Stressreduktion durch Bergwandern
Die Studie wurde vom Bayerischen Kuratorium für Alpine Sicherheit e.V. gefördert.
Einleitung
Im digitalen Zeitalter ist Stress ein stark wachsendes Phänomen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Stress bereits als „eines der größten Gesundheitsrisiken des 21. Jahrhunderts“. Einen eindrucksvollen Beleg lieferte die University of Wisconsin in einer repräsentativen Studie mit fast 30.000 Amerikanern. Sie wurden vor einigen Jahren gefragt, wie viel Stress sie im Vorjahr erlebt hatten.
Inzwischen ermittelten die Forscher die Todesfälle unter den Befragten. Das Sterberisiko erhöhte sich um 43 Prozent bei Menschen, denen der Stress zu schaffen machte (Retzbach 2018).
Die wissenschaftliche Stressforschung begann vor fast 100 Jahren. Der Begriff „Stress“ wurde von dem österreichisch-kanadischen Arzt Hans Selye geprägt, der in seinem bio-medizinischen Stressmodell einst davon ausging, dass unser Organismus auf Anforderungen aller Art stets einheitlich reagiert. Später differenzierte er zwischen Eu- und Disstress, gutem und schlechtem Stress (Selye 1950). So näherte er sich dem psycho-sozialen Stressmodell von Lazarus (1966) an, nach dem Individuen auf Stress mit unterschiedlichen Bewältigungsstrategien reagieren, je nachdem ob sie im Stressor eher eine Bedrohung oder eine Herausforderung erkennen.
Wenn Letzteres der Fall ist, gibt es zwei Wege des Umgangs und der Bewältigung: Während wir beim handlungsorientierten Coping versuchen, den Stressor direkt zu bekämpfen, geht es beim emotionsorientierten Coping eher um eine Veränderung der Einstellung und Gefühle.
Die Wirkungen von Stress sind nicht nur gesundheitlich, sondern auch ökonomisch gewaltig. So wurde im deutschen Regierungsbericht 2018 festgestellt, dass mit zunehmendem Stress einhergehende Phänomene wie Burnout oder Depressionen für 107 Millionen Fehltage verantwortlich sind, was bereits zu Produktionsausfällen in Höhe von über 12 Milliarden Euro führte – das sind neue „Rekordwerte“.
Die Diagnose und die Folgen könnten kaum gewichtiger sein. Doch wo liegen Ursachen für die Dynamik von wachsendem Stress, der sich wie eine Epidemie auszubreiten scheint? Eine Antwort, die immer häufiger von Betroffenen genannt wird, ist die rasante Digitalisierung, die sowohl zu Überforderungen am Arbeitsplatz als auch privat durch die ständige Erreichbarkeit führt. Zusammen mit dem Megatrend der Ökonomisierung bildet die Digitalisierung eine unheilige Allianz. So münden viele Gegenwartsanalysen in der Diagnose einer „kranken Gesellschaft“ (Bemmer 2018). All dies wird durch die Folgen der Corona-Krise natürlich nochmals signifikant verschärft, die in ihrer ganzen Tragweite heute noch kaum absehbar sind. Können Wissenschaften uns Antworten geben, um brisanten gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenzuwirken, und uns Lösungswege offerieren, die unsere Gesundheit bewahren?
Auf der Basis der vom Deutschen Alpenverein (DAV) in Kooperation mit der Deutschen Hochschule für Gesundheit und Sport (DHGS) in Auftrag gegebenen Längsschnittstudie „Stressreduktion durch Bergwandern“ (2018–2019) wurde Bergwandern als wirksame verhaltenspräventive Methode zur Gesundheitsförderung wissenschaftlich untersucht und erstmals in seiner nachhaltigen Wirkung analysiert. Gegenstand der wissenschaftlichen Untersuchung war die Frage, ob Bergwandern in Verbindung mit einem gezielten Bergcoaching – in regelmäßigen Abständen ausgeführt – eine nachweisbare positive Wirkung auf die Gesundheit und Lebensqualität hat – insbesondere bei Menschen, die unter starken Stressbelastungen stehen.
Gesundheitswissenschaftlich sind die Zusammenhänge von Gesundheit und Sport bzw. Bewegung bereits gut erforscht. So existieren inzwischen zahlreiche Nachweise über positive Effekte auf die physische und psychische Gesundheit durch Bewegung, welche in der Empfehlung eines körperlich-aktiven Lebens münden; ein Lebensstil, der als eine wichtige Säule zur individuellen Stärkung der Gesundheit zählt. Auch gesundheitspsychologisch gibt es nur wenige Felder, in denen so positive gesundheitliche Effekte belegt werden konnten wie durch Sport und körperliche Aktivität (vgl. Lippke & Vögele 2006).
Ausgehend von der Beobachtung, dass zu den Kennzeichen des Alltags in Industriegesellschaften ein „Zuwenig an körperlicher Belastung und ein Zuviel an psychischer Belastung“ (Abele & Brehm 1990) gehört, sind besonders die Bewegungsformen hilfreich, die ganzheitlich wirken. Schon lange werden sportliche Befindlichkeitssteigerungen als „feel better phenomenon“ und „runner’s high“ diskutiert (Sachs 1984). Mit Ersterem wurde das gute Gefühl bezeichnet, das nach einer anstrengenden körperlichen Aktivität auftreten kann. Mit Letzterem wurden Phasen von euphorischen Zuständen beschrieben, die sich im Laufe einer anstrengenden Ausdauerbelastung (vor allem längeres Laufen) einstellen können.
Grundsätzlich gilt, dass die gesundheitsfördernde Wirkung von Bewegung im Freien rein körperlich allein durch die frische Luft tendenziell noch stärker ist. Die zusätzliche psychische Wirkung durch ein Naturerleben wurde lange unterschätzt. Doch seit einiger Zeit setzt sich die Erkenntnis von potenzierten positiven Wirkungen durch Bewegung in der Natur durch. Ein sehr beeindruckendes Beispiel sind die Forschungen rund um das „Waldbaden“ als Naturtherapie in Japan, vor allem durch Yoshifumi Miyazaki (2018), der in langjährigen Studien belegen konnte, dass ein mehrstündiger angeleiteter Waldspaziergang nachhaltig positive Auswirkungen hat. So liegt es nahe, über die gesundheitlichen Wirkungen des Wanderns in der Natur und insbesondere über das Bergwandern zu forschen, das auch noch den Mehrwert der Höhe bietet.
Ein Rückblick auf die bisherigen Forschungen im 21. Jahrhundert offenbart, dass es noch nicht allzu viele Studien auf diesem Gebiet gibt, doch die meisten der wenigen Untersuchungen aus Österreich kommen. Zu den Pionierarbeiten gehört „AMAS 2000“ („Austrian Moderate Altitude Study“), eine österreichische Höhenstudie mit 85 übergewichtigen Männern in Salzburg unter der wissenschaftlichen Leitung des Internisten Egon Humpeler durchgeführt, um zu prüfen, wie sich ein dreiwöchiger Aufenthalt auf 1.700 Metern Höhe auf die Gesundheit auswirkt. Es kam zu einer Reduzierung des Gewichts um durchschnittlich drei Kilo sowie zu physischen und psychischen Effekten. Anno 2008 folgte durch das Tiroler Institut für Verhaltensmedizin und Prävention „AMAS II“, wieder unter der Leitung von Humpeler. Im Zentrum stand diesmal die Frage, wie sich ein einwöchiger Aufenthalt in 1.700 Metern Höhe mit dem Wandern in Schneeschuhen auswirkt. Das Angebot nahmen 13 gesunde Personen wahr. Schon nach wenigen Tagen verbesserten sich die körperlichen und psychischen Werte der Teilnehmer.
Schließlich kann als Meilenstein eine weitere Studie aus Österreich gewürdigt werden. Im Jahr 2016 gelang es einem österreichischen Forscherteam um Einwanger, Hartl, Kopp und Niedermeier von den Universitäten Salzburg und Innsbruck in Kooperation mit dem Alpenverein in Österreich in der Studie „Effekte des Bergsports auf Lebensqualität und Gesundheit“, die positiven Effekte des Bergwanderns im Vergleich zu einer Laufbandgruppe in einem Fitnessstudio zu belegen. An der Querschnittstudie nahmen 42 Personen teil. Eine Bergwanderung von drei Stunden reichte aus, um signifikant positive Effekte bei den psychischen Dimensionen „Gelassenheit“, „Aktivierung“ und „Stimmung“ zu erzielen und die Faktoren „Energielosigkeit“ und „Angst“ zu verringern. Bei den physiologischen Parametern sank der Blutdruck während der Interventionsdauer ab, während die Herzratenvariabilität anstieg. Ausblickend zogen die Forscher folgendes Fazit:
„Prospektive Longitudinalstudien werden benötigt, um die langfristigen Auswirkungen von Bergsport auf Lebensqualität und Gesundheit fundiert zu untersuchen.“ Niedermeier u.a. 2016, 22
An dieser Stelle setzt unsere Studie an.
Methodik
Ausgehend von den bisherigen Forschungsergebnissen stellten wir uns die folgenden drei Kernfragen:
- Bergwandern kann zu einer kurzfristigen Stressreduktion führen, aber wirkt es auch langfristig?
- Bergwandern kann physisch positive Folgen für die Gesundheit haben, aber gilt dies ebenso auch psychisch?
- Bergwandern kann negative Phänomene reduzieren (z.B. Stress), aber fördert es auch Phänomene, die positiv sind?
Um langfristige Effekte in einer Veränderungsmessung beim Bergwandern feststellen zu können, wurde mit einer gleichbleibenden Probandengruppe von 24 Personen über die Dauer eines Jahres jeweils eine Bergwanderung im Herbst, im Winter (Schneeschuhtour), im Frühjahr und Sommer von 2018 bis 2019 in den Bayerischen Alpen durchgeführt. Die Untersuchung der Teilnehmer erfolgte in der Feldstudie zu vier Messzeitpunkten. Die Auswahl der Bergwanderungen richtete sich nach den Kriterien der „BergwanderCard“ des DAV (2016). Alle Unternehmungen wurden in der Kategorie „Einfache Bergwege“ durchgeführt. Zusätzlich erfolgte eine Baseline- und Abschlussmessung zwei Monate vor und nach Beendigung des Feldforschungsprojekts. Es wurden zu jeder Jahreszeit vier Wandertermine angeboten, um eine durchschnittliche Gruppenstärke von ca. sechs Teilnehmern pro Wanderung zu erreichen. Die Probanden erhielten keine Aufwandsentschädigung, die Ausrüstung im Winter und die Reisekosten am Wandertag wurden vom DAV übernommen.
Der Weg zu dem Ziel, etwas über potenzielle Veränderungsprozesse beim Wandern zu erfahren, führte über ein multimethodisches Vorgehen im Sinne einer Patchwork-Methodik (vgl. Sohr 2000). Um Gesundheit ganzheitlich zu erfassen, wählten wir zum einen drei physische Instrumente aus: Cortisol-Proben zur Stressmessung, Pulsmessung zur Herzfrequenz und Messung des Blutdrucks. Zum anderen setzten wir bewährte und eigene Skalen in Fragebögen mit etwa 100 Fragen ein. Der Fragebogen sollte nach jeder Wanderung und ein Kurz-Fragebogen am Morgen davor ausgefüllt werden. Hinzu kam noch ein Fragebogen zum sportlichen Verhalten zwischen den Wanderungen.
Neben den quantitativen Verfahren, mit denen wir ein großes Zahlenmaterial generierten, setzten wir auch zwei qualitative Methoden ein, um das Erleben der Teilnehmer zusätzlich in verbaler Form abzubilden. Hierzu gehörten einerseits Interviews am Ende des Wanderjahres und andererseits sog. Berg-Tagebücher, welche die Akteure am Beginn des Jahres mit der Einladung geschenkt bekamen, ihre Erfahrungen zu notieren. Zur Rekrutierung einer Stichprobe schalteten DAV und DHGS im August 2018 auf ihren Homepages Ausschreibungen zur Teilnahme am Projekt, ferner gab es noch eine Anzeige in größeren Zeitungen. Obwohl die Bewerbung das Ausfüllen eines Vor-Fragebogens voraussetzte, führte dies zu einer beachtlichen Nachfrage von über 1.000 Bewerbungen motivierter Personen aus ganz Deutschland.
Bedingungen zur Teilnahme waren u.a. keine bis geringe Bergwandererfahrungen, die körperliche Fähigkeit, eine Bergwanderung bis maximal 900 Höhenmeter gehen zu können, keine akuten oder chronischen Krankheiten sowie Volljährigkeit. Bei der Auswahl wurde kein Unterschied zwischen Geschlecht, Bildung, Einkommen, Familienstand, Alter, Nationalität oder Religion gemacht. Es gab drei Kriterien: Stresserleben von mindestens 80 bis 90 Prozent im Fragebogen, Wohnort im Großraum München (Ausnahmen bei sehr großer Motivation) und eine ausgeglichene Geschlechtsverteilung.
Im Herbst 2018 gingen 24 Personen mit einem Durchschnittsalter von 41 Jahren an den Start. Das berufliche Spektrum war vielfältig. Der jüngste Wanderer war ein 23-jähriger Student, der älteste ein 64-jähriger pensionierter Polizist. Am Ende der vier Tageswanderungen lagen von 20 Personen (elf Frauen und neun Männer) vollständige Daten zu allen Messzeitpunkten vor, die in die Auswertung eingingen. Die Nacherhebung zwei Monate nach der letzten Wanderung im Herbst 2019 bildete auch den feierlichen Abschluss der Studie im Alpinen DAV-Museum auf der Münchner Praterinsel.
Parallel zur Experimentalgruppe gab es auch eine studentische Stichprobe mit 24 Studierenden aus Berlin, die quasi als Kontrollgruppe fungierte. Hier reichte die Altersspanne von 18 bis 45 Jahren, das Durchschnittsalter betrug 24 Jahre. Auch wenn die studentische Gruppe soziodemographisch nicht im engeren Sinne vergleichbar war, bildete sie für unsere Wandergruppe ein starkes Gegenüber mit einem sehr sportlichen Lebensstil und weitgehend überdurchschnittlich guten Gesundheitswerten, die sich erwartungsgemäß über das Jahr als sehr konstant erwiesen.
Methodisches „Herzstück“ für die Wander-Gruppe war ein sog. „Berg-Coaching“. So wurde die Gruppe von einem erfahrenen Wanderführer begleitet, der außerdem eine Coaching-Ausbildung hat, um während der Wanderungen auch einige Übungen zur Sensibilisierung für die Schönheit der Natur anzubieten, z.B. die Übung „Achtsamkeit und Stille“, die zu einem achtsamen Gehen einlädt.
Ergebnisse
Nachfolgend möchten wir zentrale Ergebnisse präsentieren (ausführlich Sohr & Abbattista 2020), als exemplarische Antworten auf unsere grundlegenden Fragen.
Das erste Beispiel illustriert das Zusammenspiel von kurzfristigen und langfristigen Wirkungen des Bergwanderns. Abb. 1 zeigt die Entwicklung der durchschnittlichen Blutdruckwerte der Wanderer:
Der Blutdruck wurde zu allen vier Wandertagen jeweils morgens, mittags und nachmittags gemessen: Morgens vor der Wanderung lagen die Durchschnittswerte immer leicht über der Norm, vor allem vor der allerersten Bergwanderung, quasi der Ausgangswert. Er betrug 146/95 betrug, war also jenseits des international anerkannten Grenzwertes, ab dem eine medikamentöse Behandlung notwendig wäre.
Beachtlich ist der Befund, dass die erhöhten Blutdruckwerte nicht nur im Tagesverlauf zurückgingen, sondern auch im Jahresverlauf: Lagen sie im Herbst und Winter noch leicht über der Norm, mündeten sie im Frühling und Sommer in den Bereich, der laut der WHO als optimal gilt.
Ähnliche Entwicklungen gibt es bei vielen anderen Variablen, u.a. bei der Reduzierung von Stress und anderen Beschwerden. Auch hier zeigt sich, dass schon eine Wanderung bereits zu Besserungen führt, die im Laufe eines Wanderjahres immer mehr durchschlagen. Während sich die Cortisol-Messungen aufgrund einiger Messprobleme eher individuell als kollektiv auswerten ließen, waren die Ergebnisse der Fragebögen hinsichtlich der Reduzierung von Stresssymptomen und anderen Beschwerden sehr deutlich. So gingen im Laufe des Jahres z.B. die artikulierten Ausprägungen von Atembeschwerden von 88 auf 5 Prozent und Herzbeschwerden von 84 auf 4 Prozent zurück.
Abb. 2 zeigt die Entwicklung von Stresssymptomen auf Basis einer 13 Items umfassenden vierstufigen Skala (nach Satow 2012):
Während die Stresssymptome der Kontrollgruppe auf konstant niedrigem Niveau blieben, gingen die Symptome bei den Wanderern, die zuvor einen Wert aufwiesen, welcher dem Durchschnitt der Bevölkerung entspricht (2.6), im Laufe der Exkursionen kontinuierlich zurück: Von 2.6 auf 2.1 (nach der Herbstwanderung) auf 2.0 (nach der Winterwanderung) auf 1.7 (nach der Frühlingswanderung) auf 1.6 (nach der Sommerwanderung) – ein Wert, der einen ganzen Punkt unter dem Ausgangswert lag und auch zwei Monate nach der letzten Wanderung noch erhalten blieb. Dabei erwies sich die Reduktion der Stresssymptome als höchst signifikant (auf dem Promille-Niveau von p<.001).
Zusammenfassend …
… lässt sich also festhalten: Die multidimensionalen physischen und psychischen Stressmessungen der Studie belegen die mehr oder weniger stressreduzierenden Effekte des Bergwanderns. Dabei ist besonders die Senkung des Blutdrucks und die Reduzierung von Stresssymptomen hervorzuheben.
Außer den physischen Veränderungen kam es auch zu einer ganzen Reihe von psychischen Effekten. Als Beispiel bietet sich die Entwicklung der Selbstwirksamkeit (gemessen auf der traditionellen Skala von Jerusalem & Schwarzer 1986, mit zehn Items und einer Skalierung von 0–4). Dass das Vertrauen in die eigene Selbstwirksamkeit nach einer erfolgreichen Bergbesteigung wachsen könnte, war eine naheliegende Hypothese. Zwei Monate vor ihrer ersten Wanderung hatten die Untersuchten einen sehr niedrigen Ausgangswert von 2.4, der weit unter dem Durchschnitt der Bevölkerung von 2.9 lag.
Im Laufe der vier Bergwanderungen stieg die Selbstwirksamkeit kontinuierlich an: Bereits nach der Herbstwanderung lag sie schon bei 2.8, nach der Winterwanderung bei 2.9, nach der Frühlingswanderung bei 3.0 – ein Wert, der auch nach der Sommerwanderung erreicht werden konnte. Innerhalb eines Jahres kam es also zu einem signifikanten Anstieg der Selbstwirksamkeit, der sich schon nach der ersten Wanderung andeutete. Zum Zeitpunkt der Nacherhebung zwei Monate nach der letzten Wanderung hatten die Akteure sogar eine Selbstwirksamkeitserwartung von 3.1 – nicht nur eine höchst signifikante Steigerung (p<.001) gegenüber ihrem Ausgangsniveau, sondern sogar leicht über dem Bevölkerungsschnitt.
Zum Vergleich: Die Selbstwirksamkeit der Kontrollgruppe blieb im Wanderjahr praktisch konstant, sie endete bei 3.0 (in der Prüfungszeit). Nach einem Jahr wurden die Studierenden von den Bergwanderern in ihrer Selbstwirksamkeitserwartung nicht nur eingeholt, sondern erstmals überholt. Das erfolgreiche Erklimmen von Bergen trägt also auch zur Steigerung der Selbstwirksamkeit bei und damit zu einer Schlüsselvariable zum Gesundheitsverhalten.
Neben den nachhaltigen und ganzheitlichen Effekten widmen wir uns schließlich noch exemplarisch einer typischen Variablen der Positiven Psychologie, dem sog. Flow-Erleben (Csikszentmihalyi 1975). Auch hier lag die Hypothese nahe, dass das Bergwandern zu positiven „Fließ-Zuständen“ in der eigenen Wahrnehmung führen könnte. Abb. 4 zeigt die Entwicklung des Flow-Erlebens: Visualisiert erkennen wir eine auch für andere Variablen typische Verlaufskurve:
Ausgehend von einem niedrigen Ausgangswert (34 Prozent) steigt das Flow-Erleben mit jeder Wanderung an, wobei die Rückfallquoten nach jeder Wanderung geringer werden. Nach der finalen Wanderung liegt das Flow-Niveau bei 59 Prozent und fällt auch im Alltag nicht mehr unter 50 Prozent. Darüber hinaus gab es jede Menge weitere positive Effekte nach einem Jahr Bergwandern, u.a. in den Bereichen Achtsamkeit, Demut, Ehrfurcht, Gelassenheit, Lebenszufriedenheit und Optimismus. Viele Wanderer hatten so viel Freude gefunden, dass sie im Laufe des Jahres auch einen sportiveren Lebensstil entwickelten (mit eigenen Wanderungen), sodass Langzeiteffekte wahrscheinlich sind.
Diskussion
Die zweijährige Forschungsarbeit schließen wir mit einem Blick aus der Vogelperspektive und dem Ziel einer kritischen Würdigung.
Methodisch sind Optimierungsmöglichkeiten in jeder Studie prinzipiell grenzenlos. In unserem Fall ließe sich z.B. eine Randomisierung der Stichprobe im Sinne der Vergleichbarkeit wünschen. Wer selbst schon einmal in der Feldforschung tätig war, wird jedoch wissen, dass in diesem Kontext „Labor-Bedingungen“ eine Illusion sind, besonders wenn wir über einen langen Zeitraum forschen. Wenn wir nicht nur über, sondern auch mit Menschen forschen, sind natürlich viele „Störvariablen“ möglich, die wir nicht kontrollieren können (von der Fähigkeit, zu einer bestimmten Uhrzeit in den eigenen vier Wänden eine Cortisol-Probe zu nehmen, bis zu persönlichen Lebensereignissen der Teilnehmer zwischen den Messzeitpunkten), welche die „Perfektion“ von Befunden limitiert.
Auch statistisch könnte man noch viele weitere Analysen tätigen, die allerdings bei kleinen Stichproben nur bedingt sinnvoll erscheinen, wenn sie kein Selbstzweck sein sollen. Wichtiger war es uns, auch qualitativ zu forschen, um Ergebnisrichtungen zu validieren. Methodisch bietet die Studie diverse Horizonterweiterungen, u.a. durch das Forschungsdesign über mehrere Messzeitpunkte mit einem Beobachtungszeitraum, der sich über ein Jahr erstreckte, sowie durch den multimethodischen Ansatz in quantitativer und qualitativer Sicht. Inhaltlich liefert die Studie eine Fülle spannender Ergebnisse, auch hier mit einer Erweiterung bisheriger Einsichten in Richtung Nachhaltigkeit, Ganzheitlichkeit und positiver Zusatzeffekte.
Und praktisch inspiriert die Studie schließlich durch das verstärkende Element „Berg-Coaching“ eine weitere Innovation mit attraktiven Optionen zur weiteren Forschung und Entwicklung anwendungsorientierter Programme. Darüber hinaus würden wir uns sehr freuen, zukünftige Forscherteams zu animieren, ähnliche Projekte zu praktizieren. Unabhängig davon stellt sich die Frage, was mit dem generierten Wissen passiert, um in der Praxis nachhaltig zu wirken.
Wie könnten die Ergebnisse dieser Studie zum Wohle der Gesundheit vieler Menschen genutzt werden? In seinem Leitfaden für Prävention, § 20 Abs. 2 Sozialgesetzbuch V (SGB V), legt der GKV-Spitzenverband einige Handlungsfelder und Kriterien für Leistungen in der Primärprävention der Gesundheitsförderung fest. Hierbei werden Maßnahmen gefördert und finanziell bezuschusst, welche die Versicherten beim Schutz vor Krankheit und bei der Förderung von Gesundheit stärken. Erklärtes Ziel ist es, Lebensqualität und Leistungsfähigkeit der Menschen langfristig zu fördern, unabhängig vom Alter, Geschlecht oder sozialer Herkunft. Über geprüfte Interventionen sollen gesundheitliche Potenziale und Ressourcen der Versicherten gestärkt werden (GKV 2018). Die Befunde sind so offenkundig, wie es DHGS-Präsident Binninger zum Abschluss-Event der Studie beim Blick in die Wanderrunde formulierte: „Sie sind zwar ein Jahr älter geworden, aber Sie sehen ein Jahr jünger aus!“
Wandern kann Wunder wirken, umso mehr bei Menschen, die von einem Berg-Coach begleitet werden, der sie für die Schönheiten der Natur sensibilisiert und dafür sorgt, dass sie nicht wie gewohnt im Schnitt alle 18 Minuten auf ihr Smartphone starren (Fischhaber & Hauck 2017). So wäre eine kollektive Einladung zur „Natur-Therapie“ des Bergwanderns wohl die beste präventive Gesundheitsreform, nebenbei auch die natürlichste und umweltfreundlichste Art der Fortbewegung, zurück zu den Wurzeln, wortwörtlich gemäß einem Franz Kafka zugeschriebenen Satz: „Wege entstehen dadurch, dass man sie geht.“
Literatur
- Abele, A. & Brehm, W. (1990): Sportliche Aktivität als gesundheitsbezogenes Handeln: Auswirkungen, Voraussetzungen und Förderungsmöglichkeiten. In: R. Schwarzer (Hrsg.), Gesundheitspsychologie – ein Lehrbuch, 131–150, Göttingen.
- Bemmer, A. (2018): Kranke Gesellschaft. (Aufruf am 11.12.19).
- Brähmer, R. (2007): Gesundheitsstudie Wandern. Deutsches Wanderinstitut e.V.
- Csikszentmihalyi, M. (1975): Das Flow-Erlebnis. Stuttgart.
- Niedermeier, M.; Einwanger, J.; Hartl, A. & Kopp, M. (2016): Effekte des Bergsports auf Lebensqualität und Gesundheit. In: Österreichischer Alpenverein (Hrsg.): Bergsport & Gesundheit, 11–24. Innsbruck: Österreichischer Alpenverein.
- Fischhaber, A. & Hauck, M. (2017): Täglich 88-mal aufs Smartphone gucken. Wir sind im digitalen Dauer-Stress. Das ginge aber auch ohne. (Aufruf am 19.12.2019).
- GKV-Spitzenverband (2018). Leitfaden Prävention Handlungsfelder und Kriterien nach § 20 Abs. 2 SGB V. Berlin.
- Jerusalem, M. & Schwarzer, R. (1986): Selbstwirksamkeit. In: R. Schwarzer (Hrsg.): Skalen zur Befindlichkeit und Persönlichkeit, 15–28, Berlin.
- Lazarus, R.S. (1966): Psychological stress and the coping process. New York.
- Lippke, S. & Vögele, C. (2006): Sport und körperliche Aktivität. In: B. Renneberg & P. Hammelstein (Hrsg.), Gesundheitspsychologie, 195-216, Berlin.
- Miyazaki, Y. (2018): Shinrin Yoku Heilsames Waldbaden. München.
- Retzbach, J. (2018): Was hilft gegen Stress? (Aufruf am 11.12.19).
- Sachs, M.L. (1984): Psychological well-being and vigorous physical activity. In: J. Silva & R. Weinberg (Hg.): Psychological foundations of sport, 435-444, Champaign/Illinois.
- Satow, L. (2012): Stress- und Coping-Inventar (www.drsatow.de).
- Selye, H. (1950): The physiology and pathology of exposure to stress. Montreal.
- Sohr, S. (1997): Ökologisches Gewissen. Die Zukunft der Erde aus der Perspektive von Kindern, Jugendlichen und anderen Experten. Baden-Baden.
- Sohr, S. & Abbattista, T. (2020): Studie „Stressreduktion durch Bergwandern“. DAV.