Klettern mit Behinderung: Inklusion auch andersrum
Sehr langsam klettert Amelie Baumann, im Toprope gesichert, eine mit 5- bewertete Route hinauf. Derart nüchtern ließe sich die Szene beschreiben, die sich im Weyarner „KletterZ“ abspielt. Die Beschreibung wäre richtig. Und zugleich grundfalsch, denn was wirklich passiert an jedem zweiten Dienstag, 17.30 Uhr, in der Kletterhalle südlich von München, ist etwas ganz anderes: eine Form der Selbstermächtigung und auch ein kleiner Sieg über alle möglichen Vorbehalte, Vorurteile und scheinbaren Gewissheiten, die man so haben kann als vermeintlich gesunder Normalmensch.
Dass Amelie langsam klettert, aber ebenso zielstrebig und ohne zu rasten, hat einen Grund. Als sie vor zwölf Jahren geboren wurde, erlitt sie einen gravierenden Sauerstoffmangel, der Nervenzellen in ihrem Gehirn absterben ließ. Erst ein gutes Jahr nachdem sie zur Welt gekommen war, machten sich die daraus entstandenen Folgen bemerkbar. Amelie ist spastisch gelähmt und kann bis heute nicht allein gehen.
Klettern aber kann sie. „Und zwar selbst.“ Dass sie eine infantile Zerebralparese hat, interessiert im KletterZ deshalb kaum jemanden und schon gar nicht die Mitglieder der Klettergruppe „H3 – Mit Handicap Hoch Hinaus“, der Amelie angehört. Ihnen nämlich geht es nicht darum, was sie alles nicht können, sondern darum, was sie können. Und wer ihnen dabei hilft, ihr Können – und ihre Wünsche – umzusetzen.
Von oben nach unten
Gegründet wurde H3 von Brigitte Dembinski. Weil die leidenschaftliche Kletterin so viel von ihrem Tun profitiert habe, habe sie irgendwann das Gefühl gehabt, „etwas zurückgeben“ zu wollen. Just zu jener Zeit erfuhr sie von den Aktivitäten des 2008 gegründeten Vereins „Ich will da rauf!“, für den sich die Gründungsmitglieder Alexander und Thomas Huber bis heute engagieren. Das imponierte Dembinski, und nachdem der Deutsche Alpenverein (DAV) 2016 das Konzept für „Trainer:in C, Klettern für Menschen mit Behinderung“ entworfen hatte, war sie die Erste, die sich dafür anmeldete.
Ziel der gut zweiwöchigen Ausbildung, die aus drei Lehrgängen besteht, ist laut DAV, „den Inklusionsgedanken zu fördern und Kletterangebote für Menschen mit Behinderungen in den Sektionen aufzubauen“. Heute gibt es zwischen Bremen und Freiburg eine große Anzahl inklusiver Sportkletterangebote, sowohl für Erwachsene als auch für Kinder. Als Dembinski vor sieben Jahren ihren Trainerschein gemacht hatte, gab es dagegen kaum Initiativen. Die inzwischen 64-Jährige irritierte das nicht, und man glaubt der kleinen, quirligen und selbstbewussten Frau sofort, dass sie gewillt war, fortan jedes Hindernis aus dem Weg zu räumen.
Das größte und vielleicht am wenigsten erwartete: Dembinski stand vor der Aufgabe, Menschen mit Behinderung überhaupt erst für ihre Idee zu motivieren. Über einen Bekannten fand sie Zugang zu Rollstuhlfahrern, die sich in ihrer Heimatgemeinde als Sportschützen betätigten. Frei heraus fragte sie einen jungen Mann, ob er Interesse am Klettern hätte. Dessen lakonische Antwort: „Kann es sein, dass du was mit den Augen hast?“ Doch von anfänglichen Zweifeln derer, denen sie Gutes tun wollte, ließ sich Dembinski nicht beirren.
Der skeptische Rollstuhlfahrer trat der Gruppe H3 bei, die sie inzwischen unter dem Schirm der Sektion Miesbach gegründet hatte. Später wird er sagen, das Klettern habe ihm einen nie erwarteten Perspektivenwechsel ermöglicht: als Rollstuhlfahrer nicht nur von unten nach oben, sondern von oben nach unten zu blicken.
Amelie Baumann begann zu klettern, als sie sechsjährig von einer Freundin zum Kindergeburtstag ins KletterZ eingeladen wurde. Auch die Gymnasiastin hatte anfänglich Zweifel, wie sie „als beeinträchtigtes Kind, das nicht frei laufen kann“, klettern solle. Doch die Zweifel zerstreuten sich nach den ersten Versuchen. Für das Vereinsblatt der Sektion Miesbach schrieb Amelie kürzlich einen Beitrag mit dem Titel „Behinderung? – Na und!“.
Darin schildert sie: „Es war super, so motivierend, denn jeder hat ein Handicap, aber es werden die Stärken herausgefunden und die Schwächen gefördert. Man ist nicht allein mit seiner Einschränkung, alle haben eine und meistern diese! … Man kann so viel erreichen und über sich hinauswachsen, wenn man es nur versucht.“ Amelies Eltern, die sie zunächst nur sicherten, klettern inzwischen auch. Die Begeisterung ihrer Tochter ist ansteckend. Und Inklusion funktioniert auch andersrum.
Trisomie 21 ist keine Ausrede
Inzwischen ist es 19 Uhr geworden, in Weyarn beginnt das Erwachsenentraining. Vor dem ebenerdigen Eingang zum Außenbereich des KletterZ fährt ein Kleinbus vor, dessen sechs Insassen bestens gelaunt aussteigen. Sie leben im Wohnheim der Regens-Wagner-Stiftung im nahegelegenen Holzkirchen und werden seit ein paar Jahren regelmäßig zu den Treffen der H3-Gruppe gefahren. Laura Waertel nimmt sie am Fuß der Kunstwand in Empfang, schaut, dass alle ihren Gurt richtig anlegen, und bindet dem ein oder anderen die Kletterschuhe zu.
Zu Jahresbeginn 2023 hat die 42-Jährige die Leitung von „H3 – Mit Handicap Hoch Hinaus“ übernommen. Leicht fiel es Brigitte Dembinski nicht, „mein Baby“ in andere Hände zu geben. Andererseits hätte sie das nicht gemacht, hätte sie auch nur den leisesten Zweifel an der Zuverlässigkeit oder der Kompetenz Waertels gehabt. Denn natürlich ist auch das Hallenklettern mit Menschen mit Behinderung in erster Linie Klettern – und damit ein Sport, der Risiken birgt, der Aufmerksamkeit und Konzentration erfordert, bei dem die Möglichkeit einer Fehlbedienung oder eines Fehlverhaltens nie ausgeschlossen werden kann.
Und, das kommt on top, der von den zehn H3-Trainer:innen die Fähigkeit verlangt, auf Menschen zuzugehen, Nähe zuzulassen, das Gespräch zu suchen, aufzumuntern, zu trösten. Aber auch Michi Hertrich zurechtzuweisen, wenn der 26-Jährige mit Down- Syndrom mal wieder nicht aufhören kann, seine Mitkletterer am Gummizug der Beinschlaufen zu zupfen. Waertel arbeitet als Supply-Chain- und Quality-Managerin in der IT-Branche.
Seit 2018 ist sie Trainerin in der H3-Gruppe. Natürlich weiß sie, welche Einschränkungen ihre Schützlinge haben und welche medizinischen Maßnahmen sie im Notfall einleiten muss. Das Schöne aber ist: Obwohl alle Teilnehmer:innen über eine persönliche Geschichte verfügen, eine individuelle Kombination aus körperlichen und geistigen Merkmalen haben, in diesem Sinne also besonders sind, nimmt sich niemand besonders wichtig. Schon gar nicht, weil er oder sie eine bestimmte Route geklettert ist, onsight oder flash, irgendeine Mikroleiste nicht halten kann, den Aufleger nicht erreicht oder den Fuß nicht hoch genug auf den entscheidenden Tritt bringt.
Während also die Wohnheimtruppe in die Kletterhalle einzieht, mutet die Situation fast ein wenig absurd an. Laut lachend, wild gestikulierend, einander umarmend, gelassen auf ein freies Toprope wartend, zele- brieren die H3-Sportler die Essenz des Klettersports – das Zusammensein, die Freude über den Erfolg des anderen, den Genuss der gemeinsamen Zeit –, während der Großteil der Nicht-Beeinträchtigten mit heiligem Ernst ein Trainingspensum abspult, den x-ten Versuch im Projekt unternimmt, eine längst uniform gewordene Scheinindividualität feiert, Neuankömmlinge nicht grüßt.
Das Klettern scheint eher lästige Pflichterfüllung denn Lebenselixier zu sein. Bei H3 wird dagegen aus dem einfachen Grund geklettert, dass es Spaß macht. Es gibt keine Posen, keine Selbstinszenierung, kein lautes Fluchen. Und obwohl es vielleicht naheliegend wäre, werden weder Epilepsie noch Autismus, weder Multiple Sklerose noch Muskeldystrophie, weder Trisomie 21 noch Spastik als Ausrede ins Feld geführt, wenn eine Route sich als zu schwierig erweist.
„Willst du mich verarschen?“
Sieben Trainer:innen sind heute für die Betreuung der H3-Mitglieder anwesend; so kann jeder zu jeder Zeit klettern, außer man nimmt sich wie Kian von Düring gerade mal eine Pause. 18 Jahre ist der junge Mann alt, und das Down-Syndrom hält ihn nicht davon ab, sich entweder als grenzwertig frecher Lausbub oder als vollendeter Gentleman zu verhalten. Als einer von acht H3-Athlet:innen nahm er im Januar 2023 an den Winterspielen der Special Olympics Bayern teil, die in Bad Tölz stattfanden. Für die Betreuer waren dies vier anstrengende Tage, die sie an den Rand ihrer Kräfte brachten. Für Kian war es das Paradies.
Er hat ein Faible für Polizeiuniformen und junge Damen und besonders für junge Damen in Polizeiuniformen. Wenn er in der vollen und lauten Wettkampfhalle wieder mal nicht aufzufinden war, musste Kian nur über Polizeifunk gesucht werden. Schnell stand er dann wieder parat, meist mit Polizeijacke bekleidet und Barett auf dem Kopf.
„Nur um dabei zu sein“, wie Waertel zunächst gedacht hatte, hatten die H3ler allerdings nicht an den Special Olympics teilgenommen: Mit fünf silbernen und vier bronzenen Medaillen sowie einem gehörig gewachsenen Selbstbewusstsein kehrte das Team nach Weyarn zurück – gemeinsam schwärmen Athleten und Betreuer:innen bis heute von der Atmosphäre, die bei der Veranstaltung herrschte. „In erster Linie sollte man die Beine und Füße benutzen“, erklärt Waertel einer Teilnehmerin, als Stefan Kral um die Ecke kommt.
„Der war gut“, kommentiert der 37-Jährige, der mit offener Lendenwirbelsäule zur Welt kam und Zeit seines Lebens auf den Rollstuhl angewiesen ist. Kral verzieht dabei keine Miene, und vermutlich hilft ihm sein trockener schwarzer Humor über manch unfreiwillig komische Situation hinweg. Ob er mal einen Schritt zur Seite gehen könne, fragte ihn Trainer Rudi Schuster bei seiner ersten Teilnahme am H3-Training.
„Willst du mich verarschen?“, antwortete Kral. Seither verstehen sich die beiden Männer blendend. Gesichert von Schuster, zieht sich Kral ohne Seilunterstützung eine 16 Meter lange Route bis zur Umlenkung empor, Kunstgriff um Kunstgriff. Seine Oberkörper- und Oberarmkraft sind beeindruckend. Als Paraclimbing-Weltmeister Korbinian Franck, regelmäßiger Teilnehmer der H3-Gruppe, dem Kletterneuling zum ersten Mal zusah, riet er ihm, sich sofort im Stützpunkt des DAV-Kaders zu melden.
Das tat Kral auch, absolvierte ein Probetraining, tut sich aber schwer, den Leistungssport mit seiner Arbeit in der Stadtverwaltung Miesbach in Einklang zu bringen. Ein Grund zu hadern ist das für ihn nicht. Kral hat einen überaus pragmatischen Blick auf das Leben insgesamt, und auf das Klettern besonders. Der Sport ist für ihn weder Leidenschaft noch Selbsterfüllung und das viel beschworene, selten wirklich empfundene Lebensgefühl, das das Klettern bieten kann, ist ihm fremd.
Klettern bedeutet für Kral vor allem die Möglichkeit, sich aus seinem Sitz zu erheben. Die Frage nach dem Warum, nach dem Sinn des Kletterns, mögen sich andere stellen. Er klettert, weil es ihm guttut.
Das KletterZ
„Die Förderung des Klettersports sowie des Behindertensports“ ist in der Satzung des Fördervereins der Weyarner Kletterhalle „KletterZ“ in §2 Abs.1 verankert. Das Wort allerdings wäre das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben steht, wären ihm nicht auch Taten gefolgt.
Tatsächlich ist der Zugang sowohl zum Innen- als auch zum Außenbereich des KletterZ barrierefrei möglich. Mit seinen Angeboten „H3 – Mit Handicap Hoch Hinaus“ sowie „Bouldern gegen Depression“ zählt das 2015 eröffnete KletterZ zu den ersten inklusiven Kletterhallen in Deutschland.
Nicht nur in der Kletterhalle, auch im Gebirge gibt es tolle initiativen zur Förderung des Bergsports für Menschen mit Beeinträchtigung. Hier geht’s zum Artikel „Inklusion im Gebirge” der Ausgabe #124.