Die Alpenstange: Über Stock und Stab
„An einem prächtigen Julimorgen 1999 strebte ich mit meinen beiden Begleitern Franz und Fritz dem Einstieg der Dachstein Südwand zu. Es waren noch ausgedehnte Schneefelder zu queren und einer alten Tradition folgend waren wir mit starken Haselnussstecken ausgerüstet. Besonders beim steileren Einstiegsschneefeld waren diese eine große Hilfe und eigentlich ein Pickelersatz. Üblicherweise lässt man die Stöcke in der Randkluft zurück. Aber heute staunten meine Begleiter nicht schlecht, als ich ihnen die Stöcke kunstvoll auf den Rücken band. Erst beim Steinerband befreite ich sie wieder von der ungewohnt sperrigen Last. Zu Hause habe ich die Stöcke so präpariert, dass ich sie mit wenigen Handgriffen zu einer langen Stange verbinden konnte, etwa der Stange der Erstbegeher entsprechend. Ich ließ mich nun von Franz mit der Stange zur Wand drücken, wie seinerzeit der Steiner Irg, und Fritz hielt alles fotografisch fest. Es funktionierte tatsächlich.“
Diese Zeilen stammen vom steirischen Alpinpionier Klaus Hoi, der von 1978 bis 1996 Ausbildungsleiter im Verband der Österreichischen Berg- und Schiführer war. 1999 hat er die legendäre Erstdurchsteigung der über 800 Meter hohen Dachstein Südwand von Georg „Irg“ Steiner und seinem Bruder Franz vom 22. September 1909 nachvollzogen und den Stockschub zur Belustigung seiner Begleiter inszeniert. Georg Steiner verwendete an der Schlüsselstelle im fünften Schwierigkeitsgrad einen etwa zwei Meter langen Holzstock, mit dem ihn sein Bruder an die Wand drückte (Abb. 1).
Hirtenstab als Status- und Machtsymbol
Die Begriffe „Stock“, „Stab“, „Stange“ und „Stecken“ lassen sich nicht klar voneinander abgrenzen. Schon in prähistorischer Zeit wurden Stöcke und Stäbe als Speere oder Lanzen zur Jagd verwendet. Erst etwa 11000 v. Chr. begann der Mensch im Gebiet des Fruchtbaren Halbmondes Ziegen und Schafe zu domestizieren. Dort dürfte auch der Hirtenstab als Werkzeug entstanden sein. Egal ob Ziegenhirte in Kreta, Schafhirte in Schottland, Rinderhirte in der Masai Mara oder der Yakhirte Reinhold Messner in Sulden (Abb. 2): Weltweit hilft seither ein langer, in der Regel mindestens bis zu den Achseln reichender Wanderstock den Hirten und Tierwirten, sich in unwegsamem Gelände zu bewegen, dorniges Gestrüpp beiseite zu schieben, Getier zu verjagen oder sich bei längerem Stehenbleiben abzustützen. Mit dem gekrümmten Ende der Schäferstäbe konnten die Vierbeiner an Beinen oder Hörnern eingefangen werden.
Stäbe werden seit Jahrtausenden nicht nur als Werkzeug verwendet, sondern auch als Kultobjekt und Herrschaftssymbol verstanden. Sie verhalfen einst zu Nahrung, sicherten das Überleben und avancierten zu einem Zeichen der Überlegenheit. In verschiedenen Kulturen entfalten sie sogar magische Wirkung, wenn ihre Träger als Mittler zwischen Göttern und Menschen fungieren. Im alten Ägypten gehörte der Krummstab zu den Herrschaftssymbolen der Pharaonen. Die römischen Auguren trugen den Lituus. Bisweilen werden Stäbe als göttlich interpretiert: Der Stabgott aus Peru gilt als das älteste identifizierbare religiöse Symbol auf dem amerikanischen Kontinent. Im Okkultismus verwenden Zauberer einen Magierstab für Rituale oder um Energien in eine Richtung zu lenken. Stäbe spielen auch in der Bibel eine Rolle, wie bei Mose, der damit Wasser aus Felsen sprudeln ließ. In der christlichen Tradition leitet sich der gekrümmte Bischofsstab als Zeichen der kirchlichen Jurisdiktionsgewalt vom etruskisch-italischen Hirtenstab ab. Und auch der Papst trägt als Pontifikalie und Symbol des Hirtenamts die Ferula, den Kreuzstab, den am oberen Ende ein Kreuz ziert.
Zum Selbstschutz und Schutz ihrer Herde führten Hirten zusätzlich auch einen Schlag- oder Wurfstock (Keule) am Gürtel befestigt mit. Dieser diente als Waffe zur Abwehr von Dieben und wilden Tieren und wurde zum Sinnbild für Macht und Vorherrschaft. Der Offiziersstock als Symbol der Autorität hochrangiger Offiziere geht auf die römischen Centurionen zurück. Oberbefehlshaber tragen den Marschallstab. Das Königszepter (von griech. skēptron, Stab) ist die stabförmige Insignie monarchischer Hoheit, das Universitätszepter das Zeichen der Würde des Rektors. Gemäß der Tiroler Malefizordnung 1499, dem ersten kodifizierten Strafrecht im deutschen Sprachraum, wurde nach der Verlesung eines Todesurteils der Gerichtsstab als mittelalterliches Symbol richterlicher Gewalt zerbrochen. Daher stammt auch die Redewendung, den Stab über jemanden zu brechen, wenn man über jemanden negativ urteilt. Wandergesellen machen sich stolz mit dem Stenz, einem wendelförmigen Wanderstab, auf Walz. Und in manchen Gesellschaften gehört ein besserer Stab einfach zu den Modeaccessoires mehr oder weniger vornehmer Herren.
Inbegriff und sichtbares Zeichen der Wanderschaft und Pilger ist der Pilgerstab, auch Jakobsstab genannt. Der Heilige Jakobus (Abb. 3) war einer der zwölf Apostel, gilt als Schutzpatron der Pilger und Wallfahrer und ist zentrale Figur des Jakobskults im Pilgerort Santiago de Compostela, zu dem die beliebten Jakobswege führen. Auch der Heilige Christophorus, der Schutzheilige der Reisenden, wird stets mit einem Stab dargestellt. Ein Pilgerstab gab Halt, nicht nur zum Abstützen und Ausrasten, sondern auch im spirituellen Sinne, wenn die Fernwanderer psychisch ins Wanken kamen. „Stecken und Stab trösten mich“ heißt es in Psalm 23. Noch heute erscheint ein Wanderstab zumindest als ein gewisses Statement. Und schenkt man der Bibel Glauben, so soll bereits der visionäre Sohn des Zimmermanns von Nazareth die praktische Bedeutung des Wanderstocks erkannt haben, da er seinen Aposteln gebot
nichts mitzunehmen auf den Weg als allein einen Stab, kein Brot, keine Tasche, kein Geld im Gürtel
Evangelium Markus 6.8
Stäbe als Fortbewegungsmittel und Sportgerät
Stöcke und Stäbe unterstützen einerseits die Standstabilität im weglosen Gelände und ermöglichen es andererseits, verschiedenartige Geländehindernisse zum Teil sehr spektakulär zu überwinden. In Friesland beispielsweise nutzten Bauern jahrhundertelang lange Holzstäbe mit einer Scheibe am unteren Ende, um Kanäle und Wassergräben trockenen Fußes zu überqueren. Dabei wird mit einem bis sechs Meter langen Stab (in Norddeutschland Pultstock, in Holland Polsstok, in Dänemark Klyverstav genannt) in der Art des Stabhochsprungs gesprungen, wobei man sich jedoch nicht in die Höhe katapultiert, sondern in die Weite schwingt. Das traditionsreiche Fierljeppen (Pultstockspringen) über Wasserläufe gilt als Kulturerbe der Niederlande. Es ist dort ein beliebter Volkssport und eine der wohl verrücktesten Sportarten überhaupt. Bereits 1767 wurden erste Wettbewerbe ausgetragen. Heute verwendet man Stäbe aus Kohlenstofffasern (Carbon), die acht bis 13 Meter lang sind und Weitenrekorde von über 22 Meter bei Herren und über 18 Meter bei Damen ermöglichen. Das wettkampfmäßige Fierljeppen ist ein sehr komplexer Bewegungsablauf und erfordert Kraft, Geschicklichkeit, Mut und ein gutes Timing, das andere Ufer zu erreichen (Abb. 4). Um möglichst große Weiten zu erzielen, klettern die Springer an der sich nach vorne neigenden Stange empor. Je höher die Kletterdistanz desto weiter der Sprung. Damit man möglichst hoch kommt, sollte der Schwung langsam ablaufen. Dabei geht man aber das Risiko ein, dass die Senkrechte eventuell nicht erreicht wird und man zurück oder seitlich ins Wasser fällt. Gerade das macht aber unter anderem auch den Reiz des Wettkampfs für die Zuschauer aus, wenn die fliegenden Holländer durch die Lüfte segeln.
Auf den zum Teil sehr schroffen und gebirgigen Kanarischen Inseln wiederum haben die indigenen Guanchen bereits in präkolonialer Zeit den Hirtensprung erfunden, um sich im zerklüfteten Felsgelände rasch und sicher bewegen zu können. Mit Hilfe eines etwa vier Meter langen, mit einem spitzen Metalldorn versehenen Holzstabes (Lanza, Lata oder Garrote genannt) konnten die Hirten Hindernisse flink überwinden und mit Leichtigkeit selbst von meterhohen Abbrüchen springen, in dem sie an den Stäben nach unten glitten. Im unwegsamen Gelände war dies häufig die einzige Möglichkeit, den kletterfreudigen Ziegen in der Bergwelt zu folgen. Heute ist der „Salto del Pastor“ (Abb. 5/6) Teil des regionalen Brauchtums und ein beliebter Volksport mit verschiedenen „Disziplinen“ wie Präzisionsspringen oder Klippen hinunter- oder hinauflanzen. Es geht darum, Felshindernisse möglichst elegant zu überwinden. Es ist fast unglaublich und macht sprachlos, wie die Meister dieser Bewegungstechnik auf archaische Weise vom Stock gestützt in hohen Bögen von steilen Felsflanken springen oder besser gesagt schweben.
Der Bergstock in den Alpen
Die einen springen über Deichgräben, die anderen über Blockhalden. Es gibt wohl keine Gegend der Welt, in der unwegsames Gelände nicht mit Stöcken bewältigt wird. Ein langer Stock war und ist einfach ein erstklassiges Hilfsmittel, um sich im weglosen Gelände sicher fortzubewegen. So auch in den Alpen, wo man ihn allgemein Bergstock, Alpenstock oder Alpenstange nennt, wegen seiner Metallspitze auch Spornstab, Stachelstock, Stachel- oder Staxlstecken. Als Jagd- oder Pirschstock gehört er zum Erscheinungsbild eines zünftigen Waidmanns im alpinen Gelände (Abb. 7). Er dient den Jäger*innen als drittes Bein zum bewegungslosen Verharren auf der Pirsch sowie als Zielstock auch zum ruhigen Auflegen des Fernglases oder des Jagdgewehrs. Ein ikonenhaftes Gemälde zeigt Erzherzog Johann bei der Jagd am Hochschwab in der Steiermark auf einen langen Bergstock gestützt (Abb. 8). Und selbst seine durchlauchte kaiserliche Majestät Franz Joseph I. geruhten als Jäger auf einem Bergstock auszuruhen (Abb. 9).
Der Bergstock stammt aus der bäuerlichen Kultur der Bergbewohner und wurde wie vieles andere von den ersten Alpinisten aus der Arbeitswelt der Bergbauern und der Gemsjäger übernommen. Der Stock war bis in die 1860er-Jahre unangefochten das wichtigste Handwerkzeug der frühen Bergsteiger. Er diente auf vielfältige Weise als Stütze beim Rasten, zur Vermeidung von Ausrutschern beim Queren eines Hanges, als Steighilfe beim Überwinden von Felsstufen, beim Überspringen oder Durchwaten von Bächen, zum Bremsen beim Abrutschen auf Schnee (Abb. 10), Sondieren von Gletscherspalten oder Schneebrücken, Ziehen oder Schieben von Personen und, von zwei Bergführern gehalten, sogar als bewegliches Geländer für ungeübte Touristen. Das „gehende Geländer“ (barrière ambulante) ist seit dem 16. Jahrhundert überliefert. Auf der Illustration von Horace Bènèdict de Saussures Besteigung des Montblanc 1787 ist diese Sicherungstechnik gut erkennbar (Abb. 11). Sie wurde auch bei frühen Besteigungen des Großglockners angewendet (Abb. 12). Teilweise wurden Bergstöcke auch über Spalten gelegt, um diese auf „allen vieren“ zu überwinden. Von besonders Einfallsreichen wurde der Bergstock waagrecht unter die Achsel geklemmt gar auch als „Sicherungsmittel“ gegen Spaltenstürze verwendet. Eine Technik, die der US-amerikanische Bergführer und über fünfzigfache Denali-Besteiger Vern Tejas bei der ersten Solo-Winterbesteigung des Mt.McKinley in Alaska 1988 mit einer Aluminiumleiter um die Hüfte verfeinerte. Die frühen bürgerlich-städtischen Bergreisenden waren fasziniert von den Techniken und „Geheimfertigkeiten“ der Bergler im Umgang mit dem Bergstock. Die „alpenstocks“ fanden sogar Eingang in die zeitgenössische englischsprachige Alpinliteratur. Zahlreiche Gemälde geben Zeugnis vom Einsatz des Bergstocks im goldenen Zeitalter der Eroberung der Alpengipfel (Abb. 15).
Der Historiker und Ethnologe Martin Scharfe hat sich in seiner akribisch recherchierten Monographie „Berg-Sucht“ eingehend mit der Geschichte des Bergstocks befasst. Die meisten Stöcke in den Ost- und Westalpen waren zwischen 1,8 und 3 Meter lang. Bei den zunehmend anspruchsvolleren Bergtouren ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es dann immer öfter zu Situationen, in denen der Bergstock nicht mehr ausreichte. So etwa in vereisten Passagen, wo Stufen geschlagen werden mussten. Durch die Kombination mit Spitzhaue und Schaufel entstand der Langpickel, der sich ab den 1870er-Jahren ausbreitete und den Bergstock zunehmend verdrängte. Emil Zsigmondy soll die Vor- und Nachteile beider Geräte in verschiedenen alpinen Situationen gegeneinander abgewogen haben. Fotografien und Zeichnungen zeigen die beiden konkurrierenden Werkzeuge auch gleichzeitig in Gebrauch. Häufig hatten Führer „schon“ Pickel, die Geführten hingegen „noch“ Alpenstöcke. Ab den 1920er-Jahren war der Bergstock dann aus der Mode und geriet bei Bergsteigern praktisch in Vergessenheit. Mit der Verabschiedung des Bergstocks aus dem Alpinismus verschwand auch „eine kunstvolle und wohl sehr alte Alpintechnik, von der heute kaum jemand weiß“, wie Martin Scharfe den Bergstocksprung beschreibt. Eindrückliche Bilddarstellungen des alpinen Stabsprunges finden sich auf mittelalterlichen Holzschnitten von Kaiser Maximilian. Ludwig Purtscheller berichtet von Sprungleistungen von drei bis vier Meter hohen Felsabbrüchen.
Auch die am oberen Ende mit einem Haken versehene Variante des Bergstocks wurde am Ende des 19. Jahrhunderts vom Pickel verdrängt. Heute gibt es kaum noch eine Erinnerung an den Hakenstock. Damit konnte man Tritte einhauen oder sich an Felskanten oder im Eis „einhaken und anhängen“, wie es der naturverbundene Schriftsteller Adalbert Stifter in den 1840er-Jahren beschreibt. Gemsjägern und Adlernesträubern wiederum diente das Griesbeil, ein Stock mit eiserner Spitze und Widerhaken (auch Jägerstecken genannt), zum Bergsteigen und Abtransportieren erlegter Tiere.
Der Einstock im Schilauf
Bis Ende des 19. Jahrhunderts liefen Schiläufer weltweit praktisch nur mit einem Stock. Dieser wurde im Flachen teilweise auch wie eine Art Stechpaddel zum Antrieb eingesetzt. Der norwegischen Saga nach retteten zwei Birkebeiner-Schiläufer während des Bürgerkrieges 1206 den Königsohn Håkon IV. bei Kälte und Schneetreiben in einem Gewaltmarsch von Lillehammer über die Berge nach Østerdalen. Ein Speer diente ihnen zur Fortbewegung.
Auch der aufkommende alpine Schisport begann mit einem Stock. Der im heutigen Tschechien geborene Schipionier und gut trainierte Turner Mathias Zdarsky verwendete bei seiner ab 1890 im niederösterreichischen Lilienfeld entwickelten Lilienfelder Schitechnik wie die Norweger und in Anlehnung an den alpinen Bergstock einen körperlangen Schistock als Dreh-, Steuerungs-, Gleichgewichts- und Bremshilfe. Bei jeder Richtungsänderung setzte der „Vater der alpinen Schitechnik“ die Alpenlanze aus Bambusrohr vor dem Körper von der einen zur anderen Kurveninnen- bzw. Bergseite um. Zdarskys stabile Einstock-Stemmtechnik (Abb. 15), die auch im alpinen Gelände sicher einsetzbar war, unterschied sich vom Telemark der Norweger durch schwunghaftes Stemmfahren mit talseitigem Anstemmen, Körperrotation und Druck auf die Zdarsky-Lanze, wie sie der österreichische Schipapst Franz Hoppichler nannte. Zudem nützte Zdarsky die Alpenlanze zum Wenden und Aufstehen, als Schenkelsitzbremse und zum Abbremsen eines Sturzes. Schon bald setzte sich aber die vom Vorarlberger Georg Bilgeri forcierte Zweistocktechnik durch. 1930 stellten Arnold Fanck und Hannes Schneider dann in ihrem Meisterwerk „Wunder des Schneeschuhs“ fest:
Die ausschließliche Verwendung von zwei Stöcken beim Skilaufen ist heute ebenso selbstverständlich wie die Verwendung von zwei Skiern. Der „Einstock“, und zwar sowohl die mächtige „Alpenstange“ ohne Schneeteller wie auch das kleine Renommierstöckchen gehören ins alpine Museum.
Also ist ein Stock seither Schnee von gestern? Keinesfalls! Der exzentrische schwedische Olympiagoldmedaillengewinner und Schi-Ikone Gunde Svan schockierte 1985 bei der nordischen Schiweltmeisterschaft in Seefeld im Training mit einem Stock die Schiwelt und leitete mit dem Siitonenschritt die revolutionäre Skatingtechnik ein (Abb. 16). Im zentralasiatischen Altai Gebirge, neben Skandinavien eine der Geburtsregionen des Schilaufens, reitet man noch heute auf fellüberzogenen Holzlatten stehend und nach hinten-seitlich auf einen langen Stock („Tiak“) gestützt schnurgerade zu Tale. Und besonders spannend ist, dass im modernen Telemarksport die Einstocktechnik wieder Einzug gehalten hat und Cracks der Szene wie Walter Unterberg (Abb. 17) oder Marc Künkele nicht nur aus Nostalgiegründen, sondern in neuem Stil mit einem langen Stock freeriden. Der von Insidern auch „Lurk“ genannte Einstock ist nämlich als Arbeitsgerät geeignet, in rasanter Kurvenfahrt den Körper zu stabilisieren. Mit Spaß „back to the roots“.
Eine Renaissance des Bergstocks?
Die steirische Bergführerlegende Klaus Hoi musste auch erst seine eigenen Erfahrungen machen, bevor er den Nutzen des Bergstocks erkannte und schätzen lernte (Abb. 18):
„Als Jugendlicher trat ich eine Lehre bei den Landesforsten im Gesäuse an. Ich durfte meine Ausbildung inmitten einer der wildesten Gebirgslandschaften Österreichs machen und befand mich in der rauen Lebensgemeinschaft von Forstleuten, Jägern und Holzknechten. Da gab es viel zu lernen: Das Gehen und Überleben im Steilgelände, besonders bei schwierigen Bedingungen, gefrorenem Boden, Eis und Schnee. Als wichtigstes Hilfsmittel lernte ich den Umgang mit dem Stachel- oder Stieglstecken, dem etwa mannshohen, starken Haselnussstock mit eiserner Spitze. Richtig eingesetzt bildet er mit dem Körper ein stabiles Dreieck und kann im schwierigen und rutschigen Terrain einen Absturz verhindern.“
Der Bergstock hat noch lange nicht ausgedient. Vielmehr scheint er heute gerade auch unter Alpinisten wieder Anhänger zu finden. Für Sigi Hatzer aus Prägraten am Fuße des Großvenedigers ist der lange Bergstock oder Spornstab, wie er bei den Venediger Bergführern heißt, sogar zum Markenzeichen geworden.
Ich benutze ihn liebend gerne, wenn ich in den Bergen unterwegs bin, wo es technisch nicht allzu schwierig und ohne größere Klettereien abgeht.
Sigi Hatzer
Aus Haselnussholz muss er sein, denn „das ist für diesen Zweck am besten geeignet, relativ gut belastbar und biegsam. Gutes Material hält auch bei viel Benützung Jahrzehnte.“ Der Osttiroler Bergführer muss es wissen, denn er hat den höchsten Berg Salzburgs mehr als tausend Mal bestiegen (Abb. 19). Er verwendet drei bis vier Zentimeter dicke Stöcke mit einer Länge von 1,8 bis 2,3 Meter, die er beim steilen Bergabgehen noch sicher greifen kann. Rutscht man auf glattem Untergrund aus, so kann man sich am Stock auffangen, ihn zum Hang drücken und bremsen. Und auf spaltenreichen Gletschern sieht der Profi einen weiteren entscheidenden Vorteil des Bergstocks, denn „hier hat man beim Sondieren einer Gletscherspalte eine viel längere Reichweite als mit einem Pickel oder Schistock. Ebenso hat sich der Stab gut für eine Verankerung im Firn bei einer Spaltenbergung bzw. für eine Sicherung im steilen Schnee bewährt. Mittlerweile nehmen auch einige Bergführerkollegen aus den anderen Tälern wieder einen solchen Stock für die Besteigung des Großvenedigers her.“
„Wenn ich allerdings zu gewissen Trainingseinheiten starte, dann nehme ich lieber zwei Schistöcke her“, differenziert Sigi Hatzer den zielgerechten Einsatz seiner Sportgeräte. Wie beim alpinen Schilauf haben sich auch beim Bergwandern zwei leichte Trekkingstöcke durchgesetzt. Mit zwei leicht zu transportierenden Stöcken kann man auf steilen Bergwegen sehr gelenkschonend wandern und Kraftausdauer bewegungsspezifisch trainieren. Allerdings leiden Gleichgewichtsgefühl und Gehtechnik bei dauernder Verwendung zweier Stöcke. Um den Gleichgewichtssinn und die Trittsicherheit zu erhalten, sollten Trekkingstöcke daher nur verwendet werden, wenn sie mit beiden Armen bergauf wirklich effektiv als Zug- und bergab als Stützhilfe zur Gewichtsentlastung und Schonung der Gelenke genützt und nicht nur pro forma spazieren getragen werden. Ein gewisses Risiko mancher Teleskopstöcke ist das plötzliche Zusammenrutschen bei voller Belastung, was Sturzgefahr bedeuten kann. Tragische Unfälle geschahen, wenn Teleskopstöcke bei Kletterstellen verwendet wurden, um einen Nachfolgenden heraufzuziehen, und plötzlich ein Segment bei Zugbelastung herausrutschte. Auch die zusätzlich notwendige Konzentration und Stolpergefahr mit zwei Stöcken ist nicht zu unterschätzen. Nicht selten sind Zweistockgeher auf anspruchsvollen Bergwegen schlichtweg überfordert.
Warum verwenden Bergwanderer heute in der Regel dennoch lieber ein Paar Trekkingstöcke? „Wahrscheinlich ist der schlichte Bergstock einfach zu wenig modern und cool. Aber schlicht heißt noch lange nicht schlecht“, bringt es Klaus Hoi auf den Punkt.
Als Bergführer war mir das Thema Bergstock ein Anliegen. Daher habe ich auch stets die Sicherheitstechnik des „richtigen Stockeinsatzes“ unterrichtet: Als Pickelersatz, zum Sichern mit Seil im Schnee, als Steighilfe zur Überwindung einer Randkluft und sogar beim Schifahren die in Einstocktechnik mit doppelt gehalteten Schistöcke bei heiklen Passagen.
Klaus Hoi
Ich kann mich noch lebhaft an meine eigene Bergführerausbildung erinnern, bei der uns Ausbildner Franz Kröll geschmeidig wie eine Katze übers Schrofengelände schleichend die richtige Schwerpunktverlagerung sowie die Vor- und Nachteile der verschiedenen Gehtechniken mit Trekkingstöcken demonstrierte und üben ließ. Auch mit zwei Trekkingstöcken ist die „Einstocktechnik“ beim Queren im steilen Schnee oder Gras vorteilhaft, während sie senkrecht gehalten oft talseitig zu kurz oder bergseitig zu lang sind und kürzer gefasst werden müssen. Leider wird die alpine Einstock-Stütztechnik mit parallel gehaltenen Trekkingstöcken kaum mehr vermittelt und gelehrt, obwohl manche Hersteller dafür durchaus geeignetes, robustes Material und sogar Stockteller mit Einkerbungen zum Zusammenklippen als Stockpaar vorsehen.
Auf die richtige Technik kommt es an
Klassische Holzbergstöcke werden wie eh und je aus zäh-elastischem Haselnuss- und manchmal auch aus Eschenholz gefertigt. Die Herstellung nach Kärntner Methode von Oswald Lassnig aus Rosegg am Fuße der Karawanken ist eine echte Handwerkskunst und erfordert Erfahrung, Zeit und Muße. In den Wintermonaten sucht man einen passenden Haselnussstock und schneidet kleine Einkerbungen in den glatten Stamm, aus denen über den Sommer knorrige Narben als Griffhilfe wachsen. Im nächsten Frühjahr wird geerntet. Der entrindete Stab trocknet an einem luftigen, schattigen Ort. Meisterlich ist das Geradestrecken mit Wasserdampf und senkrechtem Trockenhängen mittels Zuggewicht. Die Trocknungsphase kann mehrere Monate dauern. Leinöl trägt zur Aushärtung bei und verbessert die Materialeigenschaften. Zum Schluss wird eine Metallspitze stabil und feuchtigkeitsbeständig angebracht. Um sich auf Fels geräuscharm zu bewegen, braucht es eine Gummikappe oder Gummispitze. Und wem das alles zu aufwändig ist: Die Jagdindustrie hat sich längst der Bergstöcke professionell angenommen. Neben traditionellen Holzstöcken gibt es heute auch zerlegbare Stöcke und solche aus Leichtmetall, aus glasfaserverstärktem Kunststoffgewebe oder besonders leicht und stabil sogar aus Carbon und Titan. Damit sind auch Bedenken wegen Gewicht, Sperrigkeit beim Transport oder antiquiertem Erscheinungsbild von Bergstöcken eigentlich kein Thema mehr.
Wie vor über 200 Jahren ist der Bergstock auch heute noch ein multifunktionell einsetzbares Hilfsmittel im unwegsamen alpinen Gelände abseits gebahnter Bergwege. Die richtige Bewegungstechnik vorausgesetzt dienen moderne Sportbergstöcke, wie der Mountrainer, nicht nur zur Erhöhung der Stabilität und Sicherheit und zur Entlastung der Kniegelenke, sondern auch als Trainingsgerät. Aufgrund seiner Ausführung ist ein Bergstock ja wesentlich stabiler und belastbarer als leichte Trekkingstöcke. Beim Bergabgehen gibt es je nach Gelände und Stocklänge unterschiedliche Bewegungstechniken (Abb. 20). Es bedarf einiger Übung und Vertrauen, den langen Stock weit vor den Füßen sicher zu platzieren und dann frontal nach vorne gestützt mit den Händen an ihm hinabzugleiten und mit jedem Stockeinsatz gleich mehrere Schritte knieentlastet abzusteigen, wie es Frederic König mit dem Easymountainstick demonstriert (Abb. 21). Durch den starken Aufstützeffekt und die Anspannung der Arm-, Schulter- und Rumpfmuskulatur wird Bergwandern mit Bergstock zum „Oberkörpersport“. Gehtechnik und Handhabung müssen aber geübt werden und in Fleisch und Blut übergehen.
Ein Wegbereiter der neuen Bergstockphilosophie und alpinen Trittschule war der 2014 allzu früh verstorbene Sportpädagoge, Schilehrer und Trainer Josef Schmied aus Ebensee.
Michael Larcher konnte den Erfinder des blitzartig längenverstellbaren und sehr variabel einsetzbaren Mountrainers (Abb. 22), den heute sein Sohn Wolfgang mit großer Begeisterung vertreibt, noch interviewen:
„Hebeln, Drücken, Stemmen, Stützen, Ziehen, Körperspannen sind körperliche Tätigkeiten, die gegen bzw. mit dem Stock ausgeführt werden. Die Oberkörperbelastung führt zur willkommenen Unterkörperentlastung.“
Michael Larcher
Das Bergwandern wird so fast zum Turnen am Berg. Die Vorteile der Bergstocktechnik sah der innovative Querdenker und Quergeher mannigfach:„Einbeziehung der Oberkörpermuskulatur, enorme Knieentlastung, effektive Gelenkschonung, kein Verlust des Gleichgewichtssinns, maximale Sicherheit, das Stolpern kann man beinahe ausschließen und bei Bedarf hat man eine Hand frei.“ Eine beinahe therapeutische und durchaus nicht unästhetische Bewegungsweise, die Spaß macht und Neugierde weckt, aber offenbar auch auf Unverständnis stößt, denn „über facebook gibt es manchmal Gelächter und geringe Wertschätzung. Die Kommentare zeugen aber nur von völliger Unkenntnis der Materie.“ Diese brachten den überzeugten Bergstockgeher natürlich nicht vom Weg ab, eine Lanze für den Bergstock zu brechen: „Ich staunte, welches Terrain ich da spielend bewältigte. Im abschüssigen Gelände fühlte ich Kraft und Selbstbewusstsein. Es schien, als wollte mir der Stock sagen: Gehe, steige, springe und vergiss deine Probleme – ich bin im Stande, mit dir noch Berge zu versetzen.“
Komperdell Trekkingstock Carbon Summit FXP4 Vario (1)
handgeschmiedeter, 120 cm langer Führerpickel der Jahrhundertwende von Johann Hofer Fulpmes (2),
Grivel Mont Blanc Bergstock (3),
Haselnussstock Marke Eigenbau (4),
Gastrock Haselnussstock (5)
verleimter Eschen-Wengeholzstock (6)
Waidtool Carbonstock (7)
Mountrainer (8)
Easymountainstick (9)
HEP-Carbonstock (10)
Literatur
Fanck, A., Schneider, H. (1930): Wunder des Schneeschuhs. Ein System des richtigen Skilaufens und seine Anwendung im alpinen Geländelauf. Hamburg, 298 S.
Fink, C., Gföller, P., Hoser, C. (2018): Gelenkfit in die Berge. Wandern mit Gelenkbeschwerden
Hoi, K. (1999): Die Geschichte vom Bergstock, In: Land der Berge, H. 6, S. 76-77
Köhler, I. (2021): Salto del Pastor – der Hirtensprung, www.sunnyfuerte.com
Larcher, M. (2014): Der Bergstock. Die Wiederentdeckung eines treuen Begleiters. In: Bergauf, H. 3, S. 54-56
Leitner, E. (2004): Ein Stab als Stütze. In: Kirchenzeitung der Diözese Linz, Ausg. 43
Laßnig, O. (1979 und 1980): Der Berg- und Gabelstock, seine Erzeugung und Verwendung im Revier. In: Mitteilungsblatt des Kärntner Jagdaufseher-Verbandes
Scharfe, M. (2007): Berg-Sucht. Eine Kulturgeschichte des frühen Alpinismus, Wien, 382 S.