Interview Thomas Feistl: Neues vom Lawinenwarndienst Bayern
bergundsteigen: Pünktlich zum großen Wintereinbruch in Bayern ging die neue Website des Lawinenwarndienst (LWD) Bayern live – Glückwunsch! Was ist neu im Vergleich zur alten Website?
Tom Feistl: Zunächst wird man das am Design sehen. Es ist sehr anders und modern. Nutzer können sich leicht durchklicken und werden von Beitrag zu Beitrag geleitet. Neu ist auch der Bereich Blog & Wissen. Dort können wir Fachthemen präsentieren, die den LWD Bayern betreffen.
Andere Lawinenwarndienste bieten auf ihren Blogs Zusatzinfos zur aktuellen Lage, Diskussion von Lawinenereignissen und Sicherheitstipps bei Schneefällen außerhalb der Wintersaison (z.B. Lawinen.Report, AvaBlog). Was wird uns auf eurem Blog neben Wissensthemen erwarten?
Wir wollen im Blog auf alle möglichen Themen eingehen, die es im Lawinenwarndienst gibt: Wie ist das Lawinenkataster aufgebaut? Wie liest man den Lawinenlagebericht richtig? Welche Rolle haben wir als LWD Bayern in der European Avalanche Warning Services (EAWS)? Auf Gefahrenlagen vor dem Winter oder im Sommer gehen wir wie bisher auf der Startseite unserer Website ein. Dort gibt es dann eine Mitteilung, die die aktuelle Lawinenlage in einem kurzen Text zusammenfasst, ohne Bilder und Gefahrenstufen.
Der erste Schnee in den Bergen ist auch dieses Jahr lange vor Herausgabe des ersten Lawinenlageberichts gefallen. Ab wann gebt ihr einen regelmäßigen Lagebericht heraus?
Der Anlass ist immer der Schnee! Sobald eine gewisse Schneemenge da ist und die Leute Skitouren gehen, ist normalerweise Startschuss. Aber wir können erst anfangen, wenn wir genug Informationen zur Schneedecke haben, aus allen Höhenlagen und Regionen. Nur dann sind wir in der Lage, eine Gefahrenstufe zu definieren, die ja eine regionale Größe ist. Das kann ich nicht mit einer einzelnen Beobachtung tun. Viele unserer Beobachter draußen arbeiten außerdem in Skigebieten und sind erst unterwegs, wenn das Skigebiet offen hat.
Die Lawinengefahrenstufe wird anhand der EAWS-Matrix ermittelt. Ihr habt beim LWD Bayern eine Methode entwickelt, um die Ergebnisse aus Schneedeckentests den Klassen zur Schneedeckenstabilität in dieser Matrix zuzuordnen. Wie kam es zur Entwicklung eurer „Daumenmethode“ ?
Mehr zur Daumenmethode im bergundsteigen #125.
Zum einen sind wir seit vielen Jahren in der EAWS-Arbeitsgruppe engagiert, die sich mit den Definitionen der Gefahrenstufe beschäftigt. Diese Definitionen wurden jetzt überarbeitet und als neuer Standard der EAWS beschlossen. Wir waren im Thema also sehr tief drin. Zum anderen sind Schneedeckentests immer schon ein wichtiger Teil in unserer Ausbildung. Jetzt haben wir die Gelegenheit genutzt die Ergebnisse der Schneedeckentests, die unsere Ehrenamtlichen täglich machen, entsprechend der Stabilitätsklassen zu klassifizieren. Mit der Daumenmethode ist es uns gelungen, die Beobachtungen draußen im Schnee einfach und standardisiert in die neuen EAWS-Klassen zu überführen.
Einfachheit und Standardisierung sind wichtig. Welche weiteren Vorteile bringt die Daumenmethode?
Dass sie mit unterschiedlichen Schneedeckentests gemacht werden kann. In Bayern verwenden wir hauptsächlich den kleinen Blocktest (KBT) und den Extended Column Test (ECT). Man könnte die Klassen mit unserer Methode aber auch mit den Ergebnissen aus einem Rutschblock einteilen – es ist mit jedem Stabilitätstest möglich. Außerdem ist die Methode relativ einfach: Wenn ich draußen in der Gruppe zusammenstehe und mit Symbolen wie Daumen hoch/runter arbeite, kann ich ohne Stift und Papier kommunizieren, wo ich mich bei Bruchinitiierung und -ausbreitung befinde – das sind ja die zwei wichtigsten Kriterien bei der Schneedeckenstabilität. Die Stärke der Methode ist, dass sie einfach, anschaulich und standardisiert ist. Sie ist bei unseren erfahrenen Beobachtern gut angekommen.
Siehst du Potenzial, dass die Daumenmethode in anderen Ländern genutzt werden kann?
Ja. Wir haben sie in unserer Ausbildung eingeführt und in bergundsteigen #125 veröffentlicht. Außerdem haben wir die Methode in den letzten Monaten auf verschiedenen Kongressen in den USA und Österreich vorgestellt. Die meisten Reaktionen darauf waren sehr positiv. Die Schweizer nutzen den Daumen auch als Kommunikationsmittel für die Risikobeurteilung im Einzelhang. Das ist nichts Neues. Wir haben uns angeschaut, was schon da ist. Unsere neue Methode passt gut zu dem, was es schon gibt. Aber man muss sehen, wie viele es am Ende nutzen.
Haben andere Lawinenwarndienste eigene Methoden zur Bestimmung der Schneedeckenstabilität nach den neuen EAWS-Klassen?
Da die neuen EAWS-Standards erst ein Jahr alt sind, war nicht viel Zeit andere Methoden zu entwickeln. Ich wüsste nicht, dass ein anderer Lawinenwarndienst so eine klare Zuteilung vom Testergebnis aus der Schneedecke zur neuen EAWS-Stabilitätsklasse anwenden würde oder veröffentlicht hätte. Außerdem haben wir in der EAWS-Arbeitsgruppe regelmäßig mitgeteilt, was wir gerade tun. Die anderen wussten Bescheid und hatten die Gelegenheit uns Feedback zu geben und mitzugestalten. Wir haben uns immer wieder mit unterschiedlichen Fachleuten innerhalb Bayerns und international ausgetauscht.
Die Ergebnisse der Daumenmethode können auch in der für den LWD Bayern programmierten LA.DOK App dokumentiert werden. Ihr nutzt sie zum Austausch von Beobachtungen zur Schnee- und Lawinenlage zwischen Lawinenwarnern und Sicherheitsbehörden. Was ist dein Fazit nach dem letzten Winter, in dem ihr die App erstmals flächendeckend eingesetzt habt?
Die App ist für alle Beteiligten eine Arbeitserleichterung. Inzwischen verwendet auch die ältere Generation ein Smartphone. Damit kann jeder vor Ort seine Beobachtung eingeben und übermitteln, was sehr komfortabel ist. Zudem kriegen wir Informationen schnell und anschaulich bei uns auf den Laptop. Wir können sie für den Lagebericht auswerten und daraus eine Gefahrenstufe ableiten. Wir haben die App unseren Leuten persönlich draußen gezeigt, haben sehr viel Zeit in die Ausbildung investiert. Diesen Aufwand musst du treiben, wenn du ein neues digitales Kommunikationsmittel einführst. Die meisten, die es einmal genutzt haben, nutzen es danach weiter.
Aber es haben gar nicht alle im Einsatz?
Letzten Winter war nur wenig Schnee. Viele Lawinenkommissionen hatten gar keine Einsätze, deswegen haben es nicht alle genutzt. Insgesamt hatten wir letzten Winter über die App 1400 Einträge und 230 Schneeprofile. Das sind schon Zahlen, die sehr gut sind und darauf sind wir stolz. Aber es gibt sicher noch den einen oder anderen, der mit Stift und Papier arbeitet. Die Nutzung der App ist keine Vorschrift – es ist ein Angebot von uns für die Ehrenamtlichen. Wer es nicht nutzen will, muss nicht. Auf Basis der bisherigen Rückmeldungen gehen wir davon aus, dass es diesen Winter deutlich mehr genutzt wird. Wenn alle im Lawinenwarndienst, also alle 400 Mitglieder, damit arbeiten, haben wir eine sehr gute Datenbasis.
Ihr habt die App zusammen mit der Tiroler Firma LO.LA Peak Solutions entwickelt. Wieso habt ihr euch für sie entschieden?
Wir haben in einem Ausschreibungsprozess die Firma genommen, die sich am besten präsentiert und die Ausschreibungskriterien erfüllt hat. LO.LA hatte schon Erfahrung mit ähnlichen Tools. Sie hatten damals schon eine App für Lawinenwarnungen für die Österreichische Bundesbahn (ÖBB) gestaltet. Inzwischen arbeiten auch andere Lawinenwarndienste mit LO.LA. Wir nutzen alle die gleiche Basis und gleiche Funktionen.
Damit ist der Datenaustausch einfach möglich: Alle Infos, die bei uns eingehen, können auch die anderen Warndienste sehen und nutzen. Wir in Bayern haben damals angefangen, weil unsere bisherigen Systeme veraltet waren und wir die Chance zum Neustart hatten. Mittlerweile entwickeln alle beteiligten Warndienste die App gemeinsam weiter. Wenn einer zum Beispiel ein neues Feature will, wie die Eingabe von Schneeprofilen oder eine Chatfunktion, gibt es das oft schon in der App eines anderen Warndienstes und dann können sie das übernehmen. Der Programmiercode gehört dem jeweiligen Auftraggeber, damit kann jeder eigene Entwicklungen an die Nachbarn weitergeben – und das tun wir.
Welche Warndienste nutzen derzeit die Dienste von LO.LA?
Soweit ich weiß, sind alle in Österreich dabei oder gerade am Aufspringen: Tirol, Salzburg, Vorarlberg, Steiermark, Oberösterreich, Kärnten, auch Südtirol. Ich glaube es dauert nicht mehr lange, dann sind alle Warndienste dabei.
Die Schweizer sind letzten Winter mit einer feiner abgestuften Lawinengefahrenskala (+/-/=) einen eigenen Weg gegangen, der viel diskutiert wurde. Was hältst du davon?
Unser Ziel ist es Neuentwicklungen europaweit einheitlich einzuführen, so wie das auch bei der Gefahrenstufenskala oder den Lawinenproblemen war. Wir sind schon seit den 80er Jahren in einer EAWS-Arbeitsgruppe engagiert, um solche Entwicklungen vorher abzustimmen und gemeinsam umzusetzen. Ich hätte mir gewünscht, dass das auch bei einer Einführung des „+/-/=“ passiert. Für die anderen Warndienste ist es schwer ersichtlich, wann +/-/= gesetzt werden. Wenn wir grenzübergreifend einheitlich sein wollen, wäre eine eindeutige Definition anzustreben.
Habt ihr eine solche Definition bei den Schweizern angefragt?
Wir hatten vor kurzem ein Meeting mit allen deutschsprachigen Lawinenwarnern in Salzburg. Dort wurde auch das „+/-/=“ nochmal vorgestellt. Die Abstufung basiert maßgeblich auf der subjektiven Einschätzung des Lawinenwarners. Da die Einschätzung der Lawinenwarner wahrscheinlich nicht immer die Gleiche ist, befürchten wir ohne einheitliche Vorgaben eine unterschiedliche Anwendung bei den verschiedenen Warndiensten. Wir haben es in den letzten Jahren geschafft mit den Lawinenproblemen den Fokus auf typische Gefahrensituationen im Gelände zu legen und es dem Nutzer zu erleichtern Gefahren im Gelände zu erkennen und damit umzugehen. Darauf möchten wir den Fokus legen im Lagebericht.
Die Gefahrenstufe steht an der Spitze der Informationspyramide und hat eine begrenzte Aussagekraft für den Einzelhang. Unser Wunsch ist es, dass sich die Leute mit dem Thema Lawinen auseinandersetzen, dass sie sich am Einzelhang überlegen, ob es dort eine Gefahr gibt, ob ein Lawinenproblem erkennbar ist. Wir finden es auch gut, wenn jemand in die Schneedecke reinschaut. Das „+/-/=“ unterteilt zwar die Gefahrenstufe detaillierter, führt aber nicht unbedingt dazu, dass ich mir mehr Gedanken über die Prozesse mache.
Wobei du das als Experte betrachtest. Für viele, die draußen unterwegs sind, ist die Gefahrenstufe (leider) die Hauptinformation und damit ziehen sie los. Dieser Zielgruppe würde die feinere Abstufung mit „+/-/=“ vielleicht einen Mehrwert bieten.
Das möchte ich nicht anzweifeln. Wenn ich ein Produkt anbiete, das detaillierter ist als vorher, wird es kaum einen Nutzer geben, der das nicht gutfindet. In der Praxis ist es oft so, dass wir Experten bei der Einschätzung der Gefahrenstufe damit kämpfen, ob es jetzt zum Beispiel ein Dreier oder ein Zweier ist. Wir kommen mit der Anzahl und Detailliertheit unserer Daten hier an Grenzen und liegen in ca. 10 bis 15% der Fälle mit der Gefahrenstufe daneben. Auf jeden Fall werden wir die Entwicklungen bei unseren Nachbarn sehr genau verfolgen und wenn es einen EAWS-Beschluss für einen gemeinsamen Standard und eine klare Definition für die Abstufungen gibt, sind wir gerne bereit mitzumachen.
Verschiedene Tests, Apps und Skalen: Auch wenn alle Lawinenwarner das gleiche Ziel haben – Lawinenunfälle zu vermeiden – arbeiten sie teilweise unterschiedlich. Wo könntet ihr (mehr) voneinander lernen und zusammenarbeiten?
Lernen ist das richtige Stichwort. In der EAWS wird es wahrscheinlich demnächst eine neue Arbeitsgruppe geben, die sich damit befasst, wie wir Lawinenwarner einheitlich ausbilden können. Jeder, der Lawinenlageberichte schreibt, sollte eine vergleichbare Ausbildung bekommen, egal ob in Norwegen, Italien oder Slowenien. Und ich fände es sehr gut, wenn es dazu einen Austausch gäbe – zum Beispiel, dass ein Lawinenwarner aus Bayern für zwei Monate in die Steiermark geht oder nach Norwegen. Das würde zu mehr Verständnis für Unterschiede zwischen den Lawinenwarndiensten führen, warum es diese gibt oder geben muss. Und es würde die Zusammenarbeit und die Einheitlichkeit der Berichte verbessern. Wir tauschen uns zwar mit anderen Lawinenwarndiensten aus, zum Beispiel auf Konferenzen. Und wir haben fast täglich mit unseren Nachbarn zu tun, vor allem im Zusammenhang mit der Ausgabe der Lageberichte. Aber ein paar Monate beim Nachbarn arbeiten und umgekehrt würde uns, glaube ich, alle weiterbringen.
Zum Schluss: Du bist selbst Skitourengeher – genauer gesagt Splitboardgeher. Wahrscheinlich hast du im Winter eher wenig Zeit dafür, oder?
Natürlich können Lawinenwarner im Winter nicht lange Urlaub nehmen. Diejenigen, die Lagebericht schreiben, sind von Anfang Dezember bis Anfang Mai im Schichtdienst eingeteilt. Zwischendrin haben wir schon auch ein paar Tage frei. Skitouren beschränken sich aber meist auf Tagestouren. Auf der anderen Seite sind wir in unserem Job oft draußen im Schnee, zum Beispiel für Ausbildungszwecke. Es ist eine gute Mischung und ich würde nicht sagen, dass ich zu wenig draußen bin im Winter.