Space Blanket: 6 Einsatzmöglichkeiten der Rettungsdecke
19. August 2020. Beim „Downhillen“ übersieht ein junger Sportler eine Geländestufe auf dem Trail und stürzt in der Folge über den Lenker seines Bikes. Bei Eintreffen der Bergrettung zittert er vor Kälte und gibt starke Schmerzen (7 auf einer analogen Skala von 0–10) im Bereich der linken Schulter mit von außen erkennbarer Fehlstellung des Schlüsselbeines an. Nach Anlage eines Tornisterverbandes sind die Schmerzen deutlich niedriger (1–2 auf einer analogen Skala von 0–10). Der Abtransport ins Tal bis zur Übergabe des Patienten an den Rettungsdienst kann beinahe schmerzfrei durchgeführt werden.
Die multifunktionale Rettungsdecke
Ursprünglich wurde die dünne, aluminiumbeschichtete Polyethylenterephthalat-(PET)-Folie in den frühen 1960er-Jahren als „space blanket“ vom NASA Marshall Space Flight Center entwickelt, um Raumfahrzeuge vor Hitze zu schützen. Erstmals als Kälteschutz am Menschen angewandt wurde die Folie von Teilnehmern des New York City Marathons im Jahre 1978 (zum Nasa Artikel).1
Das kleine und leichte Tool im Erste-Hilfe-Set erfreut sich immer größerer Beliebtheit. In der Bergrettung Tirol werden im Rahmen der „Taktischen Alpinmedizin“ schon seit Längerem verschiedene Anlagetechniken für unterschiedlichste Zwecke geschult. In letzter Zeit wurde in Zusammenarbeit mit der Universitätsklinik für Anästhesie und Intensivmedizin auch eine Reihe an Untersuchungen zur Effektivitätsprüfung durchgeführt.
In experimentellen Studien wurden Rettungsdecken getestet, die aktuell bei der Bergrettung und Flugrettung Tirol sowie beim Österreichischen Roten Kreuz Verwendung finden. Die zähe Rettungsdecke Mittels einer Materialprüfmaschine wurden Zugprüfungen zur Feststellung der Reißfestigkeit von Rettungsdecken getestet. Dabei wurden die Enden der längsgefalteten Decke mittels Weberknoten verbunden und der entstandene Ring in eine Seilzugmaschine gespannt.
Die Bruchlast lag bei den in Längsrichtung entfalteten Rettungsdecken (ÖRK, LEINA) zwischen 2812 und 4797 N und erwies sich damit als mehr als ausreichend für verschiedenste Anwendungen unter Zugbelastung.2 Die ausführliche Studie wurde im Journal Wilderness and Environmental Medicine veröffentlicht.3 Im Folgenden beschreiben wir sechs verschiedene Anwendungstechniken, die sich aufgrund der Stabilität und der Multifunktionalität der Rettungsdecke anbieten.
1. Rettungsdecke als behelfsmäßiges Tourniquet
Unter besonderen Umständen wird bei lebensbedrohlichen Blutungen durch Verletzungen der Extremitäten eine Abbindung empfohlen.4 Steht am Berg kein handelsübliches Tourniquet zur Verfügung, ist eine behelfsmäßige Abbindung immerhin besser als keine. (Studie zur Sicherheit und Wirksamkeit von improvisierten Tourniquets von Maarten Philip Cornelissen et al.)5 Nicht nur die Reißfestigkeit, sondern auch die Breite von 6–7 cm einer in Längsrichtung gefalteten Rettungsdecke eignen sich besonders gut für das Abbinden einer Extremität.
Der Rettungsdeckenstrang wird dabei zweimal um die Extremität gelegt und mittels Weberknoten straff verbunden. Zum Druckaufbau wird ein provisorischer Knebel durch den Knoten gesteckt und solange zugedreht, bis die Blutung aufhört. Anschließend wird der Knebel mit den freien Enden der Decke fixiert. Als Knebel eignet sich am besten ein stabförmiges Objekt, da sich dieses im Gegensatz zu einem Karabiner einfacher fixieren lässt Wichtig ist, dass nach Abbinden einer blutenden Extremität mit Hilfe eines improvisierten Tourniquets überprüft wird, ob auch tatsächlich eine deutliche Verminderung des Blutverlustes zu beobachten ist.
Ein Ersthelfer muss auch erkennen, wie viel Druck im Einzelfall notwendig ist, um eine ausreichende arterielle Blutsperre zu erreichen, damit nicht durch unnötig hohe Kompressionskräfte eine zusätzliche Schädigung des Gewebes verursacht wird.6 Andererseits, wenn durch zu wenig Kompression lediglich eine Stauung des venösen Rückstromes bewirkt wird, kann damit der Blutverlust sogar noch erhöht werden. In diesem Fall ist es besser, die Abbindung sofort zu entfernen, da ein nicht-effektiv angelegtes Tourniquet schlechter ist als kein Tourniquet. Zu den möglichen Komplikationen eines Tourniquets gehören Nervenverletzungen, Gewebsischämien entsprechend einem Compartment-Syndrom, venöse Thromboembolien und post-ischämische Reperfusionsschäden. Erstaunlicherweise ist die Häufigkeit von in der Literatur angegebenen Schäden durch notfallmäßiges Abbinden von Extremitäten bei prähospitalen Blutungen nicht hoch. (Studie zur Sicherheit und Angemessenheit von Tourniquets von Michelle H. Scerbo et al.)7
2. Rettungsdecke als behelfsmäßige Beckenschlinge
Beckenbrüche kommen bei alpinen Unfällen immer wieder vor. Für die Notfallversorgung eines instabilen Beckenbruches ist die Anwendung einer professionellen Beckenschlinge empfohlen, für einen Ersthelfer aber selten verfügbar. Hierbei ist daher die improvisierte Methode mit einer Rettungsdecke wieder eine Option. Die Rettungsdecke wird zum Längsstrang von 20–30 cm Breite entfaltet, unter das Becken gelegt und die Enden unter Zug mittels Weberknoten verbunden.
Mit Hilfe eines Karabiners zwischen den zwei Knoten kann der Kompressionsdruck angepasst und der behelfsmäßige Beckengurt fixiert werden. Die Höhe der Anlage am Becken orientiert sich am großen Rollhügel (Trochanter Major, der Knochenvorsprung am oberen Ende, seitlich am Oberschenkel) – dieser soll sich mittig unter dem Rettungsdeckenstrang befinden. Sollten sich unter Zug die Schmerzen verstärken, dann muss die behelfsmäßige Beckenschlinge wieder entfernt werden.
3. Rettungsdecke als behelfsmäßiger Tornisterverband
Mit der hohen Zugfestigkeit und der Länge von 210 cm eignet sich die Rettungsdecke auch perfekt für einen improvisierten Tornisterverband bei einem Schlüsselbeinbruch. Dabei können Schmerzen wesentlich verringert werden (siehe Einsatzbeispiel in der Einleitung). Die Rettungsdecke wird dabei wie die Tragegurte eines Rucksackes über beide Schultern gelegt, unter den Achseln nach hinten geführt und mit beiden Strängen mittels Weberknoten zwischen den Schulterblättern verknotet.
Einer der freien Stränge wird nach oben unter der Lasche am Hals durchgefädelt, dann wieder nach unten gezogen und mit dem zweiten Strang unter Zug verknotet. Dadurch wird der Schultergürtel nach hinten gezogen, was bei Schlüsselbeinbrüchen zu einer Entlastung führt. Auch hier gilt wie immer: Sollten sich unter Zug die Schmerzen verstärken, so muss der behelfsmäßige Tornisterverband wieder entfernt werden.
4. Rettungsdecke als behelfsmäßiges Chest-Seal
Bei einem Unfall kann ein Loch am Brustkorb, verursacht z. B. durch ein Eisgerät, tödliche Folgen haben. Dabei wird Luft von außen zwischen Lunge und Brustwand angesaugt, die Lunge kollabiert und es entwickelt sich ein Pneumothorax. Wenn eingedrungene Luft nicht mehr ausströmen kann, wird das Lungengewebe immer mehr zusammengedrückt und es entsteht ein lebensbedrohlicher Spannungs- pneumothorax. Ein in der Militärmedizin üblicher Ventilverband kann nach perforierenden Thoraxverletzungen die Entwicklung eines tödlichen Spannungspneumothorax verhindern.
Da dieser Verband in der zivilen Notfallversorgung kaum verfügbar ist, müssen Ersthelfer auf Alternativen zurückgreifen. In einem Versuchsaufbau konnten wir zeigen, dass sich die Rettungsdecke mit ihrer glatten Oberfläche sehr gut als Ventilverband eignet. Ein angefeuchtetes, ca. 20 x 20 cm großes Stück der Rettungsdecke wird dicht auf die Wunde am Brustkorb gelegt – dieses verhindert beim Einatmen das Einströmen von Luft zwischen Lunge und Brustkorb, aber nicht das Ausströmen von Luft.8
5. Rettungsdecke als behelfsmäßige Trage
Die erstaunliche Reißfestigkeit der Rettungsdecke ermöglicht auch den Einsatz als Tragering. Hierbei wird die Decke im Strang verwendet, wobei die beiden Enden mittels Weberknoten verbunden werden. Der so entstandene Ring eignet sich zum Tragen von Personen. Mit einer Decke kann man eine verletzte Person mittels Sitzring tragen. Hat man zwei Rettungsdecken bzw. Ringe, so lässt sich eine perfekte Rucksacktrage herstellen.
Dabei steigt der Patient jeweils mit einem Bein in einen Ring. Der Ersthelfer schultert die beiden Ringe und kann so den Patienten wie einen Rucksack auf dem Rücken tragen. Ein liegender Patient kann von zwei Rettern über kurze Strecken transportiert werden, indem je ein Ring unter Schulter sowie Gesäß des Patienten platziert wird. Es ist zu beachten, dass die Materialbeschaffenheit der verschiedenen auf dem Markt angebotenen Produkte voneinander abweichen kann und somit auch eine unterschiedliche Reißfestigkeit möglich ist.
Ebenso können Gegenstände mit scharfen Rändern wie zum Beispiel Steine, Äste, aber auch Reisverschlüsse der Kleidung die Folie zum Einreißen bringen. Weiters ist anzumerken, dass Rettungsdecken für die improvisierten Anwendungsformen relativ neu sein müssen – da sie im Laufe der Jahre spröde werden können. Die Ergebnisse unserer experimentellen Untersuchungen beschränken sich auf die zwei getesteten Produkte unter Laborbedingungen und ersetzen nicht eine noch ausstehende klinische Anwenderstudie. Wichtig ist, dass auch improvisierte Techniken gut geübt und trainiert werden müssen.
6. Die Rettungsdecke für das Wärmemanagement
Die ursprüngliche Anwendung der Rettungsdecke in der Ersten Hilfe war als Schutz vor Wärmeverlust vorgesehen. Einerseits werden dabei Wärmeübertragung (Thermokonvektion) und Verdampfungskühlung (Evaporation) vermindert und andererseits wird die vom Körper abgegebene Wärmestrahlung reflektiert. In der Bergrettung findet beim Wärmemanagement die sogenannte Windeltechnik Anwendung.
Die Rettungsdecke wird hierbei unter der Bekleidung am Rücken durchgezogen und breitgestrichen. Wichtig ist hierbei, dass sich die Folie über der untersten Bekleidungsschicht befindet. Bei direktem Hautkontakt würde durch Wärmeleitung (Thermokonduktion) ein kühlender Effekt herbeigeführt werden.9 Am oberen Ende wird die Decke über dem Kopf fixiert und dadurch gleichzeitig eine Kopfbedeckung erzeugt.
Am unteren Ende wird die Folie zwischen den Beinen durchgezogen und bauchseitig wie eine Windel fixiert. Mit dieser Anwendungstechnik kann sich der Patient weiterhin uneingeschränkt bewegen und die Rettungsdecke stellt bei einem eventuellen Hubschraubereinsatz auch keine Gefahrenquelle dar. Unsere Testserien haben auch gezeigt, dass es irrelevant ist, welche Seite der Rettungsdecke zum Patienten zeigt.
Egal ob die Silber- oder Goldseite zum Patienten gerichtet war, in den Ergebnissen zeigten sich keine nennenswerten Unterschiede.10 Erwähnenswert scheint noch, dass Rettungsdecken eine negative Auswirkung auf die Suche mittels Wärmebildkameras haben können. Komplett von einer Rettungsdecke umhüllte Personen werden von einer Wärmebildkamera nicht erfasst. Die Rettungsdecke wird von der Kamera nur als schwarzer Fleck aufgezeichnet, welcher eine auffallend kältere Temperatur als die Umgebung auf der Wärmebildkamera anzeigt.
Es ist zu empfehlen, dass in Not geratene Personen bei Annäherung einer Suchdrohne oder eines Helikopters die Rettungsdecke kurzfristig vom Körper entfernen.11
Schlussbemerkung
Seit gut drei Jahren erforschen wir nun das kleine Wunderding Rettungsdecke und unsere Projekte sind aktuell noch nicht abgeschlossen. Wir sind überzeugt, in nächster Zeit auch noch weitere neue Anwendungsbereiche untersuchen und vorstellen zu können.12 Eines kann man mit Sicherheit sagen – die Rettungsdecke sollte bei keiner Bergtour fehlen.
Bergsport und Gesundheit, #6
Diese Serie organisieren und betreuen Dr. Nicole Slupetzky (Vizepräsidentin des ÖAV und Präsidentin des Clubs Arc Alpin) und Prof. Dr. Marc Moritz Berger (Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Essen, Deutschland; Präsidiumsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Alpin- und Höhenmedizin). Der Experte für Prävention und Therapie der akuten Höhenkrankheiten und für alpine Notfallmedizin ist Mitinitiator des Symposiums für Alpin- und Höhenmedizin Salzburg, das gemeinsam mit dem Österreichischen Alpenverein organisiert wird.
Literaturverzeichnis
- 1) National Aeronautics and Space Administration. Spinoff 2006. Reflecting on space benefits: a shining example. 56-57.
- 2) Isser M, Kranebitter H, Kühn E, Lederer W. High-energy visible light transparency and ultraviolet ray transmission of metallized rescue sheets. Sci Rep. 2019;9:11208. https://www.nature.com/articles/ s41598-019-47418-8
- 3) Isser M, Kranebitter H, Fink H, Wiedermann FJ, Lederer W. High resistance to tear forces increases multifunctional use of survival blankets in wilder¬ness emergencies. J Wild Environ Med. 2020;1: https://doi.org/10.1016/j.wem.2019.12.012
- 4) Kragh JF Jr, Dubick MA. Bleeding control with limb tourniquet use in the wilderness setting: review of science. Wilderness Environ Med. 2017;28(2S):25-32.
- 5) Cornelissen MP, Brandwijk A, Schoonmade L, Giannakopoulos G, van Oostendorp S, Geeraedts L Jr. The safety and efficacy of improvised tourniquets in life-threatening hemorrhage: a systematic review. Eur J Trauma Emerg Surg. 2019; ) –>Bis hier ist alles im Text
- 6) The Boston Trauma Center Chiefs’ Collaborative. Boston marathon bombings: an after-action review J Trauma Acute Care Surg. 2014;77(3):501-3.
- 7) Scerbo MH, Mumm JP, Gates K, Love JD, Wade CE, Holcomb JB et al. Safety and Appropriateness of tourniquets in 105 civilians. Prehosp Emerg Care. 2016;20(6):712-22.
- 8) Schachner T, Isser M, Haselbacher M, Schröcker P, Winkler M, Augustin F, Lederer W. Rescue Blanket as a Provisional Seal for Penetrating Chest Wounds in a New Ex Vivo Porcine Model. Ann Thorac Surg. 2021;S0003-4975(21)01379-5. doi: 10.1016/ j.athoracsur.2021.06.083.
- 9) Peterson GP, Fletcher LS. Measurement of the Thermal Contact Conductance and Thermal Conducti¬vity of Anodized Aluminum Coatings. Heat Transfer 1990; 112(3), 579-585.
- 10) Kranebitter H, Isser M, Klinger A, Wallner B, Lederer W, Wiedermann FJ. Rescue Blankets-Trans¬mission and Reflectivity of Electromagnetic Radia¬tion. Coatings. 2020, 10(4), 375, https://doi.org/10.3390/coatings10040375
- 11) Isser M, Kranebitter H, Kofler A, Groemer G, Wiedermann F, Lederer W, Rescue blankets hamper thermal imaging in search and rescue missions. SN Appl. Sci. 2, 1486 (2020). https://doi.org/10.1007/s42452-020-03252-6
- 12) Wallner, B.; Salchner, H.; Isser, M.; Schachner, T.; Wiedermann, F.J.; Lederer, W. Rescue Blankets as Multifunctional Rescue Equipment in Alpine and Wilderness Emergencies—A Narrative Review and Clinical Implications. Int. J. Environ. Res. Public Health 2022, 19, 12721. https://doi.org/10.3390/ijerph191912721