Verhauer: Längsspaltensturz
Tobi:
12. Juni 2021, kurz nach Mittag. Mit Schneeschuhen am Gletscher zu stapfen, war eigentlich nicht das, was wir uns für unser Hochtouren-Update auf der Oberwalder Hütte vorgestellt hatten. Wir sind zu zwölft unterwegs: neun vom Team und unsere drei Mentoren Alex, Motz und Soki. Um der tageszeitlichen Erwärmung zu entgehen, sind wir an diesem Tag schon früh aufgebrochen, und nun befinden wir uns wieder auf dem Abstieg zur Oberwalder Hütte. Der schwierigste Teil der Tour (der NW-Grat des Romariswandkopfes) liegt bereits hinter uns – denken wir zumindest.
Die warmen Temperaturen, die schlechte Sicht und die allgemein ungünstigen Verhältnisse, die uns auch heute wieder gezwungen haben, auf Plan B auszuweichen, machen den Rückweg über den Gletscher zu einem mühsamen Unterfangen. In drei Seilschaften zu je vier Personen stapfen wir unsere Aufstiegsspuren retour, vor mir am Seil Felix und hinter mir Soki und Vicki. Die Stimmung ist ausgelassen, die Hütte nicht mehr allzu weit entfernt und wir freuen uns darauf, unsere Füße endlich von den Schneeschuhen befreien zu können, die uns schon den ganzen Tag auf die Nerven gehen.
Nur noch eine kurze, steilere Flanke, dann flacht der Gletscher ab – doch in dem weichen, patzigen Schnee geht es nur langsam voran und wir rutschen alle wie wild hin und her. Auch das ständige Ziehen am Seil macht die Sache nicht leichter, und schließlich entscheide ich mich dazu, mich vom Seil zu trennen. Ich laufe das steile, bereits verspurte Stück allein hinunter und bleibe im Flachen stehen, um auf die anderen zu warten … „Wir brauchen ein zweites Seil!“, höre ich nach kurzer Zeit jemanden rufen. Ich kann wegen dem durchziehenden Nebel nicht viel sehen, weiß aber sofort, dass etwas nicht stimmt.
Vicki:
Auch Felix und ich haben unsere Schneeschuhe satt, und wir beschließen, sie für die wenigen verbleibenden Höhenmeter auszuziehen und ohne sie den Hang in der Falllinie abzusteigen – den Spuren vorhergehender Seilschaften folgend. In einer Kombination aus Laufen und Rutschen führt Felix unsere Seilschaft an, gute 20 Meter dahinter und eineinhalb Meter rechts von ihm, am hinteren Ende des Seiles, folge ich.
Felix ist unten bereits zum Stillstand gekommen, da stolpere ich, lande im Schnee und will gerade wieder aufstehen, als plötzlich der Schnee unter meinen Händen wegbricht. Schlagartig wird mir klar, wo ich mich hier befinde. „Spalte!“, rufe ich noch – dann gibt der Schnee endgültig nach und für mich geht’s im freien Fall hinab. Mit einem Ruck komme ich zum Stillstand. Durchatmen, cool bleiben, Lage checken. Vor und hinter mir eine Eiswand, circa drei Meter über mir ein helles Loch in der Schneedecke, und unter mir geht es nochmal mindestens drei Meter hinab, dann verdecken die zusammenlaufenden Wände die Sicht.
Verletzungen scheine ich keine zu haben, wie ich erleichtert feststelle. „Alles okay!“, rufe ich nach oben, um den anderen Entwarnung zu geben. Gut, dass wir gestern nochmal so fleißig die Spaltenbergung geübt haben, schießt es mir durch den Kopf, während ich in Gedanken dem Seil bis zum anderen Ende folge – dort ist Felix sicher schon dabei, eine Verankerung aufzubauen. Ich warte noch ein paar Minuten, versuche, mich wenig zu bewegen, bis ich mir sicher bin, dass das Seil draußen gut fixiert ist.
Inzwischen höre ich auch gedämpfte Rufe von oben, antworte immer wieder, doch scheinbar hört mich niemand. Ich überprüfe mein Material am Gurt – ein paar Karabiner, Schlingen und eine Microtraxion, damit sollten sich die wenigen Meter nach oben schnell überwinden lassen. Weit komme ich allerdings nicht, denn circa auf halbem Weg macht das Seil einen Knick über einen kleinen Eisbauch und läuft dahinter fast schon horizontal durch den gefrorenen Schnee – keine Chance, am Seil entlang weiterzukommen.
Inzwischen ist Alex am Spaltenrand aufgetaucht, und mit ihm die Kommunikation zwischen mir und der Außenwelt wiederhergestellt. In dem Wissen, mit drei Bergführern und acht frisch in Spaltenbergung ausgebildeten Jungen Alpinisten ein erstklassiges Rettungsteam vor Ort zu haben, beschließe ich, abzuwarten und die (hoffentlich) einmalige Gelegenheit, eine Gletscherspalte von innen zu sehen, für ein paar Fotos zu nutzen.
Soki:
1000 Gedanken schießen mir durch den Kopf, als Vicki auf einmal in der Schneedecke verschwindet. Ein harmlos wirkender Gletscherabstieg entlang von Spuren vorangehender Seilschaften wird in wenigen Sekunden zum Worstcase-Szenario. Mein erster Gedanke: Mit den zwei starken Burschen vor mir zupfen wir dieses Fliegengewicht problemlos wieder da raus … Moment mal, da ist nur mehr ein Bursche! Tobi hat sich scheinbar ausgehängt, während ich mit meinen Schneeschuhen beschäftigt war (und wartet bereits unten bei den anderen, wie ich feststelle, als sich der Nebel lichtet).
Felix fixiert unsere Seilschaft mit einem T-Anker, und ich versuche danach, mich mittels Prusiks an den Spaltenrand vorzutasten. Je näher ich ihm aber komme, desto mehr verschwindet das Seil im Schnee – wir befinden uns auf einer Längsspalte! Eine klassische Spaltenbergung ist hier unmöglich: Das Seil verläuft fast parallel zum Spaltenrand, wodurch es sich über eine Strecke von etwa fünf Metern in den stark durchfeuchteten Schnee eingeschnitten hat. Eine andere Lösung muss also her.
Glücklicherweise sind wir nicht alleine unterwegs und so rufe ich die Seilschaft vor uns um Hilfe (die das Ganze erstmal für ein schlecht getimtes Übungsszenario unsererseits hält). Kurz darauf sind sie dann doch mit einem zweiten Seil zur Stelle. Mit diesem koordinieren Alex und ich einen Mannschaftszug im 90-Grad-Winkel zur Spalte, und so können wir Vicki schnell und problemlos wieder herausziehen. Ohne den Luxus einer zweiten Seilschaft bzw. eines zusätzlichen Seiles wäre es allerdings eine langwierige und schwierige Prozedur geworden: Man müsste das Seil mittels T-Anker abseits der Längsspalte fixieren und anschließend das Restseil kappen.
Mit dem übrigen Seil – in der Hoffnung, dass es noch lang genug ist – kann man dann eine Bergung mittels Mannschaftszug oder der Losen Rolle im rechten Winkel zur Spalte versuchen.
Unser Fazit
- Längsspaltenstürze sind selten und werden so gut wie nie gelehrt oder gelernt, können sich aber ungleich komplizierter gestalten als der klassische Querspaltensturz.
- Anseilen am Gletscher ist wie das Anschnallen beim Autofahren. Ebenso ist es aber auch wichtig, die Spaltenbergung regelmäßig zu üben, um im Ernstfall effektiv handeln zu können.
- Spuren im Schnee sind keine Sicherheitsgarantie. Die Schneedecke, die andere Seilschaften zuvor noch getragen hat, kann durch warme Temperaturen und Sonneneinstrahlung innerhalb kurzer Zeit instabil werden.
- Kontrolliertes Absteigen am Gletscher statt unkontrolliertes Hinunterrutschen: Ein Sturz des Seilschaftsersten (wie es üblicherweise der Fall ist) kann im Rutschen möglicherweise nicht gehalten werden.
- Eine Bergtour ist erst bewältigt, wenn man beim Bier auf der Hütte ist – nicht schon, nachdem die offensichtlichen Schwierigkeiten überwunden sind.
- Kommunikation zwischen den Bergpartnern ist das A und O – egal ob in der Felswand, am Grat, in der Kletterhalle, oder eben am Gletscher.
- Nichts erzwingen, wenn die Bedingungen nicht passen! Besonders nach schneereichen Wintern sind Spalten oft schwer zu erkennen – zusammen mit warmen Nächten (durchfeuchtete Schneedecke) und schlechter Sicht eine gefährliche Kombination.