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Nikolai Schirmer am Store Lenangstind (1624m) in den Lyngen Alpen.
08. Nov 2023 - 17 min Lesezeit

Nikolai Schirmer: „Ich habe akzeptiert, dass ich bei dem, was ich tue, sterben kann.“

Der norwegische Freeride- und YouTube- Star Nikolai Schirmer spricht über Scheitern und Risiko in den Bergen sowie 22 frische Stiche im Oberschenkel – und lässt dabei für bergundsteigen wortwörtlich die Hosen herunter.

Wie sagt man eigentlich „Scheitern“ oder „Ich bin gescheitert“ auf Norwegisch?

„Å feile“. Und „jeg feilet“. Es bedeutet das Gleiche wie „failure“ im Englischen. Es klingt auch ähnlich.

Was bedeutet für dich Scheitern in den Bergen?

Wenn ich in den Bergen sterben würde. Oder mich schlimm verletze. Aber Scheitern wäre für mich auch das, was manchen passiert, die die Berge nur noch ernst nehmen: dass sie keinen Spaß mehr daran haben.

Was hast du vom Scheitern gelernt?

Dass es nichts bringt, erfolgreich zu sein, wenn man dabei nicht auch Spaß hat.

Nikolai Schirmer
Der Norweger Nikolai Schirmer (geboren am 1. Februar 1991 in Tromsø) verbindet Skifahren und Filmen: Seine Videos – oft witzig, manchmal krass und ganz anders als der Skiporn von anno dazumal – zeigen ihn und seine Freunde beim Tourengehen und Freeriden in den Bergen Norwegens. Er erreicht damit eine Followerschaft, die ihm ein Leben als Skiprofi (seine Hauptsponsoren: Black Crows Skis und Norrøna)
ermöglicht. Auf seinem YouTube-Account zählt er 133.000, auf Instagram folgen ihm fast 97.000 Abonnenten. Sein meistgesehenes Video „I’ve never seen anybody ride that fast!“ (Endless Winter 3) auf YouTube hat 1,2 Millionen Aufrufe. Das Skifahren hat Schirmer als kleiner Junge auf Langlaufskiern gelernt: auf einem Hügel hinter der Kirche, 344 Kilometer nördlich des Polarkreises.

Wie definierst du Scheitern bezogen auf das Tourengehen oder das Freeriden?

Wenn ich die Schneedecke – was Lawinen angeht – falsch interpretiere. Aber auch wenn ich das Sluff Management – den nachrutschenden Schnee – falsch kalkuliere. Wenn ich bei dem einen oder anderen falsch liege, meldet sich der Berg sehr unmittelbar zurück. Wenn ich Pech habe so, dass ich sterbe.

Du beantwortest auf YouTube ziemlich viele User-Kommentare zu deinen Videos. Wovon hängt ab, ob du auf Kommentare reagierst oder nicht?

Manchmal geht es einfach nur darum, ein Missverständnis richtigzustellen. Oder eine Frage zu beantworten, die sich für jemanden aus dem Video ergibt. Ziemlich oft schalte ich mich ein, wenn meine Entscheidungsfindung am Berg diskutiert wird. Womit ich prinzipiell kein Problem habe – ganz im Gegenteil. Aber manchmal gibt es Leute, die glauben, dass sie es nur deshalb besser wissen, weil sie im Video fünf Sekunden lang unser Schneeprofil gesehen haben.

Dazu muss man wissen, dass meine Videos – selbst wenn sie länger dauern – einen oder mehrere Ski-Tage sehr verdichten. Und dann gibt es noch Kommentare, die eher politisch sind, weil ich in manchen meiner Filme auch die Klimakrise oder soziale Fragen thematisiere.

„Ich gehe Risiken ein und muss darüber nachdenken, ob es das wert ist.“

Portrait Nikolai Schirmer.
Portrait Nikolai Schirmer. Foto: Christof Simon

Wie gehst du mit kritischen Kommentaren um?

Das sind eh erstaunlich wenige. Ich schätze, dass 98 Prozent aller Kommentare positiv sind. In den meisten heißt es: „Ich liebe deine Videos, Nikolai. Bitte mach weiter.“

Und die kritischen zwei Prozent?

Stören mich überhaupt nicht. Viele von ihnen haben ja recht: Ich gehe Risiken ein und muss darüber nachdenken, ob es das wert ist. Ich mache Fehler. Es wäre bei meinem Geschäftsmodell auch lächerlich, wenn ich empfindlich wäre gegenüber Kritik.

Worin besteht denn dein Geschäftsmodell?

Dass ich als Skifahrer eine öffentliche Person bin. Mein Skifahren hat nur deshalb einen finanziellen Wert, weil offensichtlich eine größere Anzahl von Menschen Spaß daran hat, sich mein Skifahren und meine Geschichten rund um das Skifahren anzusehen. Das funktioniert für mich und meine Sponsoren nur deshalb, weil ich damit ziemlich viele Leute erreiche. Dazu gehört auch, dass nicht jeder immer alles gut findet, was ich da mache.

Sonnenaufgang am Store Jægervasstindane (1543 m), im Norden der Lyngen-Halbinsel.
Sonnenaufgang am Store Jægervasstindane (1543 m), im Norden der Lyngen-Halbinsel. Foto: Krister Kopala

Wie rechtfertigst du für dich das Risiko?

Es gibt Untersuchungen, wonach das Skifahren im freien Gelände mit den üblichen Sicherheitsmaßnahmen weniger gefährlich ist als Autofahren.

Aber das bezieht sich ganz sicher nur auf den durchschnittlichen Tourengeher. Nicht auf einen Profi wie dich, der im Winter fast jeden Tag und in viel schwierigerem Gelände unterwegs ist als der Durchschnitt.

Richtig. Mein Risiko ist wahrscheinlich höher – ganz sicher sogar. Ich tue zwar alles, was ich kann, um es zu minimieren – durch Trainings, Vorsichtsmaßnahmen und meine Tourenplanung. Aber mir ist natürlich klar, dass es immer ein kleines Restrisiko geben wird, das man nicht kontrolliert. Ich habe das für mich akzeptiert.

Das heißt?

Ich habe akzeptiert, dass ich bei dem, was ich tue, sterben kann. Auch wenn ich denke, dass dieses Risiko ziemlich gering ist. Andererseits: Wenn ich sehe, was Hilaree Nelson (im September 2022 am Manaslu verunglückte US-Skibergsteigerin, Anm. d. Red.) passiert ist, finde ich das nicht akzeptabel. Wenn so etwas passiert, frage ich mich jedes Mal: Was machen wir da? Wie kann man das rechtfertigen? Besonders, wenn Kinder davon betroffen sind, weil sie auf einmal keine Mutter oder keinen Vater mehr haben. Für mich ist es ein ungelöster Konflikt, dass ich die Risiken, die ich eingehe, akzeptiere, es aber inakzeptabel finde, wenn so etwas Schlimmes passiert wie mit Hilaree.

In einem deiner Filme fragst du deinen Tourenpartner Kirsten, kurz nachdem ihr einer Lawine entkommen seid und er trotzdem nochmal aufsteigen möchte: „Würdest du das deiner Freundin erzählen?“ Darauf sagt er: „Nein, würde ich nicht.“ Worauf du antwortest: „Okay, dann tu es auch nicht.“

Wir nennen das den Girlfriend-Test, auch wenn die beiden mittlerweile verheiratet sind. Es zeigt auch, dass wir beide bei Weitem nicht so krass drauf sind wie Alex Honnold.

Was meinst du damit?

Es gibt da diese Szene in dem Film Free Solo. Da sagt Honnold, dass er seiner Freundin gegenüber nicht unbedingt die Verpflichtung verspürt, am Leben zu bleiben. Kann sein, dass er das mittlerweile, nachdem er Vater geworden ist, nicht mehr so sagen würde. Das ist doch schließlich DIE grundlegende Verpflichtung in einer Beziehung: Am Leben zu bleiben. Da zu sein. Wenn man sich nicht verpflichtet fühlt, am Leben zu bleiben, wie kann man sich dann verpflichtet fühlen, den Abwasch zu machen oder, ich weiß nicht, ein guter Liebhaber zu sein?

In einem Video über deinen Lawinenabgang im November 2020 sagst du, dass diese Lawine ein tiefes Nachdenken bei dir ausgelöst hat. Wie hat sich dein Risikomanagement seitdem verändert?

Zum einen ganz praktisch: Ich habe mich noch mehr als früher weitergebildet, was Schnee- und Lawinenkunde angeht. Ich bin etwas vorsichtiger geworden. Aber noch mehr ging es eigentlich um etwas anderes: nämlich zu akzeptieren, dass das Risiko nicht nur theoretisch da ist.

Kannst du das genauer erklären?

Bis zu dieser Lawine hatte ich das Risiko nie wirklich akzeptiert. Das Risiko war für mich nur eine Art abstrakter, lästiger Störfaktor zwischen mir und dem, was ich liebe: das Skifahren. Hinzu kam, dass ich mich plötzlich gegenüber der Familie meiner damaligen Freundin rechtfertigen musste: Die wollten von mir wissen, warum das Risiko, das ich offenkundig eingehe, für mich in Ordnung ist. So wie sie dem Risiko ausgesetzt waren, dass mir etwas passiert, war ich plötzlich ihren Fragen ausgesetzt. Ich musste mich erklären und mit Menschen, die mir nahestehen, darüber reden, was ich tue und weshalb ich glaube, dass es das trotz des Risikos wert ist.

Was hatte das für Auswirkungen auf dich?

Die Gespräche haben mich dazu gezwungen, eine explizitere, ehrlichere Beziehung zu den Risiken meines Berufs zu entwickeln. Ich musste darüber nachdenken, was ich eigentlich mache und ob es wirklich okay ist. Das war neu für mich, denn meine eigene Familie hatte sich ja nach und nach an das gewöhnt, was ich da mache. Ich habe ja nicht damit angefangen, mit 10 Jahren an einem Eispickel über einem Felsabsturz zu hängen.

Deine Familie ist mit dir in das Risiko hineingewachsen.

Ja, man wächst gemeinsam hinein und man gewöhnt sich daran. Für die Familie meiner damaligen Freundin war es ganz anders. Die waren ganz plötzlich mit mir, diesem Freak, konfrontiert – und den Risiken, die ich eingehe. Und dann gleich dieser Lawinenunfall. Ich musste mich also erklären. Und dabei ein paar Gedanken-Runden mit mir selbst drehen.

Und zu welchem Schluss bist du da gekommen?

Wir sind heute als Gesellschaft insgesamt ja sehr risikoscheu. Wir versuchen, das Risiko in jedem Bereich des Lebens zu minimieren. Den Tod selbst halten wir eigentlich für inakzeptabel. Es ist also ein bisschen schwierig oder widerspricht dem gesellschaftlichen Konsens, wenn jemand sagt: „Okay, ich nehme dieses Risiko für das, was ich liebe, in Kauf. Ich versuche, es so gut wie möglich zu machen.“

Aber man sollte gleichzeitig akzeptieren, dass es trotz allem schiefgehen und man dabei seine Gesundheit und – im schlimmsten Fall – sein Leben verlieren kann. Dass man dabei ganz schlimm und maximal scheitern kann. Man sollte also nicht so tun, als ob das nicht möglich wäre. Das meine ich mit akzeptieren. Natürlich will ich nicht, dass die Leute mehr Risiken ein-gehen als nötig. Aber ich glaube auch, dass viele Menschen bis zu einem gewissen Grad mehr Risiken in ihrem Leben eingehen könnten.

Weshalb?

Weil es sich auch lohnt, Risiken einzugehen. Die Möglichkeit zu scheitern: Das ist es, wo das Abenteuer beginnt. Es ist immer gut, risikoscheu zu sein, wenn es um Leben und Tod geht. Aber es gibt eine große Bandbreite zwischen einem vermeintlich komplett risikofreien Leben auf der Couch und dem sicheren oder wahrscheinlichen Tod. Viele der interessantesten Dinge im Leben sind mit einem gewissen Risiko verbunden. Und wenn das Risiko nicht zu groß ist, bricht man sich maximal die Hand. Ich habe zum Beispiel aktuell 22 Stiche in meinem Oberschenkel.

Wie das?

Von einem Mountainbike-Sturz am vergangenen Samstag. Eine miese Landung. Kannst du Blut sehen?

Ja.

Dann ziehe ich, wenn das okay ist, mal meine Hose herunter. (Schirmer zieht die Hose herunter)

Sieht ganz schön übel aus.

Der Reifen war wie eine Säge für meinen Oberschenkel. Aber es schaut schlimmer aus, als es ist. In zwei Wochen ist alles wieder verheilt. Kein Vergleich zu meiner letzten großen Verletzung. Da hatte ich mir etwas im Gesicht und drei Knochen an der Hand gebrochen.

Und eine Achillessehne gerissen.

Aber trotzdem geht es mir heute wieder total gut. Ich habe das Gefühl, dass unsere Gesellschaften sich zu sehr auf Zäune gegen jedes Risiko konzentrieren und jeden Baum polstern möchten, den das Leben aufstellt. Das Leben selbst ist riskant.

Wie hat deine Lawinenausbildung angefangen?

Im Teenageralter. Da bin ich vom Vater eines Freundes eingeführt worden. Das war, als ich 13 war, und wir beide unsere erste Tourenausrüstung bekommen haben. Sein Vater sagte: „Bevor ihr ins Gelände geht, müsst ihr wissen, wie man das LVS, die Schaufel und die Sonde benutzt.“

Ich frage, weil du in einem Interview mal gesagt hast: „Ich würde heute früher anfangen, mich über Schneekunde und Lawinenkunde zu informieren.“

Damit meinte ich, dass es am Anfang fast nur darum ging, was man macht, wenn es zu einer Lawine gekommen ist – und jemand dabei verschüttet wurde. Erst später ging es darum, wie man dieses Szenario von vornherein vermeidet. Wir wussten in meinen Anfängen als Tourengeher nicht wirklich, unter welchen Bedingungen eine Lawine ausgelöst wird. Was eine Schwachschicht in der Altschneedecke ist, war mir nicht klar, bevor ich 20 war. Und da war ich schon einige Jahre im Gelände unterwegs. Noch fatalistischer war es in den Generationen vorher. Da haben die meisten einfach „Oh“ gesagt, wenn etwas passiert ist, sie hatten nicht mal ein LVS-Gerät dabei und haben einfach nur das Beste gehofft. Lawinen galten als eine Art zufälliger Akt der Natur.

Seitdem ist natürlich sehr viel passiert.

Auf allen Ebenen. Ich finde zum Beispiel sehr gut, wie die Lawinenwarndienste – etwa in Norwegen, aber auch in Tirol – von den Tourengehern Beobachtungen zum Schnee und zu Lawinenereignissen per Crowdsourcing sammeln – und das dann verwerten und weitergeben. So beruhen Entscheidungen auf sehr viel mehr Datenpunkten als früher. Je mehr Beobachtungen man kennt, desto besser die Grundlage für die eigenen Entscheidungen.

Nikolai Schirmer am Store Lenangstind (1624m) in den Lyngen Alpen.
Nikolai Schirmer am Store Lenangstind (1624m) in den Lyngen Alpen. Foto: Vegard Rye

In deinen Videos geht es regelmäßig um kleine und größere Fehler. Aber vor allem um den Spaß und die Freundschaft auf Skiern. Wie hast du zu diesem Stil gefunden, der offensichtlich sehr gut ankommt?

Ich finde den Macho aus den Bergen, der immer den Nagel auf den Kopf trifft, eine ziemlich langweilige und unrealistische Figur. Ich finde so vieles von dem, was in den Bergen passiert, lustig. Auch die kleineren Pannen, Fehler und Situationen, die man meistern muss. Für mich macht das einen großen Teil des Spaßes in den Bergen aus. Es ist wie ein Abenteuer. Man weiß nicht, worauf man sich einlässt, und man scheitert ein bisschen, aber dann schafft man es gemeinsam, und das verleiht der ganzen Erfahrung einen viel größeren Wert.

„Man muss lernen, die Wirkung der Kamera auf sich selbst einschätzen zu können. Wir nennen das Kodak Courage: Man riskiert mehr, nur weil man gefilmt wird.“

Hast du von Anfang an versucht, in deinen Videos einen anderen Stil zu finden?

Wenn man Skifilme macht, die mit Musik unterlegt sind, findet man es zu Beginn noch ganz, ganz cool, wenn der Skifahrer mit seinem Turn oder seinem Sprung genau auf dem Beat landet. Wenn du das zwei-, drei- oder viermal gemacht hast, wird das schnell langweilig. So war es jedenfalls bei mir. Für einen Filmemacher ist es viel herausfordernder, eine kleine oder größere Geschichte rund ums Skifahren zu erzählen. Es war also Langeweile mit dem traditionellen Skiporn-Format, die mich dazu gebracht hat, nach anderen Möglichkeiten zu suchen, vom Skifahren zu erzählen. Dazu kommt eine ökologische Komponente.

Welche?

Ich habe irgendwann für mich beschlossen, dass ich umweltfreundlicher Ski fahren möchte. Auch als Skiprofi. Und dass das nur geht, wenn ich mich auf Norwegen und Europa beschränke. Und dass ich so umweltfreundlich wie möglich reisen möchte. Die meiste Zeit also mit dem E-Auto und per Zug, manchmal hingegen fliege ich. Gestern bin ich zum Beispiel mit dem Flieger nach München zur E.O.F.T. gekommen, weil ich am Vortag noch eine Veranstaltung in Oslo hatte. Ab hier geht es aber mit dem Zug weiter.

Auf welchen CO₂-Abdruck steuerst du zurzeit zu?

Ich hatte ihn vor drei Jahren von mehr als 40 auf 12 Tonnen reduziert – was dem norwegischen Durchschnitt entspricht. Seit 2021 habe ich nicht mehr mitgezählt, aber ich würde annehmen, dass es noch ein bisschen weniger geworden ist. Ich fahre jetzt ausschließlich elektrisch und fliege diesen Winter auch nicht nach Nordamerika – ich hatte zwei Einladungen nach New York und Boulder. Das habe ich abgesagt.

Was hat das für Folgen für dein Filmemachen?

Die Entscheidung, mich auf Europa zu beschränken, hat mich als Skiprofi und Filmemacher von jeder Menge Neuschnee abgeschnitten. In Kanada fällt dreimal so viel Schnee wie in Norwegen. Wenn man einen Skifilm dreht, ist das wichtigste Rohmaterial frischer Schnee. Ich musste mir also auch überlegen, wie ich filmisch damit umgehe.

Zum Beispiel, indem du nicht nur tolle Abfahrten zeigst, sondern auch das ganze Drumherum: Aufstiege, Besprechungen, Zustiege, Bootsfahrten.

Zumal das ja alles auch spannend ist. Besonders für Leute, die selber Tourengeher und Freerider sind. Beim Skitourengehen sind der Aufstieg, die Beurteilung der Schneeverhältnisse und die Routenplanung so wichtig und fordernd wie die Abfahrt. Außerdem kontextualisieren sie eine Abfahrt. Sie verleihen ihr einen Wert. Warum fühlt sich eine schwierige Linie so gut an? Weil man so viel dafür gearbeitet hat. Für mich ist das Skitourengehen mittlerweile die lohnendste Form des Skifahrens.

Du hast mal gesagt, dass sich die Skiszene, was guten Stil angeht, am Klettern orientieren sollte.

Beim Skifahren wurde Stil lange Zeit immer nur mit der Skitechnik oder mit Kleidung in Verbindung gebracht. Beim Klettern hat es schon viel früher eine Rolle gespielt, wie man sich dem Berg nähert und was man für Spuren hinterlässt. Wie man sich absichert. Und wie Stil mit Schwierigkeit korreliert. Beim Skifahren spricht man nicht so viel über solche Fragen. Dazu haben auch die traditionellen Skifilme beigetragen, die viel zu selten den Weg nach oben thematisiert haben. Dabei macht es natürlich einen Riesenunterschied, ob man sich hochfliegen lässt oder aufsteigt.

Du wirst in Zukunft also nie wieder mit dem Heli fliegen?

Ich bin kein Absolutist in solchen Fragen. Ich möchte auch nicht als jemand rüberkommen, der Helikopter und Schneemobile hasst und prinzipiell ablehnt. Im Gegenteil: Ich mag Helikopter und Schneemobile. Das Problem ist nur, dass sie mit fossilen Brennstoffen betrieben werden. Ich habe einmal sogar bei einem norwegischen Drohnenhersteller angerufen und gefragt: „Hey, könnt ihr mir eine Drohne besorgen, die mich auf den Berg fliegt?“ Aber so etwas gibt es noch nicht.

Wäre das denn überhaupt wünschenswert?

Ich glaube schon an eine technologische Zukunft mit reichlich grüner Energie und all diesen technischen Dingen, mit denen wir Spaß haben können, ohne dem Klima zu schaden. Aber klar: Der beste Stil wird immer der sein, wo man alles aus eigener Kraft bewältigt.

Was ist für dich die ideale Gruppengröße für das extreme Gelände, in dem du dich oft bewegst.

Fünf sind definitiv zu viel. Vier ist machbar. Besser sind drei und am besten ist es, wenn man nur zu zweit unterwegs ist. Die Kameraleute zähle ich dabei nicht mit. Auch weil sie meistens nicht da aufsteigen und abfahren, wo wir uns bewegen.

Glaubst du, dass durch das Filmen ein zusätzliches Risiko entsteht? Auch eine Art Termindruck?

Termindruck ist definitiv das Gefährlichste. Anfangs dachte ich auch: „Okay, jetzt sind zwei Wochen Drehzeit ausgemacht, alle stehen bereit, jetzt muss gedreht werden.“ Dann trifft man sehr schnell ziemlich schlechte Entscheidungen. Mittlerweile versuche ich, feste Drehtermine zu meiden, maximal flexibel und schnell zu sein. Gedreht wird, wenn es die Verhältnisse erlauben. Und was die Verhältnisse erlauben.

Hat das Gefilmtwerden eine psychologische Wirkung? Riskierst du mehr, wenn du gefilmt wirst?

Das ist in jedem Fall eine Gefahr. Man muss lernen, die Wirkung der Kamera auf sich selbst einschätzen zu können. Wir nennen das Kodak Courage: Man riskiert mehr, nur weil man gefilmt wird. Und weil vom Skifahren, wenn man gefilmt wird, plötzlich mehr abhängt als nur eine Abfahrt: schöne Bilder, Klickzahlen, Sponsorings. Merrick – eine meiner häufigen Tourenpartnerinnen und Mutter von zwei Kindern – ist beim Filmen gestürzt und wäre vom nachrutschenden Schnee beinahe über einen Abgrund gerissen worden, wenn es ihr nicht im letzten Moment gelungen wäre, sich mit den Stöcken in ein paar Felsen zu verhaken. Videos erzeugen auch Illusionen und Wunschträume.

Hat etwa der Boom in dem norwegischen Skitourenparadies Lyngen etwas mit dir und deinen Videos zu tun?

Vermutlich ein bisschen. Andererseits hat Lyngen eine lange Geschichte im Skisport. Vor mir waren schon andere da, um dort zu drehen. Aber manchmal treffe ich Leute in Lyngen, die mir dann sagen, dass sie auch wegen meiner Videos gekommen sind. Das finde ich cool. Ich mag es, wenn sich Leute von der Freude, die ich am Skifahren habe, inspirieren lassen.

Keine Angst, dass zu viele kommen?

Nein. Mein Gelände-Geschmack beim Skifahren ist für die meisten viel zu eigenartig und extrem. Die meisten wollen das nicht abfahren, was ich abfahre.

Der Chefredakteur von bergundsteigen, Gebi Bendler, hat als Bergführer im vorletzten Winter zwei Wochen lang in Lyngen geführt. Bei Lawinenwarnstufe 4 wollten manche seiner Gruppe die Nikolai-Schirmer-Lines fahren, die sie auf der Karten- und Track-App FATMAP entdeckt hatten. Er musste ihnen dann erklären, dass das bei Lawinenwarnstufe 4 leider nicht möglich ist.

Ich versuche schon zu kommunizieren, dass ich so etwas nicht jeden Tag mache. Und dass ich oft sehr lange auf sichere Bedingungen warte. Und dass ich es nicht machen würde, wenn es nicht einigermaßen sicher ist. Vielleicht muss ich das manchmal noch deutlicher sagen. Tut mir leid für deinen Chefredakteur, dass er der Spielverderber sein musste.

Hier geht es zum Youtube-Channel von Nicolai Schirmer.

Erschienen in der
Ausgabe #122 (Frühling 23)

bergundsteigen #122 cover