#powderporn #climbporn: Social Media & Bergsport
Dieser Artikel geht unter die Gürtellinie: Wie stehen Sie zu „brazilian waxing“? Den meisten ist das mittlerweile ähnlich vertraut wie Kariesprophylaxe, ist aber ein Produkt der Porno-Industrie – Schambehaarung behinderte den Blick der Kamera. Heute trägt die halbe Welt den haarlosen Look. Außerdem hat ein steigender Pornografiekonsum Auswirkungen auf das reale Sexualverhalten (hauptsächlich auf das der Männer, die überwiegende Mehrheit der Konsumenten) und verändert sogar gewisse Hirnareale. Sowohl in der therapeutischen Praxis als auch in der wissenschaftlichen Forschung verdichten sich die Hinweise darauf, dass übermäßiger Pornografiekonsum die Gefahr von sexuellen Übergriffen auf Frauen erhöht.
Interessant, aber weil Sie hier immer noch bergundsteigen lesen und nicht die Brigitte: Was hat das alles mit Risiko im Bergsport zu tun? Oberflächlich gesehen eher wenig, aber wenn wissenschaftlich belegbar ist, dass die Konsumation von gewissen medialen Inhalten in einem Bereich (Pornos) die tatsächliche Ausübung der gesehenen Tätigkeit beeinflusst (realer Sex) und bei exzessivem Genuss sogar zu einer Sucht werden kann, warum sollte das in einem anderen Bereich nicht ähnlich sein (#powderporn)? Kann die Dauerberieselung mit traumhaften (und manchmal eben auch potentiell riskanten) Berg-Inhalten in den sogenannten sozialen Medien unser eigenes Risikoverhalten beeinflussen, positiv wie negativ?
Bis dato fehlen einschlägige Studien für den Bereich Bergsport. Zu spezifisch die Nische, zu komplex das Zusammenspiel verschiedenster Faktoren. Aber wir können es wagen, Parallelen und Analogien zu besser erforschten Massenphänomenen zu ziehen: Pornos zum Beispiel. Therapeuten und Wissenschafter beobachten eine Entwicklung: Wer regelmäßig Pornografie konsumiert, läuft Gefahr, immer härteres Material auszusuchen. Erklärbar ist das durch einen Gewöhnungseffekt, die Toleranzschwelle wird erhöht – das Abnormale wird irgendwann normal. Mit Berg-Inhalten kann dieser Effekt genauso eintreten. Beim siebzehnten Foto aus der gleichen Nordwand wird dieses eben irgendwann langweilig bzw. zur „neuen Normalität“. Unsere algorithmisch beeinflusste Aufmerksamkeit verschiebt sich also zu den „härteren“ Inhalten, den noch krasseren Touren oder Abfahrten. Das psychologische Konzept des „sensation seeking“ wurde anhand von Alex Honnolds Amygdala bereits im bergundsteigen #115 ausführlich beschrieben.
Im Fegefeuer der Eitelkeiten
Es ist, wie im echten Leben auch, ein zutiefst menschliches Streben nach Anerkennung, das uns immer wieder auf die bunten Icons auf unserem Smartphone drücken lässt. Statt eines Schulterklopfers gibt es im Digitalen eben ein Herzchen oder hundert, statt einer aufmunternden Bemerkung einen Share. Und wenn man einmal einen kleinen Glücksschub durch sein Posting bekommen hat, dann will man selbigen eben immer und immer wieder. „Short term dopamine driven feedback loops“ – auf die kurzfristige Ausschüttung von Dopamin zielende Rückkopplungsschleifen – nennt das Chamath Palihapitiya, der für das Nutzerwachstum von Facebook verantwortlich war. Retrospektiv betrachtet, zerstöre seine Erfindung kurzerhand die Gesellschaft, meint er. Weil sie die Verbreitung von Unwahrheiten fördere und einen zivilisiert geführten Diskurs verunmögliche. Völlig übertrieben?
Die einfache Gleichung lautet: Mehr Nutzer*innen, mehr Zeit auf der Plattform, mehr Verbindungen, mehr Interaktion ist gleich mehr Werbeeinnahmen. Diesem Maximierungsprinzip ist das gesamte Design der Apps und Websites untergeordnet und bedient sich letztlich der Verletzlichkeit der menschlichen Psyche. Bepreist wird also nicht das Produkt, sondern die Daten all jener, die kostenfrei ein Nutzerprofil auf der Plattform anlegen und dort hegen und pflegen. „Mein Gefühl sagt mir, dass die werbefinanzierten sozialen Netzwerke von Sucht, Klicks und Empörung angetrieben werden.
Nicht absichtlich, versteht sich, sie haben sich sicher nicht zum Ziel gesetzt, dass jeder auf jeden wütend ist.“ Das kommentierte Jimmy Wales im Jahr 2021 zum 20-jährigen Jubiläum seiner Plattform Wikipedia – übrigens die einzige nicht-kommerzielle Website unter den meistbesuchten Websites der Welt. Tendenziell werden die meisten von uns natürlich ihre Schokoladenseite im virtuellen Raum präsentieren, eher die epische „first line“ posten als den Tag im Homeoffice. Man präsentiert sich, und es geht darum, möglichst charmant, witzig und clever rüberzukommen. Deshalb sind soziale Medien abseits aller wissenschaftlichen Evidenz in erster Linie ein Fegefeuer der Eitelkeiten. Ganz im Sinne von: Schau her, wie schön mein Leben ist!
Auf der Jagd nach dem Mythos
Es lässt sich behaupten: Die kleinen Supercomputer in unseren Hosentaschen haben nicht nur unseren Medienkonsum in bemerkenswert kurzer Zeit radikal verändert, sie haben auch Auswirkungen auf unser individuelles und gesellschaftliches Handeln, unser Verhalten.
Wie jede Kulturtechnik verlangt auch das Internet seine Zeit, bis ein vernünftiger kollektiver Umgang damit gelernt wird. Verteufeln wäre zu einfach, denn Fortschritt ruft generell Ablehnung hervor. Der größte Unterschied zu den vorhergegangenen Wellen der medialen „Revolutionen“ ist die veränderte Rolle der Benutzer. Während vom Buchdruck bis hin zum FM-Funk und dem Farbfernseher – Technologien, die nach ihrer Einführung allesamt als gefährlich galten – die allermeisten passive Konsumenten waren, werden wir in der Welt des Internets gleichzeitig auch zu Sendern, zu Prosumenten:
Wir konsumieren nicht bloß Inhalte, wir produzieren sie auch. Bezogen auf die Outdoor- und Bergwelt lässt sich seit dem Aufkommen bild- und videolastiger sozialer Netzwerke ein Mythos beobachten: die unermüdliche Suche nach einer stilisierten und idealisierten Natur, nach dem Mythos der Wildnis, der Natur ohne jegliche menschliche Einwirkung. Um sich selbst inmitten einer solchen zwanglos und erhaben in Szene zu setzen, sind die Suchenden nur leider dazu gezwungen, immer tiefer und tiefer in diese scheinbare Wildnis vorzudringen, um den Mythos aufzuspüren. Und ihn damit ad absurdum zu führen. Über die berühmten „Insta-Spots“ wurde schon viel geschrieben. Fakt ist, Millionen Menschen wählen mittlerweile ihr Reiseziel anhand der Fotos, die sie auf Instagram sehen, anhand der
In dem Moment, wo man die Welt durch das gewohnte Sehen im Medium der Social Media betrachtet, in dem Moment werde ich die Welt auch immer als potentielles Motiv sehen.
Jens Badura
Und jagen damit oftmals dem Mythos der Einsamkeit hinterher, um im Endeffekt das zu reproduzieren, was eben erfahrungsgemäß Likes bringt. Der Philosoph Jens Badura nennt solche Orte „Visiotype“, aus denen die Alpen für viele mittlerweile zu bestehen scheinen, eine instagrammatische Form der Besucherlenkung. „In dem Moment, wo man die Welt durch das gewohnte Sehen im Medium der Social Media betrachtet, in dem Moment werde ich die Welt auch immer als potentielles Motiv sehen, aber nicht mehr als unmittelbare Quelle der Erfahrung, auf die ich mich einlasse. Ich bin also immer schon im Blick durch die Linse auf die Welt, aber ich bin nicht mehr unvermittelt in der Welt.“ Verloren geht das unmittelbare Erfahren des Moments. Statt neuen Erfahrungen macht man lediglich Erwartungsbefriedigung, man sieht das bereits Bekannte.
Mehr Menschen am Berg, mehr Unfälle?
Was für Urlaubsziele gilt, gilt wohl auch für Tourenziele: Genaue Zahlen sind unmöglich festzumachen, man kann aber annehmen, dass bei der gegenwärtigen Verbreitung auch entsprechend viele Bergziele anhand von online veröffentlichten Fotos inspiriert werden. Eindrucksvolle Lokalbeispiele gibt es genug: Als vor wenigen Jahren im Spätherbst die Bedingungen für die Mixed-Tour in der Nordrinne am Zwölferkogel in den Stubaier Alpen gut waren und dies auch publik gemacht wurde, kamen die Wiederholer in Scharen. Es war gruppendynamisch so auffällig, dass ein Bergführer bereits mit der Idee kam, ein „Zwölferkogel 2019 – Ich war dabei“-T-Shirt drucken zu lassen. Oder Matterhorn-Nordwand, gleiches Verhaltensmuster: Eine Person mit entsprechender Reichweite innerhalb der Community postet, die Verhältnisse wären gerade bombastisch – prompt wird die Wand geradezu belagert.
Eiger-Nordwand, März 2022 – eine sehr auffällige Häufung von Begehungen, Locals vor Ort warnen vor einer überfüllten Heckmair-Route mit Heli-Rettungen wegen Steinschlag, übervollen Biwak-Plätzen und Stau vor Schlüsselstellen. Wobei man hier klar differenzieren muss: Potentielle Wiederholerinnen solcher extremen Touren sind sich der Gefahr in den allermeisten Fällen wohl bewusst und der Herausforderung meistens auch gewachsen. Im Falle des Zwölferkogels gibt es bis heute trotz massenhafter Begehungen bei teils schlechten Verhältnissen keinen einzigen Bergrettungseinsatz zu verzeichnen. Wäre das vor 20 Jahren in dem Umfang begangen worden, die Statistik hätte wohl anders ausgeschaut.
Die Social-Media-Kanäle treten hier also als zusätzliche, zeitnahe und wertvolle Informationsquelle auf und kanalisieren Bergsteigerinnen in bestimmte Gebiete oder Routen (frei nach „schau an, es geht – nichts wie hin“). Was durchaus seine Vorteile haben kann: Neben Schneeprofilen, Messstationen und Lawinenlagebericht sind für viele diverse Facebookgruppen mittlerweile ein fixer Bestandteil der Tourensuche, um die aktuellen Bedingungen besser einschätzen zu können. Neben der Ausrüstung wird also auch die Informationsfülle deutlich dichter, mit der man sich auf Touren vorbereiten kann. „Durch die vielen Fotos und Berichte kann man sich ein super Rundumbild verschaffen.
Vor allem, wenn man sich gut auskennt und auch Nachbarberge und Täler kennt, reicht oft die Beschreibung einer Tour, um sich ein Bild eines ganzen Talkessels zu machen“, verrät Thomas Wanner, Bergsportexperte beim Österreichischen Alpenverein. Wo solch instagrammisierte Besucherlenkung aber eher einen Einfluss auf das Risikoverhalten am Berg haben dürfte, ist bei Menschen mit wenig bis keiner Bergerfahrung. Diese stoßen zwar hochmotiviert, aber zum Teil leider auch bemerkenswert miserabel vorbereitet bzw. ausgerüstet in die Traumkulisse Alpen vor – und wegen fehlender Erfahrung kann das digital Gesehene eben nur ungenügend in Kontext gesetzt und real eingeschätzt werden. Was sagen die Experten in den Alpenländern dazu?
Roland Ampenberger, Pressesprecher der Bergwacht Bayern: „Unsere Einsatzzahlen sind in den Sommermonaten in den letzten zehn Jahren deutlich angestiegen. Damit lässt sich ein Zusammenhang zwischen Werbung für die Berge, Anzahl der Menschen und Anzahl der Unfälle herstellen. Einen unmittelbaren Zusammenhang zum Risikoverhalten abzuleiten, sehe ich eher als fragwürdig an. Mir persönlich sind keine Studien oder eindeutige Belege bekannt, die sich explizit mit diesen komplexen Fragestellungen auseinandersetzen. Was aber klar sein dürfte: Die Inspiration, der Wunsch nach dem Erlebnis, aber auch Formen des Leistungsdrucks werden durch die vielen digitalen Bilder angeregt.“
Mario Ammann von der Initiative Sicheres Vorarlberg meint: „Solche Medien haben eine extreme Kraft, aber es fehlt der Kommunikation die Tiefe und die Auseinandersetzung mit einem Thema – ein Bild oder ein Satz bringen unser Hirn zwar sehr schnell in Schwung und wir spinnen uns alles Mögliche zusammen, aber meist ist dies weit weg von der Realität.“
Ueli Mosimann sieht für die Schweizer Berge einen klar zunehmenden Trend bei den Bergnotfällen (Erschöpfung, Verirren, Blockierung), die Bergnotfallstatistik des SAC verzeichnete für 2021 so viele Bergrettungen wie nie zuvor. „Was auch damit zusammenhängt, dass mehr unerfahrene Leute unterwegs sind. Die sozialen Medien sind hier bestimmt nur ein Faktor von vielen, der dazu beiträgt. Einen signifikanten Anstieg in gewissen, sprich jüngeren Altersgruppen können wir nicht erkennen.“
Insgesamt wird der Bergsport aber relativ gesehen immer sicherer, da trotz stetig zunehmender Anzahl an Menschen, die in die Berge gehen, die Alpintoten ziemlich konstant bleiben. Neben der verbesserten Ausrüstung und den fundierten Ausbildungen ist das eben zu einem Teil wohl auch der erhöhten Informationsdichte und der leichten Bedienbarkeit digitaler Tools zuzuschreiben, sind sich die Sicherheitsexperten einig. Durch die massiv verbesserte Aufklärungsarbeit wie zum Beispiel durch die Lawinenwarndienste, die Alpenvereine oder auch einige private „Risiko-Influencer“ gibt es einen Gegeneffekt zum „höher, schneller, steiler“, der Empfänger*innen auf niederschwellige Art und Weise für alpine Gefahren sensibilisiert und mit wertvollem Wissen aus dem Gelände auch aufklärt.
Viva la Gruppendruck
Social-Media-Kanäle zu bedienen machen die Alpenvereine nicht, weil es gerade hip ist, sondern auch, weil es eine neue Form der Öffentlichkeitsarbeit darstellt. Und weil sich manche, vor allem jüngere Zielgruppen nur noch so erreichen lassen. „Gerade junge Menschen sind, ob in ihrer Sturm-und-Drang-Phase oder wegen fehlender Erfahrung, besonders anfällig für gefährliches Halbwissen und in der Phase der Selbstfindung einer ausgeprägten Bringschuld in Sachen Selbstvermarktung ausgesetzt“, weiß Dani Tollinger, die Koordinatorin des risk’n’fun-Ausbildungsprogrammes des Österreichischen Alpenvereins für junge Menschen. Frei nach dem Motto: „Was die kann, kann ich auch.“
Weil plötzlich nicht mehr nur die Dorfkinder die Peergroup sind, sondern man sich im Digitalen gleich mit der ganzen (westlichen) Welt messen kann (oder vielleicht sogar muss), liegt die Latte naturgemäß gleich deutlich höher. The pressure is on! Wenngleich Tollinger präzisiert: „Nach meinen Beobachtungen sind es nicht so sehr die megabekannten Freerider, die auf junge Leute Druck aufbauen, es passiert eher ganz nah an der eigenen Lebenswelt. Es ist mehr der eigene Freundeskreis, der pushed und anschiebt. Diesen Mechanismus zu entlarven und sich die Frage zu stellen: ‚Was macht das mit mir?‘, hilft sehr, im Gelände entspannter zu bleiben.“
Was es aber auslöst, wenn man via soziale Medien immerwährend sieht, was denn „alle anderen“ gerade so Episches da draußen machen, ist stark abhängig von der eigenen Persönlichkeit und davon, „wie das Selbstwertgefühl kalibriert ist“, weiß Alexis Zajetz, Psychotherapeut und Mitglied im ÖAV-Lehrteam „Gruppen leiten“. „Mit gutem Selbstwert kann man aber über der Selbstdarstellung der anderen stehen und diese viel- leicht spannend, aber nicht pushend finden. Wenn mein Ideal-Ich von meinem Real-Selbst aber weit entfernt ist, kann so eine idealisierte Darstellung bei manchen Leuten schon mal einen Risikoschub auslösen. Der Versuch, diesen Idealen zu entsprechen, kann einen über die eigenen Grenzen schieben.“ Visuelle Dauerbeschallung ist ein Faktor, den auch viele Athletinnen im Gespräch erwähnen:
Wir nehmen zunehmend extreme Bilder als neue Realität – oder noch viel schlimmer, als neue Normalität – wahr.
Nico Metz
„Die ständige Konfrontation mit heroischen Bildern sorgt für eine Verzerrung unserer Wahrnehmung, ungeachtet der tatsächlichen Verhältnisse am Berg“, sagt Nicolas Metz, Snowboarder und aktiver Risiko-Kommunizierer. „Wir nehmen zunehmend extreme Bilder als neue Realität – oder noch viel schlimmer, als neue Normalität – wahr.“ Nachdem im Februar 2022 innerhalb eines Tages sieben Wintersportlerinnen in Lawinen verstarben und trotz heikelster Verhältnisse viele Schönwetter-Posts vergangener (und sicherer) Tage durch den Äther schwirrten, resümiert er: „Lasst uns ehrlich sein: Instagram ist die größte Lüge, die die Wintersportszene je gesehen hat!“
Eine der Hauptgefahren beim ernsthaften Bergsteigen ist ein zu großes Volumen, also zu viele Touren in kurzer Zeit.
Roger Schäli
„Heißt, ich bereite mich auf die einzelnen Unternehmungen zu wenig gewissenhaft vor“, meint Roger Schäli, Profialpinist. „Und dieser Druck, noch schnell was reinzuquetschen, der wächst. Man wird von all den gesehenen Klettereien durchaus beeinflusst, das ist schon eine Crux. Am Bildschirm hänge ich immer mit dem halben Fuß im Leben eines anderen Kletterers – dabei sollte ich primär meine eigenen Bedürfnisse wahrnehmen.“
„Ich sehe den Ursprung des Phänomens in der Überreglementierung unserer Gesellschaft. Generell überschätzen sich die Leute heute schneller als früher, weil der Bevölkerung bei uns im Westen der Großteil an Entscheidungen auch im alltäglichen Leben abgenommen wird. Social Media erweckt in den Konsumenten ein Gefühl von ‚ich muss mehr leisten‘, ‚ich bin nicht gut genug‘ … in unserer Gesellschaft zählt vor allem Leistung und das wird durch die sozialen Medien befeuert“, sagt Alpinist Simon Messner. „Was fehlt, ist die Bereitschaft, langsam zu lernen, step by step.“
Hilfe, ich bin ein Social-Media-Star –was kann ich tun?
- Sei ehrlich: Poste auch mal von schlechten Verhältnissen. Mache ersichtlich, wenn du altes Archivmaterial postest, das nicht zu den aktuellen Verhältnissen passt.
- Sei mutig: Berichte vom Scheitern, vom Verhauer, vom unnötig eingegangenen Risiko. Nur so können wir als digitale Alpincommunity dazulernen und müssen die Fehler nicht erst selber machen.
- Sei realistisch: Spiegelt dieser Post jetzt einigermaßen die Realität wider oder beschönige ich diese bewusst?
- Zeige Verantwortung: Auch wenn dein Account nur 15 Follower hat, die Empfänger deiner Botschaften sind immer Menschen, die durch deine Inhalte beeinflusst werden. Den Verzicht auf eine riskante Abfahrt oder den Gipfel zu kommunizieren, zeugt von Kompetenz und erzeugt Vertrauen sowie eine persönliche Nähe.
- Übe den Verzicht: Es kann auch sehr befreiend sein, Bergtouren zu unternehmen, ohne jeden Schritt zu dokumentieren – erleben statt inszenieren.
Àpropos Verantwortung
Es findet ein langsames Erwachen statt, digital Aktive werden sich mehr und mehr ihrer Verantwortung bewusst, vom privaten Boulder-Erschließer bis zum Star der Freeride Worldtour (Gedanken über Verantwortung von Pro-Skier Arianna Tricomi nach dem Tod eines jungen Freeriders nach einem Lawinenunglück 2021 hier). Ein Element davon ist das Geotagging, das exakte Verorten des Bildes oder Videos. Lässt man Namen und GPS-Daten bewusst weg, ist es meist nur mehr ortskundigen Personen möglich, einen Post geografisch zuzuordnen – was potentielle, der Herausforderung eventuell nicht gewachsene Follower davon abhält, die Action am Foto für ein paar Likes zu reproduzieren und sich dabei möglicherweise in Gefahr zu bringen.
Diese Dynamik können die Alpenvereine, Fachmedien und -organisationen, aber auch Private als Chance begreifen, die wichtige Zielgruppe mit adäquaten Inhalten genau dort abzuholen, wo sie sich aufhält. Sie alle können mit intelligenter Präventions- und Jugendarbeit den Mut zum gesunden Risiko propagieren und gleichzeitig, Post für Post, Selbstüberschätzung verhindern. Und bei jungen Menschen ein Selbstbewusstsein aufbauen, das nicht im Wettbewerb um quantifizierte Aufmerksamkeit entsteht, sondern in sozialer Verantwortung gegenüber Mitmenschen. „Was wäre, wenn wir unsere Energie, unser Wissen und die Dynamik sozialer Medien dafür einsetzen, andere besser zu informieren, und gemeinsam dieses Ziel verfolgen? Was wäre, wenn wir diese Darstellung mit sinnvollen Informationen über aktuelle Verhältnisse ergänzen, die wir an unsere Gruppe weitertragen? Was wäre, wenn wir damit einen Beitrag leisten, dass einerseits alle ein bisschen ‚social hero‘ sein können und andererseits fundiertes Wissen trendy wird? Was wäre, wenn auch manche Institutionen starten würden, solchen Content zu verbreiten?“, schreibt Riki Daurer in ihrer Conclusio im bergundsteigen #110.
Fehler passieren oder: shit happens
Als Beispiel, wie das in der Praxis funktionieren kann, lohnt ein Blick über den großen Teich: In Sachen allgemeiner Fehlerkultur lässt sich einiges von den Nordamerikanern lernen. Das Kredo: Fehler passieren – shit happens. Lerne daraus, bessere sie aus und mach es dann beim nächsten Mal besser. Während in Europa hauptsächlich fatale Lawinenabgänge oder tödliche Kletterunfälle von professionellen Institutionen wie den Lawinenwarndiensten oder dem Kuratorium für alpine Sicherheit analysiert werden, gehen die „Beinahe-Unfälle“ allgemein unter.
„Fehler, die ohne große Konsequenzen bleiben, müssen zukünftig auch offen und reflektiert über Social Media gepostet werden. Diese Zuständigkeit liegt aber primär im persönlichen, nicht im professionellen Bereich: Vom kleinen, privaten Account bis zum gesponserten Athleten. Damit Risiko und Fehler auch ein Teil der Welt der Berge im Internet sind – wie in der Realität eben auch“, meint Lukas Ruetz, Lawinen-Blogger und beim Tiroler Lawinenwarndienst für die Social-Media-Kanäle zuständig. Auch fordert er von professionellen Institutionen nicht nur Wissenschaft, sondern vielmehr Wissenschaftsjournalismus, der rationale Erkenntnisse in einen emotionalen und gut fassbaren Rahmen einbettet. Denn nur so kann Risikobewusstsein auch breitenwirksam angenommen werden.
Fehler, die ohne große Konsequenzen bleiben, müssen zukünftig auch offen und reflektiert über Social Media gepostet werden.
Lukas Ruetz
Auch viele amerikanische Bergführer verbreiten neben den lachenden Gesichtern ihrer Kund*innen auch proaktiv Tech-Tipps und Sicherheitsinformationen in niederschwelligen Kurzvideos. Wichtig ist für Ruetz eine Unterscheidung: Generell geht es um eine Verbesserung des Risikobewusstseins, nicht um eine generell anzustrebende Reduktion des Risikos. Denn mit einem höheren Risikobewusstsein wird automatisch das durchschnittlich eingegangene Risiko geringer. In unserer überversicherten Gesellschaft sind die Berge für viele eine letzte Arena der Freiheit, es steht jedem offen, ein hohes Risiko einzugehen. Nur muss dieses Risiko bewusst eingegangen werden, nicht versehentlich – deshalb wäre es wünschenswert, wenn eingegangene Risiken auch offen und aktiv in der nachfolgenden Mediendarstellung mit- kommuniziert werden, vom persönlichen WhatsApp-Profilbild bis zum tausendfach geteilten Kurzvideo des TikTok-Stars.
The challenge is on
Die Fütterung von Social-Media-Accounts ist eine Gratwanderung zwischen dem Mythos einer akribisch angestrebten Individualität und einer plattformspezifischen Konformität. Neben der oft sehr sinnvollen und kostengünstigen Möglichkeit, eine junge (oder gar nicht mehr so junge) Zielgruppe mit wertvollen Informationen zur möglichst sicheren Ausübung der Leidenschaft Bergsport zu versorgen, heißt es eben auch, sich
seiner Verantwortung bewusst zu sein und sich zu fragen: Braucht es diesen Post jetzt wirklich? Welche Vorstellungen vermittle ich den Rezipient*innen damit? Passt er in den aktuellen Kontext? Natürlich gibt es kein Patentrezept für den „richtigen“ Umgang mit den (a)sozialen Medien, die Technik ändert sich ohnehin schneller, als sich die Konventionen dazu entwickeln. Wichtiger sind Überlegungen, die über der Technik stehen: Welche Werte will ich mit meinen digitalen Inhalten vermitteln? Kann ich mit meinen Posts vielleicht jemandem etwas Sinnvolles beibringen, Häppchen für Häppchen?
Es geht um einen neuen Respekt vor Mutter Natur, die nicht zur reinen Kulisse für persönliche Inszenierungen degradiert werden will, sondern das Fundament allen Lebens ist. Wer sich in ihr bewegt, sollte das (wieder) aus eigenem, innerem Antrieb tun und nicht, weil er den akuten Blähungen irgendeiner Community folgt. Es geht um ein bewusstes Innehalten vor dem Drücken auf den Publish-Button, um ein gezieltes Langsamwerden. Es geht darum, die Kultur des Sensationalismus hinter sich zu lassen und sich wieder vermehrt fundierten Debatten zu widmen – um beispielsweise emotionale Zuspitzungen gekonnt zu kontern. Es geht auch darum, die profitmaximierenden Geschäftspraktiken der Plattformen zu verstehen und entsprechend reflektiert zu handeln. Schlussendlich kumuliert das in einem Gedanken, den man bereits von den eigenen Eltern zur Genüge gehört hat: Du musst nicht überall mitmachen, nur weil es alle anderen tun. Und nicht überall reinfahren, nur weil es andere gepostet haben.
O-Töne aus der Blase
@alexander_huberbuam, Profialpinist: „Verursacht durch die zeitnahe und aktuelle Berichterstattung – die auch unreflektiert und ungefiltert stattfindet – gibt es immer wieder die Animation durch social media, der dann mehr oder weniger viele tatsächlich folgen. Oft zu Lasten der Destinationen und im Bezug zum Alpinismus auch zu Lasten der Sicherheit, denn in online schaut es dann beizeiten leichter aus, als es tatsächlich ist.“
@ulligunde, Berg-Podcasterin: „Ich persönlich bin ein bisschen gelangweilt vom social media bashing. Es gab auch früher einen von zehn, der dummes Zeug gemacht hat, das ist jetzt immer noch so. Die meisten Leute haben nach wie vor ein völlig natürliches Risikobewusstsein. Für mich als weibliche Bergsteigerin ist es extrem vorteilhaft zu sehen, dass es auch andere Frauen gibt, die extreme Sachen machen.“
@kilianjournet, Trailrunner: „Even if this might sound extreme, it’s too common to see athletes without a mountaineering experience to plan or jump into mountaineering activities without any knowledge of the risks and dangers they might be facing. And often nothing happens, but without noticing they’re close to big consequences.“
@nicometz, Risiko-Influencer: „Durch die Dauerbeschallung wird die digitale Welt zu unserer Realität. Ähnlich einer Lüge, die man so häufig wiederholt, bis sie geglaubt wird. Der Effekt ist in der Psychologie als Illusory Truth Effect bekannt. Ich glaube es ist wichtig, das Problem real anzugehen. Wenn man jetzt rein die Illusory Truth nimmt, wird einem klar, wie aussichtslos eigentlich die social-media-Bemühungen von Lawinenwarndienst und Co sind. Da gibt‘s 2.000 Ski-Influencer und Profis draußen und einen Account, der die realen Bedingungen zeigen soll. Rein quantitativ ist schnell klar, welcher Content weiter verbreitet wird.“
@camoflash123, Bergsportlerin: „Definitiv beeinflussen uns atemberaubende Bilder und die Macht, die große Accounts haben. Vieles dreht sich nur noch um Werbung und Likes/ Reichweite. Dadurch erhöht sich meiner Meinung nach das Risikoverhalten, weil jeder meint, dass er noch das bessere Bild braucht. Leute haben ein schlechtes Gewissen, weil sie heute noch keine aktuelle Story posten konnten, weil sie mal Pause machen oder Erledigungen zu tun haben. Instagram vermittelt ein Bild von Freizeitüberschuss, das kann andere zusätzlich belasten.“
@christophhapp, Bergretter und PhD-Student, hat seine Accounts kürzlich gelöscht. Warum? „Wollen wir es wirklich riskieren, dass wir durch stundenlanges Verweilen in sozialen Netzwerken Zielfunktionen zum Opfer fallen, die ökonomische Hintergründe haben? Ich habe über mich gelernt, dass ich diese zarte Blume meines eigenen Willens, meiner Neugier und meiner Wahrnehmung nicht mit einem sozialen-Medien-LKW überfahren will. Ich hör lieber in mich hinein und frag mich, was ich wirklich vom Berg will. Diese Storys mit tollen Bildern und geheimen Locations sind ja letztlich nur ein jämmerlicher Beweis, dass es hier nicht um das Teilen einer Geschichte geht, sondern um die Vermarktung der eigenen Person.“