Spitzkehre?! Ich versteh’ nur Bahnhof!!!
Skitouren ohne Spitzkehren sind wie Berge ohne Gipfel: Zumindest lassen sich Gipfel, die ohne Spitzkehre erreicht werden können, in den jeweiligen Gebietsführern meist an nur wenigen Fingern einer Hand abzählen. Wer frei wählen und seine Ziele ökonomisch sowie sicher erreichen möchte, kommt um Spitzkehren ebenso wenig herum wie die Fachliteratur.
Über die essentielle Aufstiegstechnik scheint bereits alles geschrieben und gesagt zu sein. Jedes Lehrbuch über Skitouren oder Skitourengehen bildet das Thema, gleich dem Internet (der Suchbegriff „Spitzkehre Skitour“ liefert auf Google schlappe 5730 Ergebnisse), zu mehr als voller Gänze ab. Im Literatur- und Videotutorialdickicht finden sich neben vielen sehr kongruenten Technikleitbildern und -beschreibungen auch Abweichungen.
Vielleicht lohnt es sich gerade deswegen, das Dickicht der wichtigsten Spitzkehrenarten und ihre Anwendungsbereiche etwas zu lichten und mit typischen Fehlerbildern sowie einem Vorschlag eines Lernweges samt Beispielen zu Übungs- und Spielformen zu garnieren:
- Was ist was?
- Welche Technik ist zeitgemäß?
- Was findet in welcher Situation (Gelände und Verhältnisse) Anwendung?
- Und wie kann die Technik Anfängern, aber auch Fortgeschrittenen, didaktisch strukturiert sowie methodisch differenziert vermittelt werden?
Spitzkehrenarten und ihre Anwendung – Schaffen einer gemeinsamen Sprache
Nomenklatur nach DAV-Ausbildungshandbuch 2014
Kehren bergwärts
1. Standard: Einfache (Kick-)Kehre
Im schönen, unbeschwerten Weiß der Flocken ist folglich die als „einfache (Kick-)Kehre“ benannte Spitzkehrentechnik mit oder ohne Kick Standard und für fast jede Situation die adäquate Lösung.
Damit rangiert sie bei Skitouristen auf Podiumsplatz eins und ist die am häufigsten angewendete Art, ab 30 Grad Hangneigung eine neue Aufstiegsrichtung zu erlangen. Die Crux der koordinativ komplexen Bewegung stellt das Nach-oben-Bringen der Skispitze des entlasteten Talskis dar.
Das Problem, die Skispitze des entlasteten Talskis nach oben zu bekommen
Weiterentwicklungen der Materialien, der Bauweise der Skier sowie der Bindungen schaffen im wahrsten Sinne des Wortes eine Kehrtwende in der Technik: Je nach Kombination aus Ski und Bindung kommt die Skispitze nach Belastungswechsel wegen eines hinter dem Drehpunkt der Bindung gelagerten Schwerpunktes (z. B. schwerer Fersenapparat) mit etwas Geduld in der Regel von selbst nach oben.
Ist die Skispitze erst einmal frei, wird das Drehen ein Kinderspiel. Wenn Abwarten materialbedingt nicht zum Ziel führt, kann unterstützend entweder der Ski nach hinten geschoben oder die Ferse Richtung Gesäß bewegt werden. Sollten genannte Vorgehensweisen ebenso scheitern (z. B. auf dem Top-Sheet klebender Schnee), bleibt als weitere Möglichkeit zur Initialisierung das leichte Kicken der Ferse gegen die Bindung.
Das Kicken ist aus drei Gründen etabliert und generiert deutlich mehr Effizienz:
- Planbarkeit: Ich entscheide, wann es geschieht und ich kann mich darauf einstellen.
- Verlässlichkeit: Es funktioniert in jeder Situation gleich.
- Erhöhte Geschwindigkeit: beschleunigtes Anheben der Skispitze und somit schnellere Gesamtdurchführung.
Nicht verwunderlich, dass die Kehre bergwärts mit Kick den anderen Varianten zum Nach-oben-Bringen der Skispitze in Beliebtheit genauso den Rang abläuft wie den nachfolgend beschriebenen Spitzkehrenarten.
Und so funktioniert’s im Detail. Die einfache (Kick-)Kehre schrittweise erklärt:
Schritt 1. Platz zum Kehren vorbereiten
- Podest bzw. (Sack-)Bahnhof/Garage/ Parkplatz austreten
- Skier 90 Grad zur Falllinie (annähernd horizontale Stellung) (Abb. 1 und 2)
Schritt 2. Stöcke zur Balanceunterstützung
- Talstock stabil etwa in der Mitte zwischen Bindung und Skispitze des Talskis setzen. ·
- Bergseitigen Stock über die Schulter mit gestrecktem Arm in die neue Richtung platzieren. Der Oberkörper öffnet sich dabei Richtung Berg (Abb. 3).
Schritt 3. Die Belastung vollständig auf den Talski bringen und nun den entlasteten Bergski bergseitig „scheibenwischerartig” in die neue Aufstiegsrichtung drehen. Den Bergski ebenfalls wieder relativ flach, je nach Beweglichkeit nahezu horizontal, und unweit vom Talski entfernt setzen (keine zu große Schrittstellung!) (Abb. 4 und 5). Tipp: Der Belastungswechsel ist bei nah platziertem Ski deutlich einfacher.
Schritt 4. Platz, an dem der gedrehte Ski gesetzt werden soll, ebenso präparieren
Schritt 5. Den Talstock als neuen Bergstock etwa auf gleicher Höhe wie den belassenen Stock bzw. mittig ins offene V der Skier setzen. Selbstbewusster Belastungswechsel und Gewicht vollständig auf neu ausgerichteten Ski (Talski) verlagern, der Oberkörper bleibt dabei aufrecht.
Schritt 6. Nach sicherem Stand das Augenmerk auf eine Hüft-offene Stellung legen, so lange, bis die Skispitze des Talskis frei ist. Dann die Ferse des alten Talskis bei annähernd gestrecktem Bein talwärts halten und abwarten. Oder falls die Skispitze des Talskis nicht von alleine nach oben kommt, entweder die Ferse Richtung Gesäß bewegen, den Ski weit nach hinten schieben oder leicht mit der Ferse gegen die Bindung kicken, sodass die Skispitze nach oben kommt. (Abb. 6)
Tipp: Verschiedene Varianten testen und je nach Material und Vorliebe wählen.
Schritt 7. Erst wenn sich die Skispitze nach oben aus dem Schnee bewegt hat, den neuen Bergski nah am Schienbein des Standbeines drehen (Ferse dreht Richtung Berg) und parallel in Spur als neuen Bergski setzen (Abb. 7 und 8)
2. Für besondere Situationen: Doppelte (Kick-)Kehre
Nicht immer ist die einfache (Kick-) Kehre bergwärts die Technik der Wahl für effizientes und sicheres Richtungswechseln. Mangelnde Hüftbeweglichkeit – „ab einem gewissen Alter ist die Hose immer beweglicher als der Mensch“ (P. Brunnert) – bzw. steiles Gelände, lange Freerideskier, tiefer Schnee oder ein Hindernis wie ein Baum können das scheibenwischerartige Drehen des Bergskis verhindern.
Über die Bergseite kann nicht (ohne Weiteres) gedreht werden. Galant und mühelos wird dann bei gleicher Vorbereitung (s. oben Schritt 1.) mit einer doppelten (Kick-)Kehre umgesetzt:
Schritt 1. Beide Stöcke oberhalb der Skier bergseitig platzieren
Schritt 2. Bergski zuerst nach hinten wegziehen
Schritt 3. Ferse bzw. Skiende über die Talseite drehen, hier ist ausreichend Platz, bis der Ski in die neue Richtung zeigt (Abb. 10)
Schritt 4. Bergski nach vorne oben bringen und vor dem noch stehenden Talski ggf. mit Stockunterstützung einfädeln und ausrichten (Abb. 11 und 12)
Schritt 5. Stöcke belassen oder wahlweise einen Stock oberhalb und einen Stock unterhalb des neuen Talskis in neuer Richtung orientiert setzen. Weiter wie bei einfacher Spitzkehre, s. oben ab 4.
Die Standbilder stammen aus dem Videotutorial „Touring Hacks with Pros: How to kickturn in perfection”, in dem auch die doppelte Kehre und die Kehre talwärts zu sehen sind. Bildrechte, Standbilder aus Video: Valentin Rapp (Marker Deutschland GmbH)
Typische Fehlerbilder und deren Korrektur
Bei dieser gleichgewichts- wie timingabhängigen Kür kann einiges schiefgehen. Hand aufs Herz, wer hat sich noch nie in einer der nachfolgend beschriebenen Situationen wiedergefunden und ist anschließend unsanft im Schnee gelandet?
Fehlerbild 1. Zu steile Kehre in oftmals ausgetretener glatter Aufstiegsspur –> Ein bis zwei Schritte über die Spur hinausgehen, eigenes Podest austreten, flach kehren und weiter in vorhandener Spur
Fehlerbild 2. Falsch gesetzte Stöcke bzw. Stöcke im Weg –> Beim Setzen der Stöcke darauf achten, das Drehen und Umsetzen der Skier nicht einzuschränken
Fehlerbild 3. Balanceverlust –> Vorbereitung Bahnhof und flache Kehre bei enger Schrittstellung, Stöcke breit und offen zur Gleichgewichtsunterstützung setzen (Abb. 9)
Fehlerbild 4. Zu weite Schrittstellung erschwert den Belastungswechsel –> Enge Beinstellung, damit kein großer Höhenunterschied überwunden werden muss bzw. keine große Bewegungsamplitude nötig ist
Fehlerbild 5. Offene V-Stellung in Falllinie mit Blick bergwärts, oft gepaart mit unklarer Belastungsverteilung –> Kehre ordentlich mittels Bahnhof vorbereiten, enge Beinstellung vor Belastungswechsel und mit nahezu horizontaler Skistellung beginnen
Fehlerbild 6. Abknicken/Beugen des Oberkörpers beim Belastungswechsel und damit Halt- oder Balanceverlust (Durch- oder Wegrutschen des Skis) –> Oberkörper aufrecht halten
Fehlerbild 7. Die Skispitze kommt nicht nach oben. Versuch, den Talski gleich dem Bergski durch Heben (Flexion Hüfte) zu drehen. –> Abwarten, Bewegen der Ferse Richtung Gesäß oder Kicken zur Initialisierung des Nach-oben-Kommens der Skispitze
Fehlerbild 8. Die Hüfte des Talskis zu früh eindrehen: Gefahr des „Einspitzelns“/Blockieren der Skispitze im Schnee –> Hüft-offene Stellung (Hund beim Gassi-Gehen) solange beibehalten, bis die Skispitze frei ist, weiter s. Korrektur 7.
Der Exot: Kehre talwärts – unterschätzt und längst vergessen?
Die Kehre talwärts ist zu Unrecht aus der Mode gekommen. Das Kehren der Skier über die Talseite geht zwar mit einem kleinen Höhenverlust einher, allerdings wird die Energie diesen wettzumachen beim Umsetzen nach unten gespart. Ähnlich wie bei der doppelten Kehre haben die Skier hier Raum, um ungehindert drehen zu können.
Einzig die Psyche ist im steilen Terrain deutlich mehr gefordert als die Physiologie. Wer diese Technik verinnerlicht hat, kann in der Abfahrt im Wechsel mit Abrutschen oder Querfahren Passagen mit schwierigen Schneeverhältnissen oder steil forderndem Gelände leichter bewältigen (Abb. 13, 14, 15). Im Übrigen sind für Splitboarder die doppelte Kehre oder die Kehre talwärts die vorteilhaftesten Techniken, um zu wenden.
Methodische Übungsreihe zum Erlernen und Vertiefen der Spitzkehrentechnik
Lernwege zweier Gruppen können sich völlig unterscheiden und trotzdem jeweils genau passen (Prinzip der Passung), insbesondere können die methodischen Grundsätze dies sogar erfordern. Nachfolgend ein literatur- und erfahrungsbasierter Zusammentrag eines möglichen Vorgehens:
Einstieg/Motivationsimpuls
- Spielerisches Ausprobieren in weichem Schnee
- Bogengehen bzw. Direttissimalaufen im Grenzbereich (ca. 30 Grad steile Hänge) respektive ökonomische Spuranlage ohne Spitzkehre
Demonstration
Nach der Motivierung des Themas müssen, besonders bei explorativ offenen und spielerischen Einstiegen, mögliche Lösungsansätze mittels einer klaren Demonstration dem Technikleitbild angepasst werden.
Erste Versuche
ggf. mit Balance- und oder Drehunterstützung durch die Trainerin oder Partnerin, die im Kehreninneren leicht unterhalb der Spitzkehrenaspirantin positioniert ist (Helfer ohne Skier!). Sollte die Spitze des in der zweiten Phase zu drehenden Talskis nicht nach oben kommen oder gedreht werden können, greift die Helferin das Skiende und führt den Ski in einer Drehbewegung sanft nach hinten und in die neue Richtung, bis beide Skier wieder parallel sind. Diese Unterrichtsphase eignet sich ideal, um erste Individual- oder Gruppenkorrekturen zu geben.
Automatisierung und Sicherung des Technikleitbildes (gleichbleibendes Gelände und Verhältnisse):
Üben, üben, üben, auf Fehler individuell eingehen, bis die Technik beherrscht wird.
Technikvertiefung
- durch Anwendung verschiedener Spitzkehrenarten und variable Rahmenbedingungen (steileres Gelände, schwierige Schneeverhältnisse oder Zeitdruck mittels Spielformen):
- Spitzkehrenmarathon/-staffel: Fortbewegung ausschließlich durch Spitzkehre bis zu vorgegebenem Ziel
- Ochs am Berg: Auf Kommando Einfrieren der Bewegung (Balanceschulung)
- Windschatten gehen: zügiges Ausführen der Spitzkehre, sodass kein Stau bzw. Ziehharmonika-Effekt entsteht.
- Schattenlaufen (Partnerübung) oder belgischer Kreisel (Gruppenübung): Die Nachfolgerin bewegt sich exakt gleich in der Spur der Vorderen und führt die gleiche Art der Kehre aus, nach ein paar Kehren wechseln. Beim belgischen Kreisel wird nach einigen Schritten nach der Kehre aus der Spur getreten und nach der Gruppe am Ende wieder eingereiht. Die Erste gibt die Art der Spitzkehre vor.
- Kehre mit Handicaps: Nur ein oder kein Skistock, blind
- Komplexübung Spitzkehrenparcours (Abb. 16): verschiedene Spitzkehrenarten im Aufstieg mit verschiedenen Techniken in der Abfahrt mit Fellen (Gelände: freier kupierter Hang, ggf. mit Bäumen oder steiler Geländekante – doppelte (Kick-)Kehre zwingend, ca. 30–50 Hm)
Bei der Erweiterung des Bewegungsrepertoires um weitere Spitzkehren- arten werden bereits beherrschte Teile übersprungen.
Conclusio
Die Garantenlösung gibt es weder in der Methodik noch in der Technik. Die technische Realisierung ist, je nach Gusto, sehr material-, typ- und situationsabhängig. Wer bei Spitzkehre aber tatsächlich „Bahnhof” versteht und seine Spur zum Kehren gut vorbereitet, hat das Erfolgscredo schon mehr als verinnerlicht.
Für mehr Sicherheit, Bewegungsökonomie und Spaß auf Tour sollte mindestens die einfache (Kick-)Kehre (Abb. 17), idealerweise aber alle beschriebenen Spitzkehrenarten, beherrscht werden. Das bedeutet üben, üben und nochmals üben, lang bevor das Gelände die Anwendung erfordert … … und wenn’s dann (endlich) läuft wie geschmiert, nicht vergessen: Jede noch so ausgefeilte Technik stößt irgendwann an ihre Grenzen (Abb. 18).
Quellen-/Literaturverzeichnis
- Geyer P., Mersch J., Sagler R., Semmel C.: Skibergsteigen Freeriding, Alpin-Lehrplan 4, 4. Auflage, BLV, München, 2016 DAV Handbuch Ausbildung des Deutschen Alpenvereins, Stand: Mai 2014
- Schneeweiß C., Ritschel B.: Skitouren, das Praxisbuch für Skitourengeher, veränderte Neuauflage Edition, Bruckmann, München, 2006
- Winter S.: Richtig Skitouren, Erstauflage, BLV, München, 2001 Stadler M.: Skitouren: Ausrüstung – Technik – Sicherheit, 4. akt. Auflage, Rother Bergverlag, München, 2021
Weblinks
- Skitour so klappts mit der Spitzkehre, abgerufen am 26.08.2022
- Video Kick- und Spitzkehre – so geht’s, abgerufen am 26.08.2022
- Bergwelten Artikel: Skitouren: Die richtige Spitzkehren-Technik, abgerufen am 26.08.2022
- John, V. (2021): In 6 Schritten zur perfekten Spitzkehre, abgerufen am 26.08.2022