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Freeriden powder lawine
von Lea Hartl
11. Dez. 2023 - 16 min Lesezeit

Lawinengefahr Mensch

Im bergundsteigen #121 wurde im Artikel „Sind Skitourengeher*innen tatsächlich anfälliger für Entscheidungsfallen“ das Konzept der FACETS von Ian McCammon angesprochen. In dieser Ausgabe schauen wir uns die FACETS und was sich seither getan hat etwas genauer an. Über kognitive Kosten, Strategic Mindsets und andere menschengemachte „Lawinenprobleme“.

Faktor Mensch: Dieser Beitrag von Lea Hartl und der nachfolgende Artikel der DAV-Sicherheitsforschung stehen in Verbindung mit der Skitourenstudie des DAV (2020 bis 2022) und beschäftigen sich mit menschlichen Entscheidungen am Berg.

Die üblichen Zutaten für eine Lawine sind Schnee, Wetter und Gelände. Mit prognostizierten Gefahrenstufen und Lawinenproblemen, dem Wetterbericht und topographischen Karten haben wir viele Tools, um die Gefahren, die sich aus diesen Basiszutaten ergeben, genauer zu benennen. So können wir gezielt auf die aktuelle Situation reagieren, ohne pauschal jedem schneebedeckten Berg aus dem Weg gehen zu müssen. Verschiedene Entscheidungshilfen und -strategien helfen uns dabei.

Die Detailschärfe, mit der wir uns über die Lawinenzutat „Mensch“ unterhalten, kann nach wie vor nicht mit jener in der Schnee- oder Wetterkunde mithalten, aber zunehmend werden auch in diesem Bereich Gefahren genauer benannt, erklärt und verstanden. Wie bei der Schneedecke bringt ein besseres Verständnis der Probleme durch den Faktor Mensch neue und gezieltere Ansätze, damit umzugehen.

Spuren im Hang bieten oft Nährboden für Entscheidungen am Berg
Das T in FACETS steht für Tracks: Andere fahren hier auch, es sind schon Spuren im Hang. Illustration: Georg Sojer

Ian McCammons FACETS – Lawinenprobleme im Kopf

Aufbauend umgewandelte Kristalle, wie wir sie in heimtückischen Schwachschichten finden, heißen auf Englisch facets. FACETS als Akronym ist in den letzten knapp 20 Jahren auch zu einer Art Synonym für den „Faktor Mensch“ geworden – für das nicht immer ganz fassbare, mitunter ebenfalls heimtückische Menscheln, das uns hin und wieder riskante Entscheidungen treffen lässt, obwohl wir es eigentlich besser wüssten.

Ian McCammon, der die FACETS (1) formuliert hat, beginnt seinen Artikel „Heuristic Traps in Recreational Avalanche Accidents“ (2) mit einer persönlichen Anekdote über seinen Bekannten Steve: Steve war ein erfahrener und gut ausgebildeter Skitourengeher. Bei Lawinenwarnstufe „groß“ war er mit ähnlich kompetenten Kollegen in bekanntem Gelände unterwegs.

Bei einer Querung geriet die Gruppe in eine Lawine, Steve wurde verschüttet und starb. Im Nachhinein schien die Gefahr offensichtlich. Schnell gab es Kritik: Steve und seine Gruppe hätten eindeutige Gefahrenzeichen ignoriert und sich bewusst entschieden, ein hohes Risiko einzugehen. Anders könne man ihre Entscheidungen nicht erklären.

Wenige Wochen vor dem Unfall hatte Steve dem FACETS-Autor McCammon noch erklärt, dass es für ihn am Berg mittlerweile vor allem darum ging, die Natur zu genießen. Die Sturm-und-Drang-Zeiten lagen hinter ihm, seine Familie und die kleine Tochter waren nun viel wichtiger. Es passt also nicht zu Steves Lebenssituation, dass er sich mutwillig in Gefahr begeben oder bewusst Grenzen ausloten wollte. Viel wahrscheinlicher ist, dass er den Hang anspurte, weil er – warum auch immer – annahm, die Querung wäre sicher.

„Erfahrener Einheimischer von Lawine überrascht“

Steve ist kein Einzelfall. In der Regel haben wir am Berg den Eindruck, dass wir die richtigen Entscheidungen treffen, sonst würden wir uns ja nicht so entscheiden. Wenn es, scheinbar wider besseres Wissen, danebengeht, liegt das oft an der Art und Weise, wie wir entscheiden. In komplexen Situationen, in denen wir über unvollständige Information verfügen (bspw. Skitour bei ungünstiger Lawinensituation), halten wir uns bei Entscheidungen häufig an angewöhnte Regeln, die schon oft funktioniert haben und die wir, besonders im Eifer des Gefechts, nicht hinterfragen.

In der Psychologie nennt man diese Art von vereinfachender mentaler Problemlösung Heuristik. Heuristische Vorgehensweisen stehen dabei im Gegensatz zu Algorithmen, die Lösungen garantieren, ohne auf subjektive Erfahrungswerte oder andere gedankliche „Daumenregeln“ zurückzugreifen. Heuristiken können sehr nützlich sein und führen oft schneller zu einem Ergebnis, sie sind aber auch anfälliger für Fehleinschätzungen.

Ian McCammon hat mit den FACETS einige spezielle Heuristiken genauer definiert, die häufig am Berg zum Einsatz kommen und gefährlich werden können. Steve war den Hang, in dem er umkam, schon zigmal gequert, die Route ist beliebt und wird auch von anderen viel begangen. Er fiel wohl der Familiarity-Heuristik zum Opfer, dem Hausbergproblem.

Die FACETS (Akronym für Familiarity, Acceptance, Commitment, Experts, Tracks, Scarcity/Social Facilitation)

Familiarity – das Hausbergproblem. Ich war hier schon oft, hier ist noch nie etwas passiert, also wird auch nie etwas passieren. McCammon stellt fest, dass vor allem erfahrene Personen in diese Falle tappen, quasi per Definition. Wer das Gelände so gut kennt, dass sich dieser Effekt einstellt, ist kein Anfänger mehr, sondern der klassische „erfahrene Einheimische“.

Acceptance. Die anderen wollen den Hang fahren, ich möchte von der Gruppe akzeptiert werden.

Consistency (alternativ: Commitment). Falle der versunkenen Kosten. Wir haben diese Tour geplant, also ziehen wir sie jetzt durch; wir haben uns für diesen Gipfel entschieden und schon viel Zeit für den Zustieg investiert, also drehen wir nicht kurz vor dem Ziel um.

Expert Halo. Jemand in der Gruppe kennt sich (vermeintlich) besser aus oder ist besonders selbstsicher. Der/die wird schon wissen, was er/sie tut, meine Bedenken sind unbegründet.

Tracks. Andere fahren hier auch, es sind schon Spuren im Hang.

Scarcity. Ich habe nur heute frei und will den Tag richtig ausnutzen; ich will vor allen anderen da reinfahren; es hat lange nicht geschneit und jetzt gibt es endlich Powder …

Als alternatives S gilt Social Facilitation: In der Gruppe verhalten wir uns anders als allein. Besonders Expert*innen-Gruppen sind hier anfällig. Mit gleich fitten, gleich erfahrenen Kolleg*innen pusht man sich gegenseitig eher, als dass man einander bremst.

Das ist der erste Buchstabe des Akronyms FACETS. In der folgen-den Box werden Ian McCammons Abkürzungen erklärt. Im Editorial der bergundsteigen-Ausgabe #117 erzählt der Chefredakteur Gebi Bendler von einer Skitour, bei der sich alle etwas unwohl gefühlt haben, aber keiner etwas gesagt hat.

Social Facilitation? Vielleicht auch Acceptance oder Commitment, ein bisschen Expert Halo? Vermutlich können wir alle einige Gelegenheiten im persönlichen Tourenbuch identifizieren, bei denen wir in eine oder mehrere der FACETS-Fallen getappt sind. Die FACETS sind, wenn man so will, vergleichbar mit den Lawinenproblemen der Lawinenwarndienste. Sie beschreiben zusammenfassend bestimmte Muster, die immer wieder auftreten und zum Unfallgeschehen beitragen, sei es in der Schneedecke oder im Kopf.

Die zugrundeliegenden Prozesse werden in der Beschreibung angedeutet und definieren einen gewissen Gefahrenkontext (etwa: Altschnee vs. Nassschnee; Familiarity vs. Expert Halo), liefern aber für sich genommen noch keine Handlungsempfehlung und stellen auch keine grundlegend neue Entdeckung dar. Die Stärke der FACETS liegt darin, dass sich jede*r auf die ein oder andere Weise darin wiederfinden kann und intuitiv die Problematik versteht.

Das Ziel ist Selbsterkenntnis bzw. ein verbessertes Problembewusstsein. Wir können das unerwünschte Verhalten nur abstellen, wenn wir merken, dass wir uns entsprechend verhalten, und wissen, worauf wir achten müssen. Je besser ich mich selbst kenne, desto besser kann ich einschätzen, für welche der FACETS ich besonders anfällig bin.

McCammon’s Fazit lautet: Es muss die Aufgabe von Ausbildungsprogrammen sein, Methoden zu entwickeln und zu lehren, die Anwender*innen eine Alternative zur heuristischen Entscheidungsfindung (siehe Definition nach McCammon oben) bieten. Denn so erstrebenswert Selbsterkenntnis auch ist, bei der konkreten Tourenplanung und dem täglichen, praktischen Risikomanagement kommen wir damit noch nicht allzu weit.

Problemverständnis schärfen: kognitive Kosten

Einige der FACETS beschreiben im Wintersportkontext Gruppendruckphänomene, die wir schon aus der Volksschule kennen: Wenn meine Freunde aus dem Fenster springen, springe ich hinterher. Später dann: Vielleicht kann ich die Älteren, Cooleren beeindrucken, wenn ich auch rauche oder Alkohol trinke. In der Lawinenausbildung wird uns eingeschärft: Nicht blind der Gruppe hinterherfahren! Um Spuren zu folgen, brauche ich aber keine Gruppe, und auch die Familiarity-Falle fällt nicht in diese sozialen Muster.

Gerade am Hausberg sind wir öfter einmal allein unterwegs, weil wir uns dort sicher fühlen. Wir tappen also einerseits „wegen der anderen“, beziehungsweise unserer Beziehung zu „den anderen“, immer wieder in gewisse mentale Fallen, andererseits aber auch, weil wir ganz von allein zu gewissen unbewussten Denkmustern neigen. Hier lässt sich die empirische Ebene in etwa zusammenfassen als: „Je erschöpfter wir sind, desto lieber nehmen wir Abkürzungen“.

soziale Akzeptanz Skitouren entschiedungshilfen
Das A in FACETS steht für Acceptance – soziale Akzeptanz: Die anderen wollen den Hang fahren, ich möchte von der Gruppe akzeptiert werden. Illustration: Georg Sojer

Und zwar tatsächliche Abkürzungen im Gelände sowie auch mentale Abkürzungen bei der Entscheidungsfindung. Konkretisiert wird diese Thematik in der kognitiven Systemforschung. Laura Maguire etwa hat mit ihren Studien (3, 4) in den letzten Jahren vor allem im englischsprachigen Raum die Diskussionen zum Faktor Mensch maßgeblich beeinflusst.

Sie befasst sich mit dem Verhalten und den Entscheidungen von Expert*innen in von Unsicherheit geprägten Situationen, konkret am Beispiel von Lawinenprognostiker*innen in Kanada. Die Fragen „Warum ist das schwierig?“ bzw. „Was macht das so schwierig?“ bilden einen übergeordneten Rahmen für ihre Untersuchungen.

Über diese Fragen lässt sich, so Maguire, Expert*innentum definieren: Mit welchen Herausforderungen müssen Anwender*innen in einem bestimmten Fachgebiet umgehen, wenn simple, regelbasierte Handlungsvorlagen auf Grund der Komplexität einer Situation nicht mehr greifen? Und wie machen sie das unter Zeitdruck? Bei der Lawinenwarnung und generell der Einschätzung der Lawinengefahr besteht die kognitive Schwierigkeit in erster Linie darin, dass sehr vielfältige Informationen aus verschiedenen Quellen nach Wichtigkeit gefiltert werden müssen.

Neben den entscheidenden Informationen, die auf eine veränderte, kritische Situation hinweisen, gibt es viel Hintergrundrauschen. Noch dazu ändern sich die Bedingungen und die Informationslage ständig. Zusätzlich gibt es je nach Anwendungsgebiet weitere Anforderungen, die ebenfalls Aufmerksamkeit und mentale Arbeit erfordern: Skigebietsbetreiber müssen Pisten sichern und möglichst pünktlich aufsperren. Bergführer*innen müssen neben der Lawinensituation auch die Befindlichkeiten der Gäste im Kopf haben.

Expert*innen beherrschen ihr Handwerk so gut, dass diese Herausforderungen von außen kaum zu erkennen sind. Dennoch wird viel kognitive Arbeit geleistet. Im oft durch körperliche Höchstleistungen geprägten Bergsport stehen diese kognitiven Leistungen und die erforderliche mentale Arbeit im Hintergrund. Maguire betont: Risikoeinschätzungen und entsprechende Entscheidungen am Berg sind kognitiv anspruchsvoll und somit anstrengend, auch wenn man es nicht sieht. Kognitive Anstrengung hat kognitive Kosten. Wie der Körper ermüdet auch der Geist. Und wer müde ist, macht Fehler.

Kognitive Systeme und Verhaltenstheorie erklären die den FACETS zugrunde liegenden Prozesse. Um die nicht ganz stimmige Analogie fortzusetzen: Sie sind quasi die Schneephysik hinter den Lawinenproblemen.

Lösungsansätze: strategische Selbsterkenntnis

Der Diskurs über kognitive Kosten, die bei Entscheidungen am Berg anfallen, sowie über Strategien, diesem Problem zu begegnen, ist in Nordamerika spätestens mit den Arbeiten von Maguire und Reaktionen darauf im Mainstream des Lawinenrisikomanagements angekommen. The Avalanche Review (TAR), das Magazin der American Avalanche Association, gibt dem vielschichtigen Thema regelmäßig Raum. Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen aus verschiedenen Bereichen teilen gleichermaßen Erfahrungen und Tipps.

„Kognitive Anstrengung hat kognitive Kosten. Wie der Körper ermüdet auch der Geist. Und wer müde ist, macht Fehler.“

Russ Costa, Professor für Neurowissenschaften und Skitourengeher aus Utah, empfiehlt beispielsweise in einer „Decision Making“-Ausgabe von TAR das Abarbeiten bestimmter Checklisten, um zu verhindern, dass man im falschen Moment die kognitiv einfache Lösung wählt (5). Auf dem Checklisten-Prinzip beruht auch die Merkhilfe SOCIAL, die von SLF-Forscher Benjamin Zweifel entwickelt wurde und Themen wie Gruppenzusammensetzung und Kommunikationstechniken anschneidet.

SOCIAL ist über die SLF-Homepage im Scheckkartenformat verfügbar, inklusive Zusatzinformationen und Kontrollfragen als Anregung zur „Selbstüberprüfung“. Wer im Archiv von TAR (oder in ISSW-Publikationen oder den Studien von Benjamin Zweifel) blättert, findet viele weitere Überlegungen, die spezielle Aspekte der Thematik näher beleuchten.

Die Grundidee ist stets: Wie verhindere ich gedankliches Abgleiten zu bequemen Lösungen, die zu einfach sind, um der komplexen Situation am Berg gerecht zu werden? Und woran kann ich mich stattdessen orientieren? Letzteres wird in Nordamerika zunehmend mit einer Methode beantwortet, die 2014 bei der ISSW vorgestellt wurde: Die Strategic Mindsets (Tabelle 1) von Heliski-Guide Roger Atkins (6) bieten einen Risikomanagementrahmen, in dem der Faktor Mensch gezielt integriert wird. Die Basis für die Strategic Mindsets stellen stark kondensierte verhaltenstheoretische Konzepte dar:

1) Es gibt zwei verschiedene Arten des Denkens und Entscheidens. Einerseits den reflektierten, bewussten, rationalen Denkprozess, der sich an klare Regeln hält und logisch und emotionslos Für und Wider abwägt. Andererseits den unbewussten, „automatischen“, intuitiven Prozess, der es uns ermöglicht, auch in Situationen großer Unsicherheit schnell und anpassungsfähig zu entscheiden. Beide können gleichzeitig zum Einsatz kommen.

Entscheidungen, die wir für völlig rational halten, sind es in Wahrheit nicht immer. Nützliche Automatismen bzw. eine verlässliche Intuition zu entwickeln, braucht Zeit. Für Expert*innen ist die durch jahrelange Erfahrung entwickelte Intuition eine wichtige Stütze bei den kognitiv schwierigen Aufgaben der Entscheidungsfindung am Berg. Für Einsteiger*innen ist mitunter eher das Gegenteil der Fall, da die Intuition noch nicht durch ausreichend Erfahrung geschult wurde.

Mit „Mindset“ meint Atkins die gedankliche Einstellung, mit der wir an einen Tag am Berg herangehen. Sie ist einerseits durch charakterliche Eigenschaften vorgegeben, andererseits durch die Erwartungen und Wünsche, die wir an den bevorstehenden Tag haben. Diese mentale, meist unbewusste Haltung legt den Grundstein für den intuitiven, automatisierten Teil unseres Denkens:

Wir haben eine bestimmte Wahrnehmung der Schnee- und Wettersituation und des Geländes und eine Vorstellung davon, was wir heute machen wollen. Unser intuitives Denken möchte unsere Wünsche erfüllen und steuert Entscheidungen in Richtung der Wunscherfüllung: Wenn ich diesen Hang fahren will, konzentriere ich mich unbewusst auf die Argumente, die dafür sprechen.

2) Die Nudge-Theorie beschreibt in der Verhaltensökonomie eine Methode, menschliche Entscheidungen zu beeinflussen, ohne fixe Regeln oder Verbote aufzustellen. Einfache „Nudges“ (etwa: Anstupser) im Alltag sind Süßigkeiten, die an der Supermarktkasse auf Kinderaugenhöhe platziert sind, über die Lüftungsanlage verteilter Backwarengeruch im Einkaufszentrum, der zum Bäcker lockt, abschreckende Bilder auf Zigarettenschachteln usw.

Risikobereitschaft am berg
Angst und Begehren. Unsere Entscheidungen sind durch das geprägt, was wir erreichen wollen: Ich möchte tiefen Powder in möglichst steilem Gelände fahren, also suche ich mir – mehr oder weniger bewusst – immer einen Hang, der gerade so steil ist, dass ich ihn noch mit meiner Risikobereitschaft vereinbaren kann. Illustration: Georg Sojer.

Auch am Berg lassen wir uns unbewusst von Nudges beeinflussen: Das Wetter ist besser oder schlechter als gedacht, die Kolleg*innen sind zögerlich oder hochmotiviert, der Schnee fährt sich nicht so gut wie erhofft … Je nachdem, mit welcher Grundhaltung wir in den Tag gestartet sind, können solche Nudges unser Verhalten mehr oder weniger stark beeinflussen oder auch den rationalen Denkprozess anspringen lassen.

Wenn ich mit der Einstellung aufstehe, dass ich heute tollen Powder in super Gelände fahren will, weil endlich das Wetter passt, lasse ich mich durch eine motivierte Gruppe erst recht ermutigen und ignoriere den auflebenden Wind und frischen Triebschnee. Wenn ich mir allerdings schon in der Früh unsicher bin, ob das heute nicht etwas kritisch ist, reagiere ich sensibler auf den Wind und andere Nudges.

Angst und Begehren

Eingebettet in das Mindset, die mentale Grundhaltung zum Tag, sind die Dinge, nach denen wir streben, und die, die wir vermeiden wollen. Staubender Tiefschnee in steilen Hängen steht als Begehrlichkeit der Angst vor dem Lawinentod gegenüber. Unsere Entscheidungen sind dabei durch das geprägt, was wir erreichen wollen: Ich möchte tiefen Powder in möglichst steilem Gelände fahren, also suche ich mir – mehr oder weniger bewusst – immer einen Hang, der gerade so steil ist, dass ich ihn noch mit meiner Risikobereitschaft vereinbaren kann.

Das kann zu großartigen Abfahrten und Erfolgserlebnissen führen. Es kann aber auch dazu führen, dass ich durch den grundlegenden „Steep and Deep“-Wunsch bei ungünstigen Bedingungen irgendwann ein zu hohes Risiko eingehe. Im Lawinenkontext geht es vor allem darum, so zu entscheiden, dass das Risiko auf ein akzeptables Maß reduziert wird.

Wir reagieren damit nicht in erster Linie auf die Begehrlichkeiten, die uns überhaupt erst an den Berg bringen (steiler Powderhang), sondern auf die Angst vor den möglichen Konsequenzen (Lawine). Atkins setzt in seinen Überlegungen auf der anderen Seite der Gleichung an: Wenn wir unsere Wünsche und Erwartungen flexibel an die Bedingungen anpassen können, steuern wir auch das Mindset, also die Erwartungshaltung, und damit das Risiko.

Strategische Mindsets von Bruce Tremper und Roger Atkins
Diagramm 1: Strategic Mindsets von Bruce Tremper und Roger Atkins

Anwendungsorientiert zusammengefasst ergeben sich daraus die Strategic Mindsets wie in Diagramm 1 dargestellt. Basierend auf den Schneebedingungen wird ein grundsätzliches Mindset festgelegt, das einen Rahmen für die Gestaltung des Tages vorgibt und die Erwartungshaltung von Anfang an reguliert. Impliziert ist ebenfalls, dass aktiv und bewusst besprochen wird, warum wann welches Mindset gilt, sei es unter Heliskiing-Guide-Kolleg*innen, wie in Atkins’ Anwendungsbeispiel, oder mit der eigenen Tourengruppe.

Es wird einerseits ein Handlungsrahmen vorgegeben, der je nach Situation von vornherein die Optionen begrenzt, andererseits wird durch die Bereitstellung von konkreten Begrifflichkeiten und einer Erwartungsstruktur die Kommunikation gefördert.

Das Spiel gewinnen

Neben der tabellarischen Mindset-Struktur für den Praxiseinsatz nennt Atkins grundsätzlich drei Dinge, an denen man arbeiten kann, um die intuitiven und rationalen Denkprozesse auszubalancieren, die zu unseren Entscheidungen führen.

  1. Selbsterkenntnis. Je besser wir verstehen, was wir tun und warum, desto mehr Handlungsspielraum haben wir, daran etwas zu ändern.
  2. Optionen schaffen. Nur wenn wir mehrere gleich attraktive Optionen haben (selection of desires), können wir:
  3. Die eigenen Wunschvorstellungen und Erwartungen der Situation anpassen.

Die Crux liegt wohl in Punkt 2. Es geht nicht in erster Linie darum, konkrete Tourenziele an die Bedingungen anzupassen, da das die zugrunde liegende Motivation nicht ändert („Ich will Powder fahren, aber heute ist es kritisch, also suche ich einen nicht ganz so steilen Powderhang“). Betrachtet man winterlichen Bergsport als Spiel, bedeutet ein Lawinenunfall, dass man verloren hat. Wir spielen aber in der Regel nicht, um nicht zu verlieren.

Dieses Ziel wäre einfacher erreicht, wenn man schlicht nicht spielt. Wir spielen, um zu gewinnen. Wir wollen das Gipfelerlebnis, den Powderhang, die Couloirbefahrung. Um eine echte Auswahl möglicher Gewinnsituationen, eine „selection of desires“ zu haben, muss man in der Lage sein, die angestrebten Glücksgefühle auch jenseits des Adrenalinrausches zu erleben. Damit die flache Almwiesentour, das Naturerlebnis einer Rodelbahn, ein Pistentourenworkout … echte Alternativen darstellen, müssen sie nicht nur den rationalen, sondern auch den emotionalen Teil des Denkprozesses zufriedenstellen.

Wir müssen auch solche Erlebnisse emotional unter „Spiel gewonnen“ verbuchen. Atkins predigt nicht grundsätzlich Verzicht, sondern empfiehlt, von „Verzicht“ als Einstellung Abstand zu nehmen und sich stattdessen auf die Freuden der Alternativen zu konzentrieren. Wenn alles passt, soll man ruhig den steilen, pulvrigen Traumhang ansteuern und das Begehren der Perfektion zulassen. Wenn wir das Glücksgefühl des Skifahrens aber ausschließlich dort finden, bringt uns die Suche danach früher oder später wahrscheinlich um. Die Grafik und Tabelle fassen die Strategic Mindsets zusammen. Die Inhalte stammen aus der Publikation von Roger Atkins und wurden für diesen Artikel ins Deutsche übersetzt.

Literatur

Vielen Dank an Laura Maguire für die geduldige Beantwortung vieler Fragen und an Drew Hardesty (Utah Avalanche Center) für den großzügigen Austausch zu diesem Thema.

1) McCammon, Ian (2002). Evidence of heuristic traps in recreational avalanche accidents. Presented at the International Snow Science Workshop, Penticton, Canada, Sept.30-Oct.4. http://www.sunrockice.com/docs/Heuristic%20traps%20IM%202004.pdf

2) McCammon, Ian, 2004. Heuristic Traps in Recreational Avalanche Accidents: Evidence and Implications. Avalanche News, 68. http://www.sunrockice.com/docs/Heuristic%20traps%20IM%202004.pdf

3) Maguire, Laura (2019). Human Performance in uncertain environments. The Avalanche Review 37.4

4) Maguire, L., & Percival, J. (2018). Sensemaking in the snow: examining the cognitive work of avalanche forecasting in a Canadian ski operation. In International Snow Science Workshop, Innsbruck, Austria, 2018.

5) Costa, Russ (2021). Tired Bodies, Tired Brains. Decision Fatigue in High Risk Environments. The Avalanche Review 39.4

6) Atkins, Roger (2014). Yin, Yang, And You. In International Snow Science Workshop, Banff, 2014. https://arc.lib.montana.edu/snow-science/objects/ISSW14_paper_O9.02.pdf

Erschienen in der
Ausgabe #122 (Frühling 23)

bergundsteigen #122 cover