Messners Einfluss auf das Klettern in den Dolomiten
AVS-Förderpreisträger Alex Walpoth über Vorbilder, große Dolomitenwände und strenge Kletterethik.
(aus Bergeerleben September 2019, AVS-Mitgliedermagazin)
Nun ist es schwierig, Einfluss wirklich zu messen, weil wir in ständigem Kontakt und Austausch mit anderen Menschen stehen. Folglich lässt sich schwer unterscheiden, welche Motivation von außen kommt und welche Leidenschaft in uns selbst entfacht. Im Grunde ist es einerlei, solange wir Gefallen und Sinn an unserem Tun in den Bergen finden. Von Reinhold Messner habe ich, vor allem über seine Bücher, durchaus maßgebliche Impulse zum Klettern bekommen. Darunter waren Ideen für Felsfahrten ebenso wie Einblicke in seine persönliche Faszination für das Klettern.
Die Persönlichkeit Messner
Seit ich mich erinnern kann, klettere ich. Wie jedes Kind orientierte ich mich an Vorbildern. Über allen schwebte die Figur von Reinhold Messner. Zunächst verband ich ihn vor allem mit dem Himalaja und den 14 Achttausendern. Eine Welt, die von der wohlbehüteten Umgebung der Kletterhallen unendlich weit weg schien. Mit 12 Jahren begann ich, in den Bergen zu klettern und Messners Bücher zu lesen. Plötzlich war meine Welt nicht mehr so weit weg. Mit 13 traf ich Reinhold zum ersten Mal in der Werkstatt meines Vaters. Er ist Künstler und fertigte eine lebensgroße Figur von Messner an. Auch Martin Dejori, mit dem ich die ersten eigenständigen Routen kletterte, kam in die Werkstatt. Wir waren ziemlich stolz, dass er sich für unsere leichten Klettereien an den Sellatürmen interessierte.
Von den Geislerspitzen in die Welt
Messner unternahm seine ersten Touren an den Geislerspitzen, die auf der Villnößer Seite schroff und abweisend in den Himmel ragen. Auf einen Buben müssen sie riesig und unerreichbar gewirkt haben. Doch auf Reinhold wirkten die geheimnisvollen, steilen Wände in erster Linie anziehend. Anfangs noch in Begleitung des Vaters, dann schon bald mit dem jüngeren Bruder Günther oder allein fand er den Weg durch die berüchtigten Nordwände von Sass Rigais, Kleiner und Großer Fermeda. Dabei sammelte er wichtige Erfahrungen und lernte Verantwortung zu übernehmen. Es waren sicherlich gefährliche, schwierig abzusichernde und teilweise arg brüchige Routen.
Aber nur dank dieser machten Reinhold und sein Bruder so schnell Fortschritte, sodass die Geislerspitzen irgendwann schrumpften: Nicht durch die Erosion, sondern weil der Blick der Brüder weiter wurde, die Fähigkeiten und mit ihnen die Möglichkeiten ständig wuchsen. In Reinhold keimte die Erkenntnis, das Bergsteigen würde sein Leben sein. Die Erfahrungen aus den Jugendjahren waren so intensiv und einzigartig, dass er immer wieder nach dieser Zeit suchen würde. Wie kein anderer Alpinist schaffte er es, sich von den Konventionen der Gesellschaft zu befreien und das Abenteuer zum Beruf zu machen – in Messners Augen war es vielmehr seine Berufung. Der große Erfolg stellte sich ein, als er zu den höchsten Gipfeln dieser Welt aufbrach und mit seiner Kreativität und Fantasie vieles auf den Kopf stellte.
Verzicht ohne Grenzen
Seine Lehrjahre hatte Messner jedoch in den Dolomiten verbracht: in dieser wunderschönen und einzigartigen Gebirgsgruppe, die dem jungen Messner noch sehr viel Raum für Erstbegehungen und Abenteuer bot. Die unberührten Winkel gibt es auch jetzt noch, obwohl das Netz an Routen, das die Dolomiten überzieht, sich in den letzten 50 Jahren deutlich verdichtet hat. Dass wir junge Alpinisten immer noch die Möglichkeit haben, Erstbegehungen zu machen, ist vielleicht auch Reinhold Messner zu verdanken. Einerseits hat er das Klettern sicher noch populärer gemacht, andererseits propagierte er den Verzicht: auf sinnlose Direttissimas, auf Bohrhaken, auf Materialschlachten, auf lange Vorarbeiten.
In „Die Freiheit, aufzubrechen wohin ich will“, schreibt er: „Ich habe gelernt mich einzuschränken, um weiterzukommen. In der Freiheit gibt es den Verzicht, aber keine Grenzen.“ Mit 18 war Messner noch fasziniert von Haken und Strickleitern, aber wenig später änderte er sich zum überzeugten Freikletterer. Mitte der 1960er-Jahre hatte das Zeitalter der Direttissimas seinen Glanz bereits etwas verloren und spätestens seit der direkten Begehung des Riesendaches an der Westlichen Zinne 1968 war offensichtlich, dass alles möglich wäre mithilfe von moderner Technologie.
Die schwierigste Kletterstelle
Dennoch brauchte es charismatische und vor allem unglaublich leistungsstarke Kletterer, die diese Irrfahrt des Alpinismus in den Dolomiten korrigieren konnten. Reinhold Messner war einer davon und er polarisierte am meisten. Ein anderer war der talentierte Enzo Cozzolino aus Triest, von dem Messner schreibt, dass er die Schwelle zum VII. Grad überschritt. Messner und Cozzolino waren überzeugt, dass ein Fortschritt nicht durch neue Technologien, sondern nur durch das Verschieben der psychischen und körperlichen Grenzen des Kletterers selbst zu erreichen sei. Natürlich ließen sie diesen Überlegungen auch Taten folgen.
Ein perfektes Beispiel ist Reinholds und Günthers Neutour am Mittelpfeiler des Heiligkreuzkofels im Jahre 1968. Es ist eine der beeindruckendsten und unnahbarsten Wände der Dolomiten – bis zu 500 Meter hoch und mehrere Kilometer breit. Sie ist zum Symbol für schwierige, nur mit Normalhaken abgesicherte Freikletterei geworden. Die Messner-Führe hat einen komplexen, geschlängelten Verlauf: Weil sie in einer nahezu grifflosen Wand die kletterbarsten Abschnitte aufsucht. Die Brüder Messner bewältigten schon vom breiten Band weg schwierigste Kletterstellen. Eine glatte, gelbe Platte ließen sie mit einem Pendelquergang hinter sich. Doch ungefähr in Wandmitte, unterhalb einer grifflosen, vier Meter hohen Platte, erschien die Fortsetzung der exponierten Kletterei unmöglich.
Messner in „Die Freiheit, aufzubrechen wohin ich will“: „Nun war ich endgültig am Ende. Eine glatte Platte, in der keine Ritze und kaum Griffe waren, versperrte mir den Weg. Vier Meter weiter oben ein Riss. Dorthin musste ich. Ich stand auf einem fußbreiten Band, auf einer Leiste. Unter mir viel Luft, ein überhängender Abbruch. (…) Hinauf, das war der einzige Ausweg. Immer wieder setzte ich an, wollte mich vom Band abstoßen. Immer wieder stieg ich zurück, mit dem Vorsatz, doch das Abklettern zu versuchen. (…) Ich wagte alles, riskierte. Oben war ein kleiner Griff. Als ich ihn hatte, konnte ich nicht mehr zurück. Ich setzte den rechten Fuß ganz hoch, aufstehen – ein Balanceakt –, mit der linken Hand die abschüssige Leiste erreichen und durchziehen … – ein Eindruck, der ein Leben lang blieb.“
Damals konnte Messner wohl kaum ahnen, dass um diese Platte ein Mythos entstehen würde. Für ihn selbst wurde sie zur „schwierigsten Kletterstelle“ seiner Kletterkarriere. Heutzutage vermutet man den VIII. Grad auf der UIAA-Skala. Bloß machte diese damals schon bei VI Halt. Viel wichtiger waren jedoch die Tatsache, dass Messner diese Stelle in freier Kletterei schaffte, und die damit verbundene Erkenntnis, dass trotz Verzicht eine Steigerung der Schwierigkeit möglich war. Gerade aufgrund des Verzichts auf Expansionshaken konnte die Entwicklung des Kletterns in den Dolomiten voranschreiten.
Mord am Unmöglichen
1968 sorgten nicht nur Messners Kletterabenteuer für Aufruhr, sondern auch sein Artikel „Mord am Unmöglichen“, in dem er wortgewaltig und glühend zum Verzicht auf technische Hilfsmittel, allen voran Expansionshaken, aufrief. Mit den Verfechtern des Direttissima-Ideals ging er hart ins Gericht: Es würde immer mehr gebohrt und immer weniger geklettert, das Unmögliche und damit auch das Abenteuer würden in absehbarer Zeit verschwinden. Am Ende steht der Aufruf, einfach loszuziehen, ausgerüstet nur mit einem Seil und ein paar Haken für die Standplätze, sodass der Drache, Symbol für das Ungewisse, auch weiterhin überleben könne. Es war ein bemerkenswerter Artikel für einen 23-Jährigen.
Mangelnde Erfahrung konnte sich Messner zumindest nicht vorwerfen lassen. Bis Ende 1969 hatte er über tausend Klettereien bewältigt, die meisten in den Dolomiten, aber auch in vielen großen Wänden der Westalpen. Darunter waren 50 Erstbegehungen und 20 extrem schwierige Alleingänge. Fast alle großen Wände der Dolomiten durchstieg er auf neuen Routen: Die Nordwände von Agner, Langkofel und Peitlerkofel, die Nordwestwand der Civetta und die grandiose Südwand der Marmolata. Alle Felsfahrten zeichnen sich durch hohe Freikletterschwierigkeiten und geringen Hakeneinsatz aus. Messners Ethos des Verzichts gemäß sind es logische Linien, die den Weg des geringsten Widerstandes suchen.
Einen persönlichen Bezug habe ich zum „Weg der Freunde“ in der Civetta-Nordwestwand. Sepp Mayerl, Renato Reali, Heini Holzer und Reinhold Messner kletterten diesen Weg 1967. Ungefähr in Wandmitte errichteten sie ihr Biwak. „Gegen fünf Uhr abends erreichten wir den Kopf des Pfeilers rechts der geschlossenen Wandflucht, durch die ein breiter Riss verlief. Nicht die ideale Route! Das stark überhängende Verschneidungssystem über uns sah sehr brüchig aus. Wasser tropfte herunter, viel Wasser. Die Wand direkt zu nehmen, wäre einer Materialschlacht gleichgekommen. Wir hätten hundert und mehr Haken schlagen müssen. Wir wollten deshalb noch die dritte, die rechte Variante studieren.“ Über diese, eine Reihe an dunklen Rissen, erreichten die Freunde am nächsten Tag den Gipfel. Sie hatten einen logischen Weg gefunden. Wie die Route auf dem Wandfoto aussehen würde, war ihnen gleichgültig.
Messner als Wegbereiter
Im Sommer 2015, knapp 50 Jahre später, erreichten Martin Dejori, Titus Prinoth, Giorgio Travaglia und ich den Kopf des gleichen Pfeilers. In der unteren Wandhälfte waren wir rechts vom „Weg der Freunde“ geklettert. Nun wollten wir gerade hochklettern und die überhängenden Verschneidungen überwinden, von denen Messner meinte, sie seien nur mit mehr als 100 Haken zu bewältigen. Der Blick nach oben ließ auch unsere Zuversicht schwinden: Die Wand erschien entweder äußerst glatt oder sehr brüchig. Dank dem Wissen um unsere moderne Ausrüstung wagten wir trotzdem einen Versuch. Tatsächlich schafften wir diesen mittleren Wandabschnitt mit nur einem Dutzend Haken, weil wir überwiegend mobile Klemmgeräte zur Sicherung verwendeten, sogenannte Friends. Wahrscheinlich ist auch unser Freikletterniveau höher als damals, bedingt durch das Sportklettertraining und die engen Kletterschuhe mit Reibungssohlen. Dieses Abenteuer konnten wir nur erleben, weil die Wand noch unberührt war: Messner & Co. hatten damals verzichtet, weil ihnen der zu erwartende Materialaufwand unverhältnismäßig erschien. Die wenigen von uns verwendeten Haken halten wir und vielleicht auch Messner für vertretbar. Messner hat Ideen geboren und darauf verzichtet. Dadurch hat er sie lebendig gehalten, sodass sich nachfolgende Generationen weiterhin kühne Träume erfüllen können.
Der klassische, auf Verzicht basierte Alpinismus
Ich muss jedoch erwähnen, dass wir auch einen Handbohrer und ein paar Bohrhaken dabei hatten. Wir hätten diese nur im äußersten Fall eingesetzt und doch ist der Raum des Unmöglichen damit geschrumpft. Messner war in seiner Ethik wohl absoluter als wir jungen Kletterer es heute sind. Durch den Sportkletterboom sind Bohrhaken zur Normalität geworden. Wo setzen wir heutzutage die Grenze zwischen Klettergarten und Gebirge? Und wird nicht in vielen Gebirgsregionen Europas, zum Beispiel in der Schweiz, der Bohrhaken bereits akzeptiert beziehungsweise sogar gefordert? Dass sich in den Dolomiten viele Routen noch in ihrem ursprünglichen Zustand befinden, liegt sicherlich auch an Persönlichkeiten wie Reinhold Messner, die die Idee des klassischen, auf Verzicht basierten Alpinismus weitergetragen haben. Auch ein Hanspeter Eisendle, ein Adam Holzknecht und viele andere gehören an dieser Stelle erwähnt. Ich denke, dass in Südtirol zurzeit viele junge Alpinisten jene Ansichten teilen und auch versuchen, diese in neuen, herausfordernden Routen umzusetzen. Das stetig wachsende Erstbegehungsportal auf der AVS-Webseite bezeugt diese Entwicklung. Die meisten darauf veröffentlichten Routen sind im klassischen Stil.
Für Reinhold Messner gewiss ein schönes Geschenk zu seinem 75. Geburtstag!