Nachwuchsalpinisten: Balanceakt zwischen Bremsen und Fördern
Kurz bevor das Training des DAV-Expedkaders 16–18 losgeht, verunglückt eines der Mitglieder bei einer privaten Klettertour. Wenige Jahre später gibt es weitere Todesfälle. Zwischen 2018 und 2021 sterben drei Absolventen des Programms – wiederum nicht bei Kadermaßnahmen, sondern bei privaten Touren beziehungsweise bei der Arbeit als Bergführer.
Führt die Förderung von motivierten Nachwuchsalpinist*innen zu noch mehr Ehrgeiz und möglicherweise gefährlichen Gruppendynamiken? Ist Spitzensport in gefährlicher alpiner Umgebung mit anderem Leistungssport vergleichbar oder sollten Verbände davon lieber die Finger lassen?
Nach den Todesfällen gab es DAV-intern viele Diskussionen, Psychologinnen wurden einbezogen. Das Ergebnis: „Wir glauben, dass es eine zufällige Häufung ist“, sagt Philipp Abels, Leistungssportreferent des DAV. Neben den Wettkampfdisziplinen Klettern und Skibergsteigen ist auch der Expedkader in der Abteilung Leistungssport verortet.
In einer Sportart ohne organisierte Wettkämpfe braucht es eine kreative Definition von Leistungssport: die individuelle Verbesserung der persönlichen Leistung mithilfe von speziellem Training bis zu den jeweiligen Grenzen der eigenen Möglichkeiten. Dass mit schwierigeren Touren auch das Risiko steige, lasse sich nicht umgehen, sagt Philipp Abels. Außerdem gehöre die Förderung von Spitzenalpinismus seit jeher zum Kernwesen des DAV.
Todesfälle gab es nicht nur beim Expedkader, sondern auch in den Nachwuchsförderprogrammen anderer Alpenvereine. Drei Mitglieder der Jungen Alpinisten des ÖAV starben 2015 bei einer Ausbildungsskitour in der Dauphiné in einer Lawine, 2021 kamen von der Abschlussexpedition der französischen Group Excellence Alpinisme National (GEAN) drei Teilnehmer nicht zurück. „Man kann nicht wegdiskutieren, dass extremer Alpinismus einfach gefährlich ist. Das kann man nicht richtig sicher machen“, sagt Michi Wärthl, Trainer des Expedkaders 16–18.
Der Todesfall in seinem Kader nimmt den Trainer mehr mit, als er es erwartet hätte. Am Ende ist er, der sich als sonst nicht ängstlich beschreibt, „heilfroh, dass auf der Abschlussexpedition nichts passiert ist“. Ist der Kader also vielleicht doch keine so gute Idee? „Im Idealfall bringt das Programm die Jugend nicht in Gefahr, sondern wirkt sich genau andersrum aus.
Indem wir sie in ihrer Sturm-und-Drang-Zeit etwas bremsen, sie gut ausbilden und ihnen ein Netzwerk verschaffen, sollte es zu weniger Fehleinschätzungen kommen“, meint Michi Wärthl, der seit Beginn des Kaderprogramms an Sichtungen und Kursen beteiligt ist. „Bei dem Ereignis 2016 war der Kader gar nicht richtig losgegangen. Wir konnten noch nicht vermitteln, dass Speedbegehungen und Soloklettern extrem gefährlich sind und daher keinen Platz im Kader haben.“
Die Aufgabe: fördern und bremsen
Für die Trainer ist es schwierig, die richtige Balance aus Fördern und Bremsen zu finden. Das gilt für den Expedkader sowie für andere Programme, etwa die Jungen Alpinisten des ÖAV. „In den Teams gibt es viel Euphorie – was gut ist –, aber teils wenig Erfahrung“, sagt Gerhard Mössmer, aus der Abteilung Bergsport des ÖAV und Mentor der Jungen Alpinisten.
„Die Erfahrung bringen wir Mentorinnen und Mentoren mit. Wir müssen die Entscheidungen auf Fakten runterbrechen, Gruppendynamiken identifizieren und diese dann bei der Entscheidung außen vorlassen. Es ist herausfordernd, weil die jungen, motivierten Bergsteigerinnen oft schwer zu bremsen sind.“ Auch Finn Koch war zuerst so: hochmotiviert, extrem viel und risikoreich unterwegs.
Gemeinsam mit seinem damaligen Kletterpartner kam er 2016 in den Expedkader. „Am Anfang hat es mich schon ziemlich gestört, dass Michi uns nicht mehr pusht, sondern immer nur bremst.“ Nach einiger Zeit und immer mehr Unfällen erkannte er allerdings, dass Michi Wärthls Herangehensweise vielleicht doch nicht so verkehrt ist. „Er hat uns vorgelebt, wie man Lockerheit reinbringt und ohne Leistungsdruck unterwegs ist.
Ich habe gesehen, dass man nicht die krassesten Touren machen muss, um eine gute Zeit zu haben.“ Heute ist Finn Kochs Risikobereitschaft das genaue Gegenteil von damals. Er leitet als Bergführer Erlebniskurse für Familien und ist privat nur noch sehr defensiv unterwegs. Allerdings passier(t)en die Unfälle nicht nur bei Extremsttouren.
Gerhard Mössmer war beim Lawinenunglück in der Dauphiné dabei. „Das schlimmste Ereignis in meinem Leben.“ Beim Verarbeiten half ihm, dass er sich nichts vorwerfen kann. „Wer weiß, vielleicht haben wir etwas übersehen, aber nach unserem damaligen Kenntnisstand würde ich heute wieder so entscheiden.“ Die Unternehmungen der Jungen Alpinisten, Next Step genannt, sind keine Führungstouren, die Teilnehmer*innen entscheiden selbst.
Die Mentor*innen sind dabei, um einzugreifen, falls sie Entscheidungen für bedenklich halten. „In diesem Fall waren alle, Teilnehmende wie Ausbildende, der Meinung, dass die Route vertretbar ist. Die Verantwortung tragen natürlich trotzdem immer die Mentor*innen.“ Der Vorfall zeigt das (Rest-)Risiko – das größer wird, je anspruchsvoller und häufiger die Touren werden. Den Verantwortlichen ist dieses Risiko bewusst.
So erzählt Gerhard Mössmer, wie die Vertreter der alpinen Vereine bei einem Treffen direkt vor der Tourenwoche in der Dauphiné darüber sprachen, dass im Rahmen der Förderprogramme irgendwann etwas passieren werde. Teilnehmende und Angehörige haben dieses Bewusstsein nicht unbedingt. Deswegen müsse man im Vorhinein deutlicher über das Risiko sprechen, findet Finn Koch.
„Der Umgang des DAV mit Risiko ist intransparent. Eigentlich müsste jemand ganz klar, sagen: Das, was hier getrieben wird, ist lebensgefährlich.“ Die Teilnehmenden seien oft noch nicht so weit, die Konsequenzen extremen Bergsteigens überblicken zu können, ganz zu schweigen von den Angehörigen.
„Wenn dann etwas passiert, sind sie völlig vor den Kopf gestoßen. Nach dem Todesfall in unserer Gruppe standen wir alle mit offenen Mündern da: Wie konnte das passieren?“ Der DAV entgegnet, dass sehr wohl alle Teilnehmer*innen vor jedem Nachwuchscamp und der Sichtungsmaßnahme, die die Aufnahme in den Kader darstellt, ein Schreiben erhalten, in dem ganz explizit auf die Risiken und möglichen Konsequenzen hingewiesen wird.
Für den kommenden Kaderjahrgang hat der DAV zudem das Mindestalter von 16 auf 18 heraufgesetzt. Ein richtiger Schritt. Aber: „Auch 23-Jährige haben Angehörige“, sagt Finn Koch. Es müsse trotzdem mehr aufgeklärt werden. Falls tatsächlich etwas passiert, gibt es bei DAV wie ÖAV ein Kriseninterventionsteam und die Möglichkeit für umfassende psychologische Betreuung. Diese Hilfestellung stand auch bei dem Todesfall 2016 zur Verfügung.
Die Zielsetzung: Weltklasse oder individuelle Entwicklung
Finn Koch ist kein Weltspitzen-Bergsteiger geworden, wie es das formulierte Ziel des DAV für den Expedkader ist. „Bei der Gründung des Expedkaders vor 30 Jahren wollte man deutsche Bergsteiger an die internationale Spitze des Expeditionsbergsteigens bringen. Wenn wir die Ursprungsvision als Messlatte anlegen, haben wir das Ziel nicht erreicht“, gibt Philipp Abels zu.
Mittlerweile gehe es aber gar nicht mehr um die Weltspitze. „Wir wollen die Basis legen, damit sich junge talentierte Menschen später nach ihren Interessen weiterentwickeln können.“ Anders als bei den Jungen Alpinisten, wo eine gewisse Leistung und alpinistisches Können nur die Voraussetzung sind, die Auswahl aber nach Persönlichkeit und Teamgeist geschieht, geht es beim Expedkader (bislang) darum, die Besten auszuwählen.
Persönlichkeit und Teamfähigkeit spielen natürlich trotzdem eine Rolle. Um das sportliche Maximum zu erreichen, trainieren Frauen und Männer – wie auch sonst im Leistungssport üblich – in getrennten Kadern. Auch wenn das möglicherweise Nachteile für die Gruppendynamik mit sich bringt, wie Michi Wärthl einräumt. Die Jungen Alpinisten sind in gemischtgeschlechtlicher Gruppe unterwegs. „Das passt besser zu unserer Idee der Förderung“, ist Gerhard Mössmer überzeugt.
Die Frauen seien oft einfach vernünftiger. Außerdem ergänzten sich Frauen und Männer in der Regel gut. Und das Ergebnis ist überzeugend: „Obwohl es bei uns mehr darum geht, gemeinsam in der Gruppe voranzukommen und eine gute Zeit am Berg zu haben, bringen wir viele sehr gute Bergsteiger*innen hervor – ohne Drill.“
Die Herausforderung: Risikomanagement und Verlustaversion
Worum es bei den Jungen Alpinisten laut Programmbeschreibung auch geht: gesunden Umgang mit Risiko lernen. Das bedeute, so Mössmer, die eigene Komfortzone durchaus zu verlassen, aber natürlich keine Harakiri-Aktionen durchzuführen. „Eine gute realistische Selbsteinschätzung, was umsetzbar ist und was nicht, das ist wichtig.“
Komme es zu (tödlichen) Unfällen, sei die Schwelle des akzeptablen Risikos möglicherweise überschritten worden. Das altbekannte Problem der Risikospirale. Wenn nichts passiert, wird das als positive Rückmeldung ausgelegt, beim nächsten Mal vielleicht noch mehr Risiko eingegangen. Förderprogramme könnten hier eine anstachelnde Wirkung haben, denkt Gerhard Mössmer.
„Man pusht sich gegenseitig immer weiter. Die Motivation steigt. Man will in Kursen und auch bei privaten Unternehmungen glänzen. Höher, schneller, stärker, schwieriger – bis es doch mal knallt.“ „Besonders junge Männer haben oft das Gefühl, dass sie unverletzlich seien. Und sie wollen im Wettkampf glänzen“, sagt der psychologische Psychotherapeut Dr. Manfred Ruoß.
Sie schätzen Risiken dadurch leichter falsch ein. Dazu kommt: Weil man beim Bergsteigen so starken Reizen ausgesetzt sei und sehr intensiv erlebe, habe man dabei besonders starke Gefühle. „Das kann aber auch entgleiten. Bei manchen Menschen führt die Suche nach immer neuen Kicks zur Sucht.“ Eine Tour jagt die nächste, Schwierigkeiten und Risiko steigen.
Die Annahme, alle Extremsportler seien in gleichem Maße Sensation Seeker oder Adrenalinjunkies, die sich ungeplant in Abenteuer stürzten, sei wissenschaftlich mittlerweile überholt, sagt Solène Gerwann, die an Universität Heidelberg zu Extremsport (Klettern und Mountainbiken) forscht. „Generell trifft man die Charaktereigenschaft des Sensation Seekings bei Extremsportler*innen aber schon häufiger an als in der Normalbevölkerung.“
Diese Menschen haben ein niedriges Erregungsniveau, das sie mithilfe von Stimuli wie Sport erhöhen. „Heutige Forschung geht davon aus, dass Sensation Seeker ein höheres Level an Erregung brauchen, um Emotionen zu fühlen. Sie suchen gezielt konkrete „aufregende“ Situationen, sei es beim Kajakfahren oder am Fels, um ihre Emotionen zu fühlen beziehungsweise zu identifizieren.
Wir sind gerade dabei zu untersuchen, ob und wie Extremsportler*innen der Sport hilft, sich auch im Alltag besser zu regulieren und etwa mit Stress umzugehen.“ Bei den Jungen Alpinisten wie dem Expedkader versucht man, die Abenteuerlust der Teilnehmenden zu lenken. „Wir sprechen die Teilnehmer auf riskante Unternehmungen außerhalb der Kader-Maßnahmen an, geben teils im Vieraugengespräch Rückmeldung“, sagt Philipp Abels.
„Wir sagen auch von Anfang an, dass wir kein Speed- und kein Soloklettern wollen. Aber verhindern können wir es natürlich nicht.“ Bei den Jungen Alpinisten gibt es Tourenbüchlein mit Reflexionsseiten, um Unternehmungen nochmal gedanklich durchzugehen und Gelerntes festzuhalten. Generell müssten Softskills und das Durchbrechen der Risikospirale aber mehr Raum einnehmen, nicht nur bei den Jungen Alpinisten, sondern auch in anderen Ausbildungsprogrammen, findet Gerhard Mössmer.
„Risikomanagement ist nicht so leicht beizubringen“, gibt Michi Wärthl zu. „Aber wir versuchen, Verantwortung zu fördern. Ich habe immer gesagt, sie müssen nicht sofort alles niederreißen, was da an Wänden rumsteht, sie haben schließlich ihr ganzes Leben Zeit. Und dass Umdrehen keine Schande ist.“ Leider kommt der Vernunft hierbei allzu oft die sogenannte Verlustaversion in die Quere.
Die Angst, ein gutes Gefühl zu verpassen. „Wir Menschen sind viel stärker von Verlustaversion gesteuert, als wir wahrhaben wollen“, sagt Manfred Ruoß. „Wir rücken nur ungern von unseren Zielen ab. Wenn eine Tour nicht zu klappen droht, nehmen wir das als Verlust wahr, den es zu vermeiden gilt. Heute keinen Erfolg zu haben, eine Route nicht zu klettern, eine Abfahrt nicht zu machen, ist ein konkreter Verlust.
Der mögliche Verlust der körperlichen Unversehrtheit oder gar des Lebens ist demgegenüber rein theoretisch und damit weniger präsent.“ Mit Verlust umzugehen und verzichten zu lernen, hält Manfred Ruoß daher für entscheidend. Finn Koch kann nicht konkret benennen, wann und wodurch sich seine Einstellung zum Risiko verändert hat, wahrscheinlich war es ein schleichender Prozess, angestoßen durch Gespräche mit dem Trainer und die vielen Unfälle.
Im Nachhinein hat er aber klar erkannt, welche Rolle der Wunsch nach Anerkennung bei seinem extremen Bergsteigen und Klettern spielte. „Ich habe durch schwierige, riskante Touren mein Selbstbewusstsein gestärkt – so wie viele andere wahrscheinlich auch.“
Der Gegenspieler: Social Media
In Zeiten von Social Media werden solche Tendenzen noch verstärkt. Die sozialen Medien haben Sportarten wie Felsklettern und Bergsteigen ein Publikum verschafft, das fast in Echtzeit den Leistungen der Athlet*innen folgen kann, wie es Solène Gerwann formuliert. Dank Instagram und Co kann sich heute jede*r selbst vermarkten und mit den eigenen Leistungen prahlen – und bekommt im Gegenzug laufend die Erfolge der anderen vorgeführt.
Dies setzt einen unter Druck, selbst auch liefern zu müssen. Michi Wärthl beschreibt die Veränderung so: „Wir hatten früher keine aktuellen Infos, sondern sind halt mal hingefahren, um zu schauen, ob eine Tour geht. Heute bekommt man ständig ungefragt Tourenberichte. Man erfährt, da und dort sind die Verhältnisse gut oder zumindest akzeptabel, und fährt sofort hin.
„Höher, schneller, stärker, schwieriger – bis es doch mal knallt.“
Gerhard Mössmer
Und weil man weiß, dass es kurz zuvor schon andere geschafft haben, ist Scheitern – außer wegen schlechtem Wetter – keine Option. Wenn eine Tour schon x-mal von anderen gepostet wurde, ist Umdrehen nicht drin.“ Für die Alpenvereine heißt das, mehr zu sensibilisieren und die Jugend im Umgang mit Social Media zu schulen.
„Wir müssen noch mehr auf die Systematik und Funktionsweise dieser Netzwerke hinweisen. Klar machen, dass sich im Internet alle nur von ihrer besten Seite zeigen, was nicht heißt, dass die anderen nicht auch schlechte Tage haben, Touren abbrechen oder gar nicht unterwegs waren“, sagt Philipp Abels.
Gleichzeitig gehöre es zum Dasein als Athlet*in dazu, Social Media zu bedienen. „Selbstvermarktung ist Teil des Programms, die Mitglieder sind auch für die offiziellen Social-Media-Kanäle des Kaders verantwortlich. Denn die Sponsoren, die einen erheblichen Teil des Programms finanzieren, erwarten Bilder und Berichte. Das müssen allerdings keine Erfolgsmeldungen sein, das sagen die Sponsoren und wir als Verband sehr deutlich.
Was allerdings auf den privaten Kanälen passiert, darauf haben wir keinen Einfluss.“ Ob durch Social Media oder innerhalb von Gruppen im echten Leben, wie Menschen mit Druck umgehen, ist sehr personenabhängig. Der ÖAV versucht dies bereits bei der Auswahl (von Teilnehmenden wie Mentor*innen) zu berücksichtigen.
Auch der DAV ist gerade dabei, Auswahlprozess und Programm des Männerkaders dahingehend umzugestalten. Es ist der Versuch, das Programm zu modernisieren. Durch einen längeren und breiteren Auswahlprozess sollen mehr Alpinisten die Möglichkeit bekommen, miteinander in Kontakt zu kommen, und der Erfolg des Programms gesichert werden. Denn zuletzt zeigte sich häufig das andere Extrem: Durchhaltevermögen und Engagement waren nicht so zufriedenstellend.