am Nachmittag). Die Nullgradgrenze, die Temperatur, das Gewitterrisiko genauso wie Wind und andere Informationen sind im Fließtext genauso wie in den Icons unter der Wetterkarte zu finden. 

Temperatur, Nullgradgrenze, Wind und Gewitterneigung im Wetterbericht des Deutschen Alpenvereins.
Temperatur, Nullgradgrenze, Wind und Gewitterneigung im DAV-Wetterbericht.

Auch die GeoSphere Austria informiert umfassend über das Bergwetter in Österreich. Der Autor und Bergsteiger Michael Pröttel verfasst zudem jedes Wochenende einen Bergbericht, der die Bedingungen im Gebirge zusammenfasst und hilfreiche Informationen für die Tourenplanung gibt. 

Die Nullgradgrenze lässt sich auf Plattformen wie windy.com auch sehr genau angeben: Über eine einzublendende Maske wird die Temperaturprognose auf einer beliebigen Seehöhe angegeben. Die Website generiert schließlich eine Karte der gesamten Region und den prognostizierten Temperaturen auf der jeweiligen Seehöhe genauso wie die Windgeschwindigkeiten, was wiederum für den Windchillfaktor ausschlaggebend ist. 

Wenn’s kritisch wird: Notfallapps

SOS-EU-ALP
Die kostenlose SOS-EU-Alp-App kann einen Notruf absetzen, der samt Standortdaten und Kontaktdaten an die jeweilige Rettungsleitstelle übermittelt wird. Einsatzgebiet: Triol, Südtirol & Bayern

REGA APP
Die Notfall App der eidgenössischen Rettungsflugwacht: Bei einem Notfall kann die App die Standortdaten direkt an die Rega weiterleiten. Diese Basisfunktion kann jeder nutzen und auch die Funktion, den eigenen Standort im Hintergrund mit der Rega zu teilen. In regelmäßigen Abständen wird dann der eigene Standort mit der Rega geteilt. Einsatzgebiet: Schweiz

-> Zum ganzen Artikel: 5 Notfall-Apps im bergundsteigen-Test

Quellen: Presseaussendung Landespolizeidirektion Tirol; Lexikon der Psychologie, Lehrbuch der Psychologie (Sozialpsychologie)