Kolumne: Das Ruhezonen-Paradox
Tom Dauer sucht Antworten. #inunsrernatur 9
Jetzt ist schon wieder was passiert. Sagt der Erzähler der Brenner-Krimis, geschrieben von Wolf Haas und äußerst lesenswert, stets zu Beginn seiner Geschichten. Ich finde diesen Satz erstaunlich. Er kommt so einfach daher und ist zugleich komplex. Denn offenbar ist „was“ geschehen, das bemerkenswert zu sein scheint, zugleich aber geschah es „schon wieder“, also nicht zum ersten und vermutlich nicht zum letzten Mal. Damit ist „was“ besonders und gewöhnlich zugleich, und deshalb unserer Aufmerksamkeit wert.
Jetzt also ist schon wieder was passiert. Wo tut nichts zur Sache, denn die Sitzung zum Thema „Skitourenlenkung“ war eine unter vielen und könnte überall im Alpenraum stattgefunden haben. Im Protokoll dieses Treffens heißt es, dass im fraglichen Gebirge neue Schutzzonen ausgewiesen werden sollen, diese aber „keine gesetzlich untermauerten Sperrflächen darstellen“ und ein „freiwilliger Verzicht“ seitens der Skitourengehenden angestrebt werde.
Lenkungsmaßnahme oder Schlag gegen die individuelle Freiheit?
Das klingt versöhnlich und nach einem auf Aufklärung und Einsicht beruhenden Kompromiss. Einige Seiten weiter hinten jedoch lautet die Formulierung, ein Skitourenaufstieg „soll verhindert werden“. Das klingt schon wieder ganz anders und ich befürchte, dass die Sprachwahl nicht nur unglücklich ist, sondern das „was“ offenbart – Verhinderung ist etwas anderes als freiwilliger Verzicht und aus einer Lenkungsmaßnahme wird „schon wieder“ ein Schlag gegen die individuelle Freiheit.
Einige Gedanken zu diesem Thema habe ich in Ausgabe #117 bereits geäußert und ich verstehe, wenn man mir vorwirft, mein Verständnis von Freiheit beziehe sich zu sehr auf das Individuelle und lasse die Auswirkungen meiner Handlungen auf andere außer Acht. Das aber ist in diesem Fall gar nicht der Punkt. Denn genauso wie der mögliche Verlust an Freiheitsgraden ärgert mich die Ungerechtigkeit, mit der ich mich angesichts des beschriebenen Sachverhalts konfrontiert sehe.
Und die sich nicht auf dieses eine „was“ beschränkt. Im Jahr 2019 wurde der Alpinismus von der UNESCO zu einem Teil des Immateriellen Weltkulturerbes erklärt. Das hatte gute Gründe, denn gleichwohl das Bergsteigen eine starke, weltweit ausgeübte Praxis ist, wird es von mindestens zwei Seiten in die Zange genommen. Zum einen vom Tourismus und einer Ermöglichungsindustrie, die den Zugang in die Bergwelt mittels einer raumgreifenden Infrastruktur immer mehr Menschen zu erleichtern trachtet.
Bergsteigende als Eindringlinge
Zum anderen von einem romantisch verklärten Naturschutz, der Bergsteigende als per se unerwünschte Eindringlinge betrachtet, die einen vermeintlichen Idealzustand gefährden. Es gibt in dieser Gemengelage verschiedener Interessen keine einfachen Lösungen. Umso wichtiger ist es, immer wieder darauf hinzuweisen, dass auch Alpinisten – Alpinismus verstehe ich hier als Überbegriff verschiedener Bergsportdisziplinen – einen berechtigten Anspruch darauf haben, sich in ihrem natürlichen Habitat, den Bergen, zu bewegen.
Zumal ihr Anteil an den Belastungen, die auf alpine Regionen ausgeübt wird, verschwindend gering ist. Für das eingangs erwähnte Gebiet, in dem aktuell über Lenkungsmaßnahmen diskutiert wird, stellte eine Interreg-Studie beispielsweise fest, dass „gar nicht unbedingt die vielen Natursportler das Problem“ für Wildtiere darstellen, „sondern die (zunehmende) Erschließung der Landschaft mit Forst-, Alm- und Wanderwegen“. Okay, diese Einschätzung stammt von 2002.
Betrachtet man aber gut 20 Jahre später die sich regelmäßig aktualisierende „Heatmap“ des sozialen Netzwerks „Strava“, das dem Tracking sportlicher Aktivitäten dient, dann stellt man fest, dass die überwiegende Mehrzahl dieser Aktivitäten auf eben jenen Wegen stattfindet, die der Erschließung dienen. In den Räumen, in denen Schutzzonen errichtet werden sollen, ist dagegen kaum jemand unterwegs. Ich frage mich deshalb, wer dort tatsächlich vor wem geschützt werden soll.
Die Deutsche Wildtier Stiftung, die nicht gerade im Verdacht steht, im Konflikt zwischen Wildtieren und Natursportlern auf Seite der Letzteren zu stehen, fasste ihre Zweifel an der Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen kürzlich in den Begriff des „Ruhezonen-Paradox“: Dass in Schutzgebieten keine Skitouren unternommen, dafür aber Gämsen, Rehe und Hirsche oft über die Schonzeit hinaus gejagt werden dürften, sei ein Widerspruch in sich. Und alles in allem ungerecht.