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03. Sep. 2019 - 16 min Lesezeit

Verbunden bis in den Tod

Stehen wir auf einem Berggipfel, haben wir die Gelegenheit, unser tägliches Treiben mit größerem Abstand zu betrachten. Die Ungereimtheiten des Alltags sehen wir aus der Entfernung oft klarer, als wenn wir mitten im Gewühl stecken. Bergsteigen kann so zu einer Korrektur unseres Lebens beitragen. Als Bergsteiger, und insbesondere als Bergführer, sollten wir allerdings von Zeit zu Zeit diesen Prozess umdrehen und unser tägliches Handwerk in den Bergen aus der Entfernung vom Tal aus begutachten.

Meinen Kolleginnen und Kollegen gewidmet, die bei Mitreißunfällen ihr Leben ließen.

„Ich bin dir sehr verbunden” – „I am attached to you“

Das Bergseil ist als ein Symbol für Sicherheit am Berg fest in der Vorstellungswelt der Allgemeinheit verankert. Jede Bergschule wirbt damit, dass der Kunde nur am Seil des Führers sicher emporsteigt. Im deutschen ebenso wie im englischen Sprachgebrauch beschreibt „Verbundensein“ Liebe und Gemeinsamkeit. In unserer Psyche ist das Angebundensein synonym mit Sicherheit und Geborgenheit.

Kommt es zu einem Unfall und die Teilnehmer waren nicht angeseilt, so ist der Urteilsspruch schon vorgegeben: „Sie gingen unangeseilt. Grobe Fahrlässigkeit.“

Kommt es zu einem Seilschaftsabsturz, wird von einem „tragischen Mitreißunfall“ gesprochen. Selten hört man, dass es zu einem Absturz kam, weil die Teilnehmer angeseilt waren.

Das Seil kann nämlich nur Folgendes: Die Kraft von dem einen Ende des Seiles auf das andere übertragen. Gehen zwei Bergsteiger gleichzeitig am Seil und wird das Seil nicht in feste Verankerungen eingehängt, so wird der Bergsteiger selbst zu einem Anker; allerdings einem beweglichen. Im Gegensatz zu festen Verankerungen, deren Haltekräfte ausführlich erforscht und dokumentiert worden sind, sind die Haltekräfte eines Bergsteigers weitgehend unbekannt. Sie sind auf seine Reibungskräfte mit der Oberfläche reduziert, auf der er sich gerade bewegt.
Beim angeseilten Gehen auf einem Gletscher verlassen wir uns bei einem Spaltensturz ausschließlich auf die Reibungskräfte zwischen haltendem Bergsteiger und Schneeoberfläche sowie auf die Reibungskräfte des Seiles am Spaltenrand. Ein genügend großer Seilabstand, großer Seildurchmesser, das Knüpfen von Knoten mitten im Seil oder auch das Einbinden von Gegenständen in das Seil können die Reibung am Spaltenrand erheblich erhöhen und somit die Gefahr eines Mitreißunfalles verringern.
Diese Vorsichtsmaßnahmen sind nur wirkungsvoll, wenn wir es mit einer weichen Schneeoberfläche zu tun haben. Dummerweise geht es beim Bergsteigen hin und wieder auch bergauf, ein Gletscher ist eben nicht nur eben.

Am Steilhang kommt dann noch die Schwerkraft hinzu, die den Reibungskräften des
haltenden Bergsteigers zusätzlich entgegenwirkt. Jeder Seilschaftsführer kennt das Dilemma: Fällt beim Bergaufgehen der Letzte in eine Spalte, dann sieht es für die Vorsteigenden sehr ungünstig aus. Noch ungünstiger verhält es sich beim Bergabgehen, wenn der Seilschaftserste ins Loch fällt.
Steigt eine Seilschaft gleichzeitig und haben wir es mit einer harten Schneeoberfläche zu tun, so verringern sich die Reibungskräfte dramatisch. Kommt es zu einem Sturz eines Teilnehmers auf einem nur 30 Grad steilen, hart gefrorenen Firnhang, so ist der Absturz der gesamten Seilschaft schon vorprogrammiert.

Gehen am kurzen Seil

Gerade die harmlos erscheinende Übergangszone zwischen flachem Gletschergelände, wo wir angeseilt gleichzeitig gehen, und Steileis, wo wir mit festen Sicherungen steigen, ist eine Geländefalle, in der sich viele Bergsteiger bewegen, die arglos dem Seilpartner zutrauen, von ihm im Falle eines Abgleitens gehalten zu werden. Für uns Bergführer ist das Gehen in dieser Übergangszone tägliches Brot. Der Gebrauch von Steigeisen täuscht uns hohe Haltekräfte vor. Wir halten das Seil schön gespannt, damit der Kunde im Falle eines Ausrutschers keine große Bewegungsenergie gewinnen kann. In Wirklichkeit aber halten wir als Führer nur uns selbst auf den Beinen und das Gewicht des Seiles zwischen uns und unserem Kunden – nichts mehr. Dem Kunden suggerieren wir eine Sicherheit, die wir nicht bieten können. Die „Sicherheit“ ist rein psychologisch.
Hinzu kommt, dass viele Bergsteiger fälschlicherweise annehmen, dass beim Gehen am kurzen Seil das dynamische Kletterseil durch Dehnung alle Sturzenergie aufnehmen kann und sich damit die auftretende Zugkraft (Fangstoß) verringert. Während dies beim Klettern mit festen Sicherungspunkten zutrifft, ist die Energieaufnahmefähigkeit des Seiles beim gleichzeitigen Gehen am Seil vernachlässigbar gering. Die auftretenden Kräfte sind vergleichsweise niedrig und die zur Verfügung stehende Seillänge sehr kurz. Ob ein Kind einen starken Hund an einer Kette oder mit einem modernen Kletterseil ausführt, macht keinen Unterschied, wenn der Hund einen Hasen sieht und plötzlich losrennt. Kann das Kind die Leine nicht loslassen, wird es erbarmungslos mitgerissen.

Die Übergangszone, in der wir gewohnheitsmäßig am „kurzen Seil“ führen, ist ein Gelände, das ein geübter Skifahrer ohne mit der Wimper zu zucken hinabfährt. Wie viele Pisten kennen wir, die steil und oft vereist sind und die von Hunderten abgefahren werden. Würde es aber einem Skilehrer jemals einfallen, dort seine Skischulgruppe anzuseilen, um einem seiner Teilnehmer im Falle eines Sturzes „Sicherheit“ zu bieten? Die gesamte Gruppe würde todsicher den Hang hinuntertaumeln, der Skilehrer, falls er die Talfahrt überlebt, würde wegen grober Fahrlässigkeit vor den Kadi zitiert!

Der Unterschied zum Bergführer, der seine Gruppe am kurzen Seil führt, ist der, dass der Skilehrer tagelang erst mit seiner Gruppe das Skifahren übt, bevor er in einen Steilhang einfährt. Ist einer seiner Skischüler der Sache nicht gewachsen, geht es zurück auf den Übungshang. Das Gehen mit Steigeisen ist jedoch sehr schnell erlernt und verlockt zum schnellen Übergang in steileres Gelände – zur „Sicherheit” dann aber nur am kurzen Seil.

Ich kann jetzt die ärgerlichen Kommentare meiner Kollegen, die jahrelang mit großer Übung und hohem Können ihre Kunden am kurzen Seil auf Steilhängen geführt haben, geradezu hören. Wir sehen die Bilder in allen Bergbüchern und Bergschulkatalogen.
Ich habe selber jahrelang so geführt.
„Man muss es halt nur richtig machen“, hört man immer wieder, wenn ein Mitreißunfall einen aus unserer Mitte erwischt.

Unfälle passieren ja immer nur den anderen. Diese Einstellung ist ein Rezept dafür, dass wir selber eines Tages zur Statistik beitragen. Die Haltekräfte des Seilschaftsführers beim gleichzeitigen Gehen am Seil sind zum größten Teil nur Wunschdenken. Und weil es so weitläufig angewandt wird, ist das Gehen am kurzen Seil zur Norm geworden. Aber auch der erfahrenste Bergführer unterliegt den Gesetzen der Physik.
Interessanterweise ist das „Gehen am kurzen Seil“ in keinem Lehrbuch aufgeführt, das auf dem Markt erhältlich ist. Meine Nachforschungen zeigen eine große Vielfalt von Anwendungsmethoden in verschiedenen Ländern. Diese verschiedenen Methoden sind weitgehend empirisch geschaffen, so gut wie nie getestet worden und amüsant widersprüchlich.

Versuchsanordnung

Wie reagiert eine aufrecht stehende Person auf eine seitliche Zugkraft? Um nicht umzufallen, muss sie den eigenen Masseschwerpunkt aus der Senkrechten so verlagern, dass der Zugkraft entgegengewirkt werden kann und damit wieder ein Gleichgewicht geschaffen wird. Geht dieser Prozess langsam genug vor sich, so genügt ein einfaches Zurücklehnen. Beim plötzlichen Auftreten der Zugkraft muss die Person sehr schnell reagieren und einen Ausfallschritt in Richtung Zugkraft unternehmen. Es liegt nun die Versuchung nahe, einfach ein Kraftmessgerät in das Seil einzubinden, um so die Kräfte zu messen, die ein Bergsteiger auf einem Hang halten kann. Steigert man langsam die Zugkraft, legt der Führer sich zurück. So kommt es zu einem eindrucksvollen Tauziehen auf dem Steilhang. Die möglichen Haltekräfte reichen je nach Stärke des Haltenden bis über sein Eigengewicht. Ein verführendes Ergebnis. Zu dumm nur, dass wir unsere Kunden nicht bitten können, nur langsam zu stürzen, sodass wir genügend Zeit haben, uns zurückzulegen.
Unser statisches Experiment hilft uns nicht weiter.

Pit Schubert vom DAV-Sicherheitskreis unternahm 1982 ausführliche Fallversuche auf Firnhängen, die schon damals ernüchternde Ergebnisse zeigten. Es wurden Kraftspitzen zwischen 50 N und 400 N (ca. 5 kg und 40 kg) gemessen, die bei den Sturzversuchen ausreichten, die sichernde Person den Hang hinunterstürzen zu lassen. Die Veröffentlichung seiner Ergebnisse führte bei vielen Bergsteigern zu einem Umdenken und in den darauffolgenden Jahren nachweislich zu einer Verringerung von Mitreißunfällen.
Wenn wir bei Fallversuchen allerdings nur die auftretenden Kraftspitzen messen, dann erhalten wir ebenfalls nur ein unvollständiges Ergebnis. Eine Kraftspitze, die nur während eines Bruchteiles einer Sekunde auftritt, kann zu hohe Haltekräfte vortäuschen.

Da wir es mit einem plötzlichen Auftreten einer Zugkraft zu tun haben, handelt es sich um ein dynamisches Experiment. Wir müssen das Produkt von Kraft x Zeit – F(t) x dt – berücksichtigen: Das Integral der von der Zeit abhängigen, auf den Führer einwirkenden Kraft mal die Zeit der Krafteinwirkung, also den Impuls, der beim Sturz des Abgleitenden auf den Haltenden übertragen wird, und – falls er den Sturz halten kann – über die Füße des Haltenden auf die Oberfläche unter ihm. Bis zum heutigen Zeitpunkt sind allerdings die auftretenden Impulse noch nicht systematisch gemessen worden, da ein solches Experiment sehr aufwändig ist. Das Experiment hängt von vielen Variablen ab, wie Hangneigung, Schneebeschaffenheit, Gewicht, Stärke und Reaktionszeit des Haltenden, Gewicht des Stürzenden, Anseilart usw. Wir können daher eine große Streuung der Ergebnisse erwarten. Es war für mich von besonderem Interesse herauszufinden, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass der Führer bei verschiedenen Anseilarten, bergauf und bergab gehend oder stehend eine Kraft halten kann, die plötzlich über das Seil auf den Führer einwirkt.

So konstruierten wir eine schiefe Ebene von 30 Grad Neigung, belegten sie mit Teppichboden, bauten einen Turm für Seilumlenkung und Fallgewicht und errechneten so die Wahrscheinlichkeit, dass eine Testperson ein Fallgewicht unter verschiedenen Bedingungen halten konnte. Die Testperson, der Führer, ging dabei mit Steigeisen die schiefe Ebene hinauf, hinunter oder blieb stationär, während das Seil über reibungsarme Seilrollen immer leicht straff gehalten wurde. Ohne Ankündigung wurde über einen „Shunt“ ein Fallgewicht am Turm in das Seil eingeklinkt, ohne dass es zu einem Freifall des Fallgewichtes kam (Abb. 1).

Abb. 1: Die Versuchsanordnung. Die Testperson befand sich mit Steigeisen auf einer 30 Grad steilen Rampe, das Seil befand sich permanent unter leichtem Zug und verschieden schwere Fallgewichte wurden mit einem Shunt in das Seil eingeklinkt. Die Testperson musste somit nicht nur die kurze Kraftspitze, sondern die über einen längeren Zeitraum auftretende Zugkraft halten – wie in der Praxis. Das ernüchternde Ergebnis: Es ist unmöglich, mehr als einen Gast am kurzen Seil zu halten. Illustration: Lisa Manneh

Es wurden dreierlei Arten des Anseilens – bzw „Sicherns“ durch den Führer – gemessen:

  • Lange Seilschlinge (Handschlinge im Abstand Sitzgurt – ausgestreckter Arm). Kraftübertragung auf den Sitzgurt erst, nachdem der Sturz gehalten wurde.
  • Kurze Seilschlinge (Handschlinge im Abstand Sitzgurt – angewinkelter Arm). Kraftübertragung auf den Sitzgurt während des Haltevorganges.
  • Direktes Einbinden in den Sitzgurt, keine Benutzung der Handschlinge. Sofortige Kraftübertragung auf den Sitzgurt.

Der Führer hielt beim Gehen mit „kurzer Seilschlinge“ und „langer Seilschlinge“ das Seil in einer fest eingebundenen Handschlinge mit angewinkeltem Arm vor dem Brustkorb, um bis zur
maximal möglichen Streckung des Armes über einen größtmöglichen Kraftweg zu verfügen, über den er Energie absorbieren konnte, und um dem Führer eine längstmögliche Reaktionszeit zu geben. Es wurden mit 13 Testpersonen insgesamt 193 Fallversuche unternommen.

Ergebnisse

Ohne Ausnahme wurde die niedrigste Halterate beim direkten Einbinden in den Sitzgurt gemessen (Abb. 2). Dies ist verständlich, da ja die Testperson nur durch ein Verlagern des Masseschwerpunktes der einwirkenden Kraft entgegenwirken kann.
Wirkt die Zugkraft direkt am Sitzgurt, also ganz in der Nähe des Masseschwerpunktes, so kann die Testperson nur erschwert den eigenen Masseschwerpunkt verlagern und es gibt ihr auch nur eine sehr verkürzte Reaktionszeit. Dieses Ergebnis wurde subjektiv von den Testpersonen bestätigt, als sie nach den Versuchen über ihre bevorzugte Anseilart befragt wurden. Überraschenderweise gab es keinen messbaren Unterschied in der Halterate bei „langer Seilschlinge“ verglichen mit „kurzer Seilschlinge“. Auch diese Ergebnisse wurden von den Testpersonen bestätigt: Die Meinungen über die bevorzugte Anseilmethode waren 50:50 geteilt. Beim Bergaufgehen wurden die höchsten Halteraten gemessen, beim Bergabgehen die niedrigsten (Abb. 3). Ergebnisse im Stand lagen in der Mitte. Halteraten waren ebenfalls sehr vom Gewicht der Testperson abhängig und die Reaktionszeit war von größter Wichtigkeit. Ermüdung und Alter spielten in dieser Beziehung eine große Rolle. Kam die Zugkraft auf den ausgestreckten und nicht auf den bis zum Brustkorb abgewinkelten Arm, so war die Halterate ebenso stark vermindert.
Von allen Testpersonen konnte ein Fallgewicht von 10 kg gehalten werden, hingegen konnten nur die wenigsten und die stärksten Testpersonen ein Fallgewicht von 40 kg halten, und auch nur dann, wenn sie sich schon vor dem Fall der zu erwartenden Kraftrichtung entgegenlehnten, sich also unnatürlich bewegten! Wahrscheinlichkeiten, Fallgewichte von 20 kg und 30 kg zu halten, lagen dazwischen.
Geht man von der Tatsache aus, dass sich alle Testpersonen dessen bewusst waren, dass ein Sturz unmittelbar bevorstand, es sich also nicht um einen Überraschungseffekt handelte, so müssen alle Ergebnisse noch nach unten korrigiert werden. Berücksichtigt man, dass eine auf einer 30 Grad steilen Eisoberfläche reibungsfrei aufsitzende Person von 80 kg Eigengewicht eine Seilkraft von etwa 400 N auf den Führer ausübt, so entspricht dies dem Fallgewicht von 40 kg im obigen Versuch. Dieses ernüchternde Ergebnis darf wie folgt zusammengefasst werden:

„Nur im Idealfall kann ein Führer erwarten, einen gestürzten Kunden von 80 kg auf einem vereisten 30 Grad steilen Schneehang zu halten. In der Regel kommt es zum Seilschaftsabsturz. Mehr als einen Teilnehmer auf einem solchen Hang zu halten, darf als unmöglich angesehen werden.“

Gehen am kurzen Seil auf einem nur 30 Grad steilen vereisten Steilhang ist nichts anderes als eine bequeme Art das Seil zu tragen.
Es wird zur tödlichen Falle für alle Beteiligten, da es so gut wie ausgeschlossen ist, dass sie alle nach einem Sturz genau gleichzeitig in die Rettungsstellung gehen. Es muss ebenso als ein außerordentlicher Glücksfall gelten, wenn ein Führer nach dem Sturz der Seilschaft durch die eigene Rettungsstellung auf harter Schneeoberfläche die Seilschaft halten kann. Anstelle von erhöhter Sicherheit erhöhen wir beim Gehen am kurzen Seil das Absturzrisiko für den Kunden und uns selber.

Abb. 2 Messergebnisse bei verschiedenen Methoden
„Gehen am kurzen Seil“. Die schlechtesten Haltewerte auf der
30° Rampe wurden, wie zu erwarten, beim „direkten Einbinden“
erreicht, wenn der Zug sofort auf den Hüftgurt wirkte. Etwas
überraschend war, dass die Halterate bei „langer Seilschlinge“
nicht wesentlich höher war als bei „kurzer Seilschlinge“.

Konsequenzen

Ähnlich wie bei der Beurteilung der Lawinengefahr müssen wir beim gleichzeitigen Gehen am Seil mehrere Faktoren berücksichtigen, die ich in den abgebildeten Grafiken (Abb. 4) darstellen möchte. Der grüne Bereich stellt die relativ sichere Zone dar, der rote Bereich die Zone großer Mitreißgefahr. Die Grafiken beziehen sich auf das Gehen am kurzen Seil mit nur einem Kunden auf Schnee- und Eishängen, wo ein Spaltensturz ausgeschlossen ist. Für die ungeführte Seilschaft ergibt sich daraus nur eine Konsequenz: Wenn die Mitreißgefahr größer als die Spaltensturzgefahr ist, Seil runter oder mit Fixpunkten sichern.
Für die geführte Seilschaft sieht die Sache wesentlich schwieriger aus. Das Absturzrisiko verringern bedeutet die Wahrscheinlichkeit eines Sturzes zu verringern und durch geschickte Geländewahl die Folgen eines möglichen Sturzes einzugrenzen. Als Führer können wir nur das Risiko auf ein Minimum reduzieren, jedoch niemals ganz ausschließen.

Abb. 4: Haltewahrscheinlichkeiten abhängig von der Hangneigung und den Schneeverhältnissen. Die relativ „sicheren“ Zonen sind grün dargestellt, wohingegen in den roten Bereichen eine große Mitreißgefahr beim Gehen am kurzen Seil mit nur einem Kunden besteht.

Es gibt für den Führer eine Vielzahl von Möglichkeiten, im Übergangsgelände große Sicherheit zu bieten. Insbesondere durch die zunehmende Ausaperung der Gletscher und durch vermehrtes Auftreten von Blankeis und hartem Firn müssen wir Führer vermehrt auf Techniken zurückgreifen, die bislang nur wenig Beachtung fanden oder aus der Mode geraten sind:

  • Langes Seil und gleichzeitiges Gehen unter Anwendung von laufenden Fixpunkten (Abb. 5). Besser, 10 Eisschrauben mittragen – und auch setzen –, als in die traurige Statistik eintreten.
  • „Seilbahn“ bergauf (Abb. 6), d.h. Gehen mit Seilklemme oder Klemmknoten für den Aufstieg mit Gruppen.
  • „Seilbahn“ bergab (Abb. 7). Diese von mir entwickelte Methode ist außerordentlich einfach, vollkommen sicher und schnell einsetzbar. Seildurchmesser, Größe des Bremsringes und Form des Karabiners müssen gut aufeinander abgestimmt sein. Mehrere Seillängen können mühelos überschlagen gegangen werden, da die Bremse umkehrbar ist. Die Bremse ist unabhängig von jeglicher Fehlbedienung seitens des Kunden und wird vom Führer über die Seilspannung kontrolliert.
  • Einwandfreie Bergschuhe, gut passende Steigeisen und keine lose Kleidung oder Riemen, über die gestolpert werden kann.
  • Das Gehtempo verringern.
  • Richtiger Gehrhythmus unter Einsatz von unterstützendem Eispickel und/oder Skistöcken.

Abb. 5 Gleichzeitiges Gehen mit Zwischensicherungen.
Die Gruppe steigt gleichzeitig am langen Seil auf, der Führer
setzt Zwischensicherungen, die mit Tibloc oder Ropeman
abgesichert werden können. Die Seilabstände sind groß und
zwischen zwei Fixpunkten befindet sich immer nur eine Person
Abb. 6 „Seilbahn“ bergauf. Nachdem der Führer vorausgestiegen ist und das Seil fixiert hat, steigt eine Person nach der
anderen mittels Steigklemme oder Klemmknoten gesichert nach.
Die restliche Gruppe wartet an einem sicheren Standplatz und
spannt das Seil. Der letzte Teilnehmer wird vom Bergführer
nachgesichert. In der Abbildung unten rechts sichert sich ein
Teilnehmer an einer kurzen Bandschlinge mittels Ropeman und
zusätzlichem Schraubkarabiner.
Abb. 7: „Seilbahn“ bergab. Nachdem der Führer einen Standplatz eingerichtet hat, werden die Kunden unterhalb dieses Fixpunktes mit einem sog. Bremsring eingebunden. Der Führer steigt ab, richtet den nächsten Standplatz ein und kontrolliert mittels Seilspannung von unten die einzeln absteigenden Teilnehmer seiner Gruppe. Zieht er am Seil, blockiert der Bremsring, eine einfache Seilbremse. Die Größe des Ringes muss auf Seildurchmesser und Form des Karabiners abgestimmt sein. Nachdem alle den Stand unterhalb des nächsten Fixpunktes erreicht haben, steigt der Führer nochmals auf, entfernt den oberen Fixpunkt, steigt ab und richtet den nächsten Stand eine Seillänge weiter unten ein. Foto: Braun-Elwert

Zu guter Letzt müssen wir uns als Führer ernsthaft überlegen, wo und wann wir dem Kunden mehr Eigenverantwortung übertragen können, ihn also seilfrei gehen lassen dürfen. Ähnlich wie der Skilehrer seine Schüler auf das Befahren von Steilhängen vorbereitet, müssen wir mit unseren Kunden sorgfältigst im einfachen und sicheren Gelände mit und ohne Steigeisen das Begehen von Schnee- und Eishängen üben und die Rettungsstellung gut einstudieren. Und nur wenn der Kunde die Erfahrungsschwelle einer sehr hohen Trittsicherheit gemeistert hat, lassen wir ihn im geeigneten Gelände seilfrei gehen. Der Kunde bewegt sich dann mit angelegtem Sitzgurt seilfrei und wird vom Führer nur an ausgesetzten oder steileren Passagen in das Seil eingeklinkt und über entsprechende Fixpunkte gesichert. Eine solche erhöhte Eigenverantwortung des Kunden muss Hand in Hand gehen mit guter Routenwahl und Stufenschlagen. Der gute alte Führerpickel darf wieder hervorgeholt werden, denn mit dem kurzen leichten Eishämmerchen können wir zwar ein modernes Erscheinungsbild bieten, aber keine Stufen schlagen. Zudem müssen wir die Übertragung dieser größeren Eigenverantwortung in einem Vertrag, ähnlich wie es beim Expeditionsbergsteigen schon längst üblich ist, rechtlich eindeutig absichern.

Erschienen in der
Ausgabe #63