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von Andi Dick
13. Sep 2022 - 4 min Lesezeit

Verhauer: Achtung, Stein!

Beim Bergsteigen passieren ständig Fehler, die beinahe zu Unfällen führen. Niemand spricht gerne darüber. Wir schon! Diesmal: Geschichten von Andi Dick über Begegnungen der besonderen oder vielleicht doch eher alltäglichen Art im alpinen Gelände.

Das Energieoptimum loser Steine liegt üblicherweise talwärts.

Berge sind, wie sie sind. Nicht ewig, sondern zerbrechlich. Krümeln ist ihr Wesen – als Wirkung der ziel- und absichtslos waltenden Erosion oder mehr bis weniger intelligenzbegabter Lebensformen. Steine, die sich in der Unebene lösen, streben einem Energieoptimum zu, das üblicherweise talwärts liegt. Soweit die Fakten. Bringen wir Menschen uns auf dieser Energie-Trajektorie als Attraktor ein, werden Rolling Stones (und flying rocks) für uns zur Gefahr. Wie wir uns dieser gegenüber verhalten, beeinflusst die Größe des entstehenden Risikos. Bleiben wir daheim, ist es null. Ein Helm mindert das Gefahrenausmaß, Mitdenken die Eintrittswahrscheinlichkeit. Aber Irren ist menschlich, und perfect is nobody. Das wurde mir beispielsweise klar, als wir unter der Südwand des Torre Grande der Cinque Torri standen und Linien checkten – ohne Helm natürlich, wir waren einigermaßen weit weg und hatten nichts vor – und plötzlich zwei Meter nebenan ein faustgroßer Stein einkraterte.

Da wurde eine Containerladung Kühlschränke und Fernseher abgeworfen.

Ähnlich schwer vorhersehbar war das Ereignis an der Aiguille Noire. Einen Tag lang hatten wir uns mit einer italienischen Seilschaft am Südgrat eine Art Wettrennen geliefert; als wir vor ihnen vom Gipfel aufbrechen wollten, entstand aus irgendeinem Grund der Entschluss, lieber gemeinsam abzusteigen, um am berüchtigten Normalweg den Weg zu finden und uns gegenseitig nichts aufs Hirn zu werfen. Wir starteten also zehn Minuten später – und als wir am Beginn einer langen Querung durch steiles Schrofen-Felsgelände waren, wurde über diese gerade eine Containerladung Kühlschränke und Fernseher abgeworfen.

Der Wert eines Helms hätte sich da in engen Grenzen gehalten. Als Steinlawine hätte man wahrscheinlich auch bezeichnen können, was sich über mir bewegte, als ich fröhlich zur Scheffauer- Nordwand anstieg. Ganz genau hab ich es nicht gesehen, denn ich mobilisierte alles an aerober und anaerober Leistungsfähigkeit, um die Rinne hinaufzusprinten, an deren rechtem Rand eine Nische lockte. Ergänzend zum Glück, dass der Unterstand existierte, brauchte es noch die Energie, ihn zu erreichen.

Die Gamsein schwarz und braun san so liab zum Schaugn.

Auch „die Gamsein schwarz und braun“ gehören zu den Bergen und „san so liab zum Schaugn“ – am allerliebsten freilich von oben oder seitlich. Das wurde mir klar, als ich am Nordanstieg zum Kleinen Waxenstein unter einem Felsband entlangstieg, auf dem eine Gämse gerade Kehrwoche zu halten schien. Glücklicherweise hatte sie es weniger eilig als ich, so dass die Begegnung keine bleibenden Eindrücke hinterließ.

Foto: Archiv Andi Dick
Inzwischen trifft man Andi mit seiner Partnerin Irmgard wieder vermehrt beim Klettern in internationalen Gebieten an.

Gleich ein ganzes Rudel unserer lieben Bergkameraden sah ich beim Abstieg vom Hohen Gleirsch. Ich links am Wanderweg in steiler Grasflanke, sie rechts drüben, nahe einer Hangkante; ihr Ausweichbedürfnis gegenüber der vormittäglichen Störung trieb sie dazu, oberhalb des Weges nach links zu queren; der Karwendelcharakter des Hangs exprimierte sich in einem stetigen Rauschen und Poltern von Steinen, die unter den Paarhufen nachgaben. Absehbar war, dass das Flächenbombardement über mir durchziehen würde. Was tun? Es fand sich ein einigermaßen waagerechtes Wegstück in etwas weniger steilem Gelände, wo ich mir ausmalte, einem großen Brocken mit beherztem Sprung ausweichen zu können. Ob ich den Rucksack zwecks Beweglichkeit abgenommen und als Schild vor mich gehalten habe, weiß ich nicht mehr. Nur, dass die bis fußballgroßen Brocken glücklicherweise alle rechts oder links an mir vorbeitrudelten und kein Zirkusmanöver nötig wurde.

Bergsteigertugenden: Warten und Hoffen

Die eindrucksvollste Steinschlag-Kanonade hatte aber keine tierischen Ursachen. Sondern eine Dreierseilschaft, die die schuttgefüllten Zustiegsrinnen zur Predigtstuhl-Nordkante angeseilt zurücklegte. Eine halbe Stunde lang hallte die Steinerne Rinne wider vom Bombardement; wir kauerten uns unter die steile Bergseite einer Wegkehre, zogen die Rucksäcke über die Köpfe und übten uns in den Bergsteigertugenden Warten und Hoffen.

Und die Moral von der Geschicht?

Was ließe sich aus diesen Geschichten lernen? Sei gerüstet, schau dich um, zieh gelegentlich rechtzeitig den Helm auf – aber lebe damit, dass du nicht alles komplett im Griff haben kannst und dass das Leben letztlich ein Geschenk ist. Und wer gerne selbstbewusst mit dem Begriff „Risikomanagement“ um sich schleudert, sollte für Steinschlag über eine passendere Formulierung nachdenken.

Erschienen in der
Ausgabe #119 (Sommer 22)

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