Kilian Jornet: Durch die Berge schweben
Exklusivinterview mit Kilian Jornet
Wie wird man so schnell am Berg wie du?
Es ist kein Geheimnis, dass das viele Jahre dauert. Weil jede Form von Bewegung am Berg sehr komplex ist. Das ist ein langer Prozess mit drei Säulen: Technik, Fitness und Bergerfahrung. Zuerst sollte man die Technik lernen – Skifahren, Klettern, Laufen. Anschließend kann man an seiner Ausdauer arbeiten. Für das Bergwissen und die Erfahrung braucht es am längsten.
Du warst 13, als du angefangen hast, systematisch zu trainieren.
Damals habe ich als Skibergsteiger begonnen, jeden Tag zu trainieren. Mit einem Trainingsplan. Davor bin ich viel Rad gefahren, habe Skilanglauf gemacht und war mit meinen Eltern beim Bergsteigen.
War Geschwindigkeit schon ein Thema, als du mit den Eltern in die Berge gegangen bist?
Nein, überhaupt nicht. Das war klassisches Bergsteigen in den Pyrenäen, manchmal in den Alpen. Aber ich erinnere mich an einen Tag, an dem ich mit meinen Eltern einen 3.000er in den Pyrenäen bestiegen habe. Dort fand am gleichen Tag ein Berglauf statt. Und da hab‘ ich mich einfach an einen Läufer rangehängt.
Wie alt warst du da?
Fünf oder sechs. Ich hab‘ mich also schon immer gern schnell bewegt.
Kilian Jornet
- *27.10.1987
- aufgewachsen in Katalonien (E)
- mehrfacher Skyrunning-Weltmeister
- Sieger legendärer Ultra-Läufe
- Rekordhalter der schnellsten Aufstiege am Matterhorn, Mont Blanc, Denali und Mount Everest
- bewältigte innerhalb von 24 Stunden über 23.000 Höhenmeter
- ist mit über einer Million Followern auf Instagram wertvoller Influencer und Markenbotschafter
Was gibt dir die Schnelligkeit?
Es ist einfach sehr praktisch, schnell zu sein. Es erspart einem oft kalte oder schlaflose Hüttennächte mit schnarchenden Zimmergenossen. Wer am Berg schnell ist, kann dort mehr unternehmen, erleben, sehen.
Ein Befürworter entschleunigter Gemütlichkeit würde jetzt einwenden: Wie kann man die Berge genießen, wenn man sich abhetzt?
Ich sehe oft Menschen am Berg, die sehr langsam unterwegs, aber trotzdem völlig am Ende sind: Es geht also weniger um die Geschwindigkeit, sondern um die Fitness. Und da schließen viele zu sehr von sich auf andere, denken, dass das Tempo, das ein Bergläufer läuft, für diesen so anstrengend sein muss wie für sie selbst. Aber was für sie unmöglich wäre, ist für mich ganz normales Tempo. Hinzu kommt die Technik: Wenn man technisch gut ist, sieht man auch mehr von den Bergen, weil man sich viel weniger auf die Skier oder die Beine konzentrieren muss. Klar: Wenn ich ein Rennen laufe oder einen Rekordversuch unternehme, bin ich darauf fokussiert und nicht auf die Landschaft. Aber an 99 von 100 Tagen trainiere ich – da laufe ich nicht Vollgas und kann die Berge so genießen wie ich will.
Wie erlebst du Schnelligkeit?
Wenn es gut läuft, als eine Art Flow, beinahe wie einen Zustand des Schwebens.
Kannst du das genauer beschreiben?
Wenn ich einen langen Lauf mache und nach zehn Stunden und 80 Kilometern zurückblicke und all die Berge und Kämme sehe, die ich überwunden habe, aber trotzdem noch ziemlich frisch bin, dann fühlt sich das an, als ob ich durch die Berge schweben könnte. Aber damit sich das einstellt, braucht es die Kombination aus weit und schnell.
Wie gehst du mit dem Verhältnis von Geschwindigkeit und Risiko um?
Je nachdem, wo ich mich bewege. Im Himalaya bremst dich die Höhe. Da bist du langsam, selbst wenn du schnell bist. Da ist das Schnellsein weniger ein Risiko als eine Sicherheitsreserve, weil man so weniger Zeit in der Todeszone verbringt. Klar: Man muss abwägen, wie viel oder wie wenig Ausrüstung man mitnimmt. Wenn man – wie ich – mit sehr wenig Material unterwegs ist, um schneller zu sein, können sich daraus natürlich auch Risiken ergeben.
Und wenn die Gefahr von der Ausgesetztheit und Schwierigkeit des Geländes ausgeht?
Da ist das Management von Risiko und Tempo am wichtigsten. Und am schwierigsten. Wenn man etwa in den Alpen eine Nordwand solo und sehr schnell durchsteigen will, muss man dafür unbedingt die richtige Balance aus Geschwindigkeit und Sicherheit finden. Es muss sich immer gut und sicher anfühlen, man darf nie über seine Limits hinausgehen, man muss dem Gelände absolut gewachsen sein.
Wie bekommst du diese Balance hin?
Mit ganz viel Training. Nur so tastet man sich heran, mit welcher Geschwindigkeit man sich wo bewegen kann. Letztlich geht es immer darum, die Konsequenzen eines Fehlers abzuschätzen. In einem Rennen – egal ob Berglauf oder Skimo – breche ich mir im schlimmsten Fall ein Bein. Da kann ich das Tempo erhöhen, um das Rennen zu gewinnen, weil ich mich im Fall des Falles vielleicht verletze, aber nicht sterbe. Wenn die Folgen eines Fehlers tödlich wären, muss ich alles tun, um die Wahrscheinlichkeit eines Fehlers zu minimieren.
Du hast gesagt, dass du von all deinen Speed-Rekorden und Fastest Known Times, mit der am Matterhorn von 2013 am zufriedensten bist, weil du da an dein Optimum herangekommen bist. Wie hast du da die Balance aus Geschwindigkeit und Sicherheit gefunden?
Es ging darum, die Route über den Liongrat so gut wie möglich kennenzulernen. Also bin ich sie vor dem Rekordversuch zehnmal gelaufen. Zu möglichst unterschiedlichen Zeiten, um zu wissen, wann es an welchen Stellen taut und gefriert – wie sich die Bedingungen verändern. Wann habe ich wo einen guten Grip? Wo muss ich besonders aufpassen? Wo kann ich Tempo machen? Die Vorbereitung auf die Route war alles. Die Fitness konnte ich einfach abrufen.
Motiviert es dich, schnell zu sein und schneller zu werden?
Wenn man auf einer Strecke schneller ist als zuvor, bedeutet das, dass man seine Sache besser macht – konditionell, technisch oder weil man die Route besser kennt. Es kann also ein Indikator dafür sein, ob man sich verbessert. Aber man darf Schnelligkeit auch nicht überbewerten.
Inwiefern?
Am Berg geht es zuerst einmal immer um Ausdauer – selbst bei kürzeren Unternehmungen, nicht nur, wenn man zehn, 20 oder 30 Stunden unterwegs ist. Wenn zu einer guten Ausdauer dann noch Geschwindigkeit hinzukommt, öffnen sich natürlich die Türen für besondere Unternehmungen.
Alex Honnold hat mal in einem Interview gesagt, dass es ihm nicht um Geschwindigkeit gehe, sondern um eine möglichst flüssige, unterbrechungslose Form der Bewegung.
Das würde ich sofort unterschreiben. Es geht darum, sich möglichst effizient und kontinuierlich zu bewegen. Es geht nicht um Geschwindigkeit um ihrer selbst willen, sondern um Geschwindigkeit als Voraussetzung oder auch Folge dessen, was man am Berg machen möchte. Wie man sich bewegt. Und in welchem Stil.
Wie hat dich die Begegnung mit Ueli Steck beeinflusst?
Schon als Kind und Jugendlicher habe ich verfolgt, was er in den Alpen und im Himalaya geleistet hat. Ich habe ihn bewundert und fand seine Vision inspirierend. Als wir später in den Alpen und im Himalaya zusammen unterwegs waren, war das wie eine tägliche Masterclass für mich: nicht nur klettertechnisch, sondern auch wie er ein Projekt, eine Linie angegangen ist. Wie er alles – von der Ernährung über das Training bis zur Ausrüstung – von Anfang bis Ende durchdacht hat, damit sich alles zu einem Projekt zusammenfügt, das viele nicht für möglich gehalten hätten.
Wer hat für dich die Entwicklung hin zur Schnelligkeit im Alpinismus geprägt?
Für das, was wir heute in den Bergen machen, markiert Paul Preuß den Anfang. Er setzte als erster den Maßstab für das, was wir alpinen Stil nennen. Einen Stil, aus dem sich als Konsequenz auch das Ideal oder die Notwendigkeit der Schnelligkeit ergeben hat. Leute wie Walter Bonatti und Reinhold Messner haben diesen Stil dann weiterentwickelt und auf schwierigere und höhere Berge übertragen. Was Dani Arnold macht, finde ich sehr, sehr stark. Auf der eher sportlichen Schiene – also Skimo und Berglauf – haben mich Fabio Meraldi und Adriano Greco sehr beeindruckt. Und als Alpinist natürlich Christophe Profit – besonders seine Begehung der Petit Dru-Westwand. Ein Game Changer war natürlich auch die Durchsteigung der Annapurna-Südwand durch Enric Lucas und Nil Bohigas 1984. Da haben sie gezeigt, dass sich der alpine Stil auf schwere Kletterrouten im Himalaya übertragen lässt.
Was würdest du selbst als deine größte Stärke nennen?
Dass ich sehr schnell regeneriere. Und dadurch über die Jahre sehr, sehr viel trainieren konnte. Außerdem bin ich einfach gern in den Bergen – das ist noch immer meine größte Motivation. Und dann ist es sicher ein Vorteil, dass ich mich nicht nur als Bergläufer, sondern auch auf Skiern und als Alpinist bewege. Da lernt man das Gelände auf verschiedene Art und Weise kennen und kann es noch besser interpretieren.
Du bist dafür bekannt, dass du wie ein Wissenschaftler trainierst, der seine eigene Leistungsfähigkeit erforscht. Welche Werte misst du regelmäßig?
Eigentlich immer nur die Strecke, die Höhenmeter, die Zeit und wie ich mich dabei gefühlt habe. Manchmal – vielleicht zwei-, dreimal im Jahr – messen wir auch andere Werte: Sauerstoffsättigung, Laktat, Körpertemperatur, Kraft. Je nachdem, was ansteht.
Wann wurde zuletzt dein legendär hoher VO2max-Wert gemessen?
Nach meinem Versuch, einen neuen Streckenrekord über 24 Stunden aufzustellen – den ich wegen Brustschmerzen ja leider abbrechen musste. Die Ärzte wollten mit dem Test auf Nummer sicher gehen und ein Herzproblem ausschließen. Also war das kein Maximaltest. Da bin ich dann auf 80 Milliliter Sauerstoff pro Minute gekommen. Sonst komme ich auf eine maximale Sauerstoffaufnahme zwischen 88 und 92 Milliliter pro Minute.
Was erklärt diesen extrem hohen Wert?
Das ist zum Teil genetisch bedingt, zum anderen Ergebnis von sehr viel Training, vor allem in jungen Jahren. Aber auch diesen Wert – ähnlich wie den Parameter Geschwindigkeit – darf man nicht überbewerten. Beim Laufen im Flachen hat er eine viel geringere Bedeutung als beim Skibergsteigen, beim Berglaufen oder beim Skilanglauf. Athleten mit einem niedrigeren VO2max können schneller sein als Athleten mit einem höheren Wert. Das ist nur ein Parameter von vielen. Wenn es anders wäre, bräuchten wir nur diesen Wert messen, könnten uns das Rennen sparen und der mit dem höchsten VO2max würde zum Sieger erklärt. (Lacht)
Wie siehst du das Verhältnis von Ausrüstung und Schnelligkeit?
Immer bessere und leichtere Ausrüstung hat uns immer auch schneller gemacht. Bessere Ausrüstung ermöglicht Dinge, die vorher unmöglich waren. Sie hat den Alpinismus immer wieder revolutioniert – vom Kletterschuh bis hin zum Drytooling.
Als Läufer bist du mit viel weniger Ausrüstung unterwegs als beim Skibergsteigen.
Das ist auch das Schöne daran. Wahrscheinlich hat der Faktor Ausrüstung das Laufen viel weniger verändert als das beim Skibergsteigen oder im Klettern der Fall war. Auch wenn die Laufschuhe über die Jahre viel besser geworden sind.
Was genau gefällt dir am Minimalismus des Laufens?
Dass da fast nichts zwischen mir, meiner Leistung, der Strecke und dem Berg steht. Je weniger Ausrüstung ich brauche, desto mehr bin ausschließlich ich es, der die Leistung vollbringt. Man kann Ausrüstung als eine Art mechanisches Doping verstehen. Beim Laufen bin ich in der Hinsicht fast nackt.
Wie schätzt du die weitere Entwicklung ein?
Immer mehr Leute werden verschiedene Formen des sich Bewegens miteinander kombinieren – auch um schneller zu werden. Und damit meine ich nicht nur die Verbindung aus Berglaufen und Alpinismus, sondern zum Beispiel auch Skifahren und Paragliden. Und viele andere Kombinationen.
Was sind deine Pläne für dieses Jahr?
Das hängt davon ab, was sich in der Pandemie überhaupt verwirklichen lässt. Ich hoffe, dass ich im Frühjahr in den Himalaya reisen kann. Ich kann leider noch nicht verraten, was ich vorhabe, weil so vieles noch unklar ist – nicht zuletzt die Permits.
Wäre die Annapurna ein Ziel?
Nein. Jedenfalls nicht unter den drei, vier großen Projekten, die mir vorschweben. Ich bin zwar schnell in großen Höhen, aber dafür müsste ich technisch stärker sein – auf dem Level von Ueli Steck.
Bist du im Alltag eigentlich auch schnell?
Natürlich bin ich auch zu Hause, im Haushalt, gern effizient. Ich mag es nicht, für irgendwas mehr Zeit als nötig zu brauchen. Andererseits mag ich es, ein langsames Leben zu führen. Ich glaube, dass ein Leben, das den Bergen gewidmet ist, eigentlich ein langsames Leben ist. Selbst, wenn man sich in den Bergen gerne schnell bewegt. Zuhause lese ich viel, oft stundenlang.
Mit deiner Partnerin Emelie Forsberg hast du eine zweijährige Tochter. Kleine Kinder sind langsamer als Erwachsene. Hat dich das geprägt?
Man muss mit einem Kind natürlich lernen, geduldig zu sein. Weil sie ihr eigenes Tempo brauchen, um alles zu lernen. Und es ist schön, zu beobachten, wie sie Sachen lernen und ausprobieren. Gleichzeitig wird man als Eltern noch besser darin, die Zeit, die einem für sich zur Verfügung steht, besser zu nutzen und zu organisieren.
Läuft sie schon?
Und wie! Die ganze Zeit. Wir laufen viel hinter ihr her.
Und wer ist schneller?
Aktuell noch wir. Aber das wird nicht mehr lange dauern.