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Brooke Raboutou beim Lead Final. Foto: Drapella/Virt/IFSC
19. Sep 2024 - 8 min Lesezeit

Olympia-Rückblick: Die Kunst des Kletterns

Zweites Gold, neue Weltrekorde und überraschende Wendungen: Die Höhepunkte der Olympischen Spiele 2024 in Paris.

Für alle, die bereits bei den Olympischen Spielen in Tokio vor drei Jahren dabei waren, fühlte sich Paris 2024 wie ein erneutes Debüt des Sportkletterns an. Während in Tokio noch die Zuschauer fehlten, kämpften die Athletinnen und Athleten in diesem Jahr vor ausverkauften Rängen in Le Bourget im Nordosten Paris‘ um die Medaillen.

Eine weitere Neuerung: Das Internationale Olympische Komitee vergab in diesem Jahr gleich zwei Medaillensätze pro Geschlecht. Aus dem „Olympic Combined“ aus Lead, Bouldern und Speed, wurden separate Medaillen – eine für Speedklettern und eine für das neue Format Boulder & Lead. Insgesamt gingen 68 Athletinnen und Athleten in Paris an den Start.

Was sonst noch Überraschendes geschah? Unsere Autorin Nadine Regel, die bei allen Wettkämpfen live dabei war, fasst die sieben Highlights der Olympischen Spiele 2024 zusammen.

Zweimal Olympisches Gold für Januar Garnbret. Foto: Drapella/Virt/IFSC
Zweimal Olympisches Gold für Janja Garnbret. Foto: Drapella/Virt/IFSC

1. Zitterpartie um Gold im Boulder & Lead

Die Goldmedaille im Boulder & Lead der Frauen schien fest in den Händen einer Favoritin: Niemand hätte erwartet, dass Janja Garnbret sich die Chance auf ihr zweites Olympisches Gold entgehen lässt. Doch Olympia lehrt eines: Der Druck ist immens, und alles kann passieren. Im Halbfinale glänzte die Slowenin mit einer nahezu perfekten Leistung und erzielte 195,7 von 200 möglichen Punkten.

Doch das Finale brachte unerwartete Wendungen: Während Garnbret die ersten beiden Boulder noch flashte, hatte sie an Boulder drei und vier Schwierigkeiten und verletzte sich sogar bei ihrem vorletzten Versuch an der Platte. Bis zum Start der Leadrunde blieb ungewiss, ob und in welchem Zustand sie antreten würde. Am Ende kletterte Garnbret in der Leadroute jedoch zu Gold. Die US-Amerikanerin Brooke Raboutou errang Silber, und eine überglückliche Jessy Pilz aus Österreich sicherte sich Bronze.

Nach dem Wettkampf sagte Garnbret, dass sie während des Finales dreimal geweint habe: einmal vor dem Wettkampf aus purem Druck, dann, als sie sich beim Bouldern verletzte, und schließlich am Ende, als sie realisierte, dass sie Gold gewonnen hatte und sich mit ihren Konkurrentinnen in den Armen lag.

Die drei Medaillengewinnerinnen im Bouldern & Lead: Raboutou holt Silber, Garnet Gold und Pilz Bronze (v.l.n.r.). Foto: Drapella/Virt/IFSC
Die drei Medaillengewinnerinnen im Bouldern & Lead: Raboutou holt Silber, Garnbret Gold und Pilz Bronze (v.l.n.r.). Foto: Drapella/Virt/IFSC

2. Zeit für die nächste Generation?

In Paris trafen im Sportklettern der Männer zwei Generationen aufeinander. Auf der einen Seite standen die erfahrenen Routiniers wie Adam Ondra, Jakob Schubert und Alexander Megos – alle über 30 Jahre alt und Leadspezialisten. Ondra und Schubert schafften beide den Sprung ins Finale, wobei Schubert sich mit Platz drei seine zweite olympische Bronzemedaille sicherte.

Mit dem dritten Platz im Bouldern & Lead sicherte sich Schubert  seine zweite olympische Bronzemedaille. Foto: Drapella/Virt/IFSC
Mit dem dritten Platz im Bouldern & Lead sicherte sich Schubert seine zweite olympische Bronzemedaille. Foto: Drapella/Virt/IFSC

Gold und Silber gingen an die jüngsten Athleten in der Runde: Toby Roberts, 19, aus Großbritannien, und Anraku Sorato, 17, aus Japan. Die neue Generation zeichnet aus, dass ihre Sozialisation mit dem Klettern in Gyms stattgefunden hat und sie den New-School-Stil im Bouldern mitgeprägt haben. Die neuen dynamischen Züge sind auf sie und ihre Physis maßgeschneidert. Entsprechend übernehmen sie vor allem im Bouldern das Zepter, wo sich die ältere Generation zunehmend schwerer tat. 

Wie zur Selbstversicherung folgten nach den Spielen Posts von Ondra und Megos, den stärksten Felskletterern der Welt, auf Social Media: Adam Ondra schrieb, dass er nachgezählt habe, wie viele Routen er im Schwierigkeitsgrad 9a bisher geklettert habe – beeindruckende 212 Routen. Zuletzt kletterte er im Februar die Route Narcissus im Val Pennavaire, Italien. Auch Alexander Megos feierte einen Erfolg: Nur wenige Tage nach den Spielen kletterte er die Route Change (9b+) in der Hanshelleren-Höhle in Flatanger, Norwegen, die Ondra erstbegangen hatte.

Jakob Schubert in Project Big. Foto: Moritz Klee

Heute ist weniger Ego im Spiel„: Jakob Schubert und Adam Ondra über Rivalität, Grenzen und mentale Stärken. Hier gehts zum Interview.

3. Von Einzelmedaillen und den Schnellsten der Welt

Für die nächsten Spiele in Los Angeles 2028 sind getrennte Medaillensets für alle drei Disziplinen im Gespräch. Beim Speedklettern zeigte sich, wie der Fokus auf eine Einzeldisziplin das Leistungsniveau steigern kann. Sowohl die Männer als auch die Frauen verbesserten den bisherigen olympischen Rekord deutlich und stellten neue Weltrekorde auf. Sam Watson (USA) schaffte die genormte Route in 4.74, Aleksandra Miroslaw (POL) in 6.06 Sekunden. 

Athleten wie Adam Ondra, Jakob Schubert, Alberto Ginés López und Jessy Pilz erwägen nur dann eine Teilnahme an den Spielen in Los Angeles 2028, wenn Lead als eigenständige Disziplin an den Start geht. Jakob Schubert sagte nach dem Finale: „Ich werde wohl nicht noch vier Jahre Bouldern trainieren, dafür sind die jungen Wilden in dieser Disziplin zu stark. Aber im Lead fühle ich, dass ich immer noch Leistung bringen kann.“

Auch Adam Ondra äußerte sich skeptisch zur Kombination Boulder & Lead. „Mein Körper ist nicht für Bouldern gemacht. Ich möchte meine Karriere am Fels noch viele Jahre fortsetzen, ohne meinen Körper durch Bouldern komplett zu ruinieren.“ Damit nimmt Ondra auch Bezug auf den modernen Schraubstil: „Die Diskussion über Routen und die Verletzungsgefahr beim Bouldern geht seit Jahren, aber aus meiner Sicht wird es schlimmer.“

Wahrscheinlich beende ich meine Karriere im Bouldern. Das überlasse ich der neuen Generation.

Adam Ondra

4. Paraklettern auf der ganz großen Bühne

Im Juni 2024 gab das Internationale Paralympische Komitee (IPC) bekannt, dass Paraklettern bei den Paralympics 2028 in Los Angeles erstmals probeweise dabei sein wird. Der Bewerbungsprozess startete bereits 2022, als sich 33 Sportarten um einen Platz im paralympischen Programm bewarben. Nach einer ersten Auswahlrunde wurden 22 Sportarten akzeptiert, und am Ende setzte sich Paraklettern als zusätzliche Disziplin gegen Parasurfen durch. Wie viele Medaillensätze vergeben werden und welche der zehn Klassen je Geschlecht in Los Angeles an den Start gehen, entscheidet das IPC im kommenden Jahr. 

5. Mehr Diversität im Sportklettern

Molly Thompson-Smith und Bassa Mawem, der seine Karriere nach seinem Olympia-Auftritt im Speed beendete, äußerten sich beide zum Thema Diversität im Sportklettern. Die Britin Thompson-Smith sagte, dass sie sich als „Aushängeschild für Inklusion und Vielfalt“ sehe. Für sie sei die Qualifikation für Olympia besonders bedeutsam gewesen, da sie hoffte, damit die Inklusion und Vielfalt im Klettersport zu verbessern. Augenöffnend sei es für sie gewesen, im Olympischen Dorf so viele Menschen mit verschiedensten Hintergründen zu treffen. 

Der Franzose Bassa Mawem, der auch schon in Tokio dabei war, bezieht sich vor allem auf die mangelnde Vielfalt im französischen Klettersport und nennt finanzielle Hürden als einen der Hauptgründe. „Klettern ist ein teurer Sport. Es ist teuer, Kletterschuhe zu kaufen, es ist teuer, Zugang zu einer Halle zu haben.“ Er und sein Bruder Mickaël Mawem (ebenso Olympiateilnehmer in Tokio) arbeiten bereits an Zugangskonzepten für Jugendliche, die sich den Sport in Kletterhallen sonst nicht leisten könnten. 

6. Nachhaltige Spiele in Paris

Neben dem Aquatics Centre in Saint Denis, das für Turmspringen und Wasserpolo genutzt wurde, entstand für die Olympischen Spiele in Paris nur noch die Kletteranlage in Le Bourget neu. Der Internationale Kletterverband (IFSC) verfolgt mit einem Legacy-Plan das Ziel, diese Anlage und das verwendete Material für zukünftige Generationen nutzbar zu machen. 

Die Klettergriffe und Volumen werden nach Jordanien, Südafrika, Australien und El Salvador verschickt, um den Wettkampfsport im Klettern dort weiterzuentwickeln. Zudem bleibt die Kletterhalle in Le Bourget, die während der Spiele als Trainingsstätte diente, Teil des Olympischen Vermächtnisses und steht nun der Öffentlichkeit zur Verfügung.

7. Zwischen Traum und Albtraum: Persönliches Fazit

Meine Arbeit als Reporterin bei den Olympischen Spielen war absolut überwältigend – im wahrsten Sinne des Wortes. Die Erfahrung schwankte zwischen Traum und Albtraum, denn auch für mich war der Druck enorm. Besonders eindrucksvoll war die Atmosphäre in Le Bourget, die viele Athletinnen und Athleten als das Intensivste beschrieben, das sie je bei einem Wettkampf erlebt haben.

Sportklettern fasziniert so viele Menschen, und obwohl jede und jeder für sich allein an der Wand kämpft, bleibt der Zusammenhalt in der Community spürbar stark. Was mich amüsierte: Menschen, die wenig mit Klettern oder Outdoorsport zu tun haben, assoziierten Klettern oft nur mit dem Speedklettern. Irgendwie verständlich, weil Lead und vor allem Bouldern deutlich komplexer sind. 

Ich hoffe sehr, dass wir in Los Angeles drei Medaillensets sehen werden, damit sich jede Disziplin eigenständig weiterentwickeln kann.