Steilwandskifahren: Nichts Neues – oder doch?
Im ersten Teil dieses Zweiteilers in bergundsteigen #109 (4/19) ging es um die Anfänge des Steilwandskifahrens. Einige der Protagonisten wurden kurz vorgestellt und eine sehr grobe Zusammenfassung von über 50 Jahren Entwicklung gegeben. Aus Sicht des Autors hat sich dann ab ungefähr 1985 bis etwa 2005 wenig wirklich „Neues“ getan. Es wurde schlicht alles befahren, wo Schnee liegen geblieben ist, und ein paar haben sich in die richtig hohen Berge gewagt.
Nichts Neues – oder doch?
Und auch das, wo eigentlich kein Schnee lag, wurde irgendwie gemacht – etwa als Jean-Marc Boivin über den Schneefleck an der Petit Dru fuhr: Erst sprang er mit einem Gleitschirm vom Gipfel, landete, zog kurz ein paar Schwünge und segelte dann mit einem Drachenflieger ins Tal. Oder Yuichiro Miura, der sich mit einem kleinen Bremsfallschirm am Rücken befestigt am Everest fast umbrachte (es existiert ein Dokumentarfilm, einfach Namen googlen). Ähnlich sein Landsmann Yoshimasa Wada, der sich mit Skiern an den Füßen auf das Matterhorn fliegen ließ und durch die Nordwand – mit Skiern an den Füßen – komplett abgeseilt hat.
Skibefahrungen? Eher nicht. Insbesondere Boivin hat mit seinem Stunt bewusst provoziert.
In jüngerer Vergangenheit zeichnet sich ein neues Bild. Auf Social Media ist Content von schnellen Abfahrten durch die großen Wände der Alpen zu sehen. „La Liste“ (2016) von Jérémie Heitz ist ein ganzer Film darüber. Skifahren im Pulverschnee, das seit Greg Stumps legendärem „Blizzard of Aahhh’s“ (1988) so viele schöne Bilder produziert hat, steilt sich auf. Selbst gefährliche Abfahrten, wo durchgängig hohe Absturzgefahr besteht und oft auch über exponierten Felsabbrüchen, werden bei tiefem Pulver und „zügig“ gefahren.
Mindset „Henry Tof“
Einen Namen hat sich in diesem Bereich auch der Chamoniard Henry Tof gemacht. Im Gespräch mit dem Autor erklärte er seine Risikostrategie:
Er kennt die Hänge, kennt jeden Stein, jede Verzweigung, jede Kuppe, jede Schneeverwehung, jede Gletscherspalte ganz genau. Er ist oft in dem Gelände unterwegs, fast täglich. Er beobachtet sowohl den Schnee als auch das Wetter akribisch. Seine Ausrüstung ist perfekt gewartet, fein säuberlich sortiert und begutachtet wie beim Packen eines Fallschirms. Erstbefahrungen sind ihm nicht wichtig. Er wartet auf die perfekten Bedingungen, um die großen steilen, furchteinflößenden Linien mit maximaler Geschwindigkeit zu fahren.
Er sagt, dass er dabei fast fliegt! Dass er kaum Druck auf die Schneedecke ausübt, viel weniger als beim kraftvollen Umspringen mit der klassischen Ski-Technik. Sein Stil ähnelt dem Gleiten wie mit einem Surfboard, das in den Kurven gerade nicht ausbricht. Und wo genau sich die Abfahrtslinie in den Schnee zeichnen wird, hat er exakt geplant. Eine Sicherheitsmarge gibt es jedoch nicht – die gibt es aber auf hartem Schnee, auf dem bereits kurz nach einem Abrutschen nahezu Fallgeschwindigkeit erreicht wird, auch nicht. Seiner Ansicht nach.
Steigende Popularität
Ein weiterer Wandel, der sich aktuell vollzieht, ist in der breiten Masse zu sehen. Immer mehr Alpinisten können Skifahren. Und immer mehr Skifahrer werden zu Alpinisten. Ebenso hat sich das Fitnesslevel insgesamt erhöht. Neue Trainingstechniken, die sich über viele Jahre verfeinert haben, zeigen sich. Erfahrung wird an immer mehr Menschen weitergegeben.
Einen Teil trägt auch das neue Material bei. Leicht und doch stabil. Skier, die sich einfach in eine Kurve bringen lassen mit Kanten, die selbst auf hartem Schnee halten und die viel Vertrauen schenken. Tourenskistiefel, die lange Aufstiege und großartige Abfahrten ermöglichen – es sind nicht mehr die weichen Gummistiefel von früher. Als Pierre Tardivel in den 90ern den Mount Everest vom Südsattel aus abfuhr, tat er dies in extra gefütterten, harten Alpin-Skischuhen, die er erst am Rucksack hinauftrug. Bei seinen Abfahrten in den europäischen Alpen hatte er bis in die 10er-Jahre Alpin-Rennskischuhe an den Füßen – und wechselte, sobald es ging, auf die Freeridemodelle mit Gehfunktion (und später dann auf Snowboardboots als neue Herausforderung).
All das ermutigt offensichtlich viele geübte Alpinisten und Skifahrer, sich ebenfalls in steile Abfahrten zu wagen. Übrigens nach Wissen des Autors ohne nennenswerte Auswirkungen auf Unfallstatistiken. Laut Anselm Baud, der an der ENSA (École Nationale de Ski et d’Alpinisme, Chamonix) lehrte und hier noch im Interview zu Wort kommt, verunfallen nicht mehr Steilwandskifahrer als Alpinisten allgemein. Doch das ist in diesem Magazin wohl unstrittig.
Die Perspektive
Und wo führt dies hin? Unter all den Skitourengehern, welche in den letzten Jahren die vielleicht schönste aller Wintersportarten entdeckt haben und irgendwann nicht mehr nur auf Pisten und Modetouren unterwegs sein möchten, sind sicher auch solche dabei, die sich an immer schwierigere Routen wagen. Und diese Unternehmungen dann im Internet veröffentlichen. Was wiederum andere inspiriert.
Und so wird vielleicht aus einem Nischensport eine Spielart, die sich wieder mehr in den Vordergrund drängt. Nicht wie in den Anfängen getragen von wenigen Protagonisten, sondern durch eine verantwortungsvolle, starke Skialpinistengeneration. Einzelne, tonangebende Figuren wie etwa Vivian Bruchez (hier im Interview), oder genannter Henry Tof, loten aktuell die Grenzen aus und geben Stoff für neue Träume.
Links
- Bernhards Steilwandski-Seite: http://skialpinist.com/
- und die Gruppe auf Facebook: https://www.facebook.com/groups/skialpinist