In eisigen Höhen: Das Drama am Pigne d’Arolla
Sonntag, 29. April 2018, 6:30 Uhr
Es wird gerade hell, als eine Gruppe von zehn Skitourengehern die Ski anschnallt und von der Cabane des Dix aufbricht. Die urige, dreistöckige Berghütte auf knapp über 2900 m hat eine schöne, südseitige Terrasse und steht auf einer Felskuppe, umgeben von gewaltigen Gipfeln und Bergflanken. Die Skibergsteiger machen sich auf den Weg zu Cabane des Vignettes – einer etwa sechs Wegstunden entfernten Berghütte, die man über hochalpines Gelände, Gletscher, Joche, Gipfel und zum Teil unverspurte Hänge erreicht.
Haute Route, von Chamonix nach Zermatt – Tag 4
Es ist der vierte einer geplant sechstägigen Tour von Chamonix nach Zermatt. Die Haute Route, wie die Route von Chamnix nach Zermatt genannt wird, wurde schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts das erste Mal mit Ski begangen und ist bis heute die berühmteste Mehrtagesskitour der Region. Sie wird jedes Jahr von Anfang März bis weit in den Mai hinein – so es die Bedingungen erlauben – von in etwa 2000 Skibergsteigern begangen. Ein Schweizer Bergführer hat es so ausgedrückt: „Früher oder später will fast jeder Skitourengeher wenigstens einmal im Leben die Haute Route gehen.“ Daher war die zehnköpfige Skitourengruppe nur eine von vielen, die an diesem Morgen im späten April die Cabane des Dix verließ – die Hütte kann bis zu 120 Personen beherbergen.
Die Alpen: komfortable Unterkünfte und gute Erschließung
Im Gegensatz zu den meisten Skitourengebieten in Nordamerika sind die Alpen sehr gut erschlossen. Eine 20-minütige Gondelfahrt von einem der zahlreichen städtischen Autoparkplätze genügt, um direkt auf Routen in Höhen von bis zu 3600 m zu gelangen. Zu den Annehmlichkeiten der Hütten gehören nicht nur beheizte Räume mit Stockbetten inklusive Matratzen und Polstern, sondern auch warme Mahlzeiten, Wein, Bier und teilweise Internetzugang. Die komfortablen Unterkünfte und die gute Erschließung, die sogar eine 180 Kilometer lange Unternehmung wie die Haute Route in einem sechs- oder siebentägigen Urlaub ermöglichen, machen die Touren allerdings auch attraktiver und beliebter. Manche Skibergsteiger*innen organisieren ihre Touren selbst, aber viele engagieren lieber einen ausgebildeten Bergführer, der ihnen bei der Planung und Durchführung hilft.
Die Gruppe
Die Dix-Gruppe war keine Ausnahme – acht zahlende Gäste, allesamt erfahrene Bergenthusiasten und Skitourengeher, die von einem professionellen Bergführer und seiner Frau geführt wurden.
Tommaso Piccioli
Einer der Kunden war Tommaso Piccioli, ein 50-jähriger Architekt aus Mailand, der seit 1990 Skitouren geht und seit mehr als 20 Jahren Mitglied des Alpenvereins ist. Über die Jahre hatte er zahlreiche Skitouren, Kanufahrten, Mountainbike-Expeditionen und Wanderungen für sich und seine Freunde in Europa und Australien selbst organisiert. Begleitet wurde er von drei Freunden, Mitglieder der Bozner Alpenvereinssektion, bei der er in den letzten Jahren einige Kurse besucht hatte.
Elisabetta Paolucci
Elisabetta Paolucci, eine 44-jährige Lehrerin, lernte als Kind das Skitourengehen von ihrem Vater und hatte vor kurzem ein Sabbatical gemacht, um sich dem Segeln und Bergabenteuern zu widmen.
Gabriella Bernardi und Marcello Alberti
Marcello Alberti und seine Frau Gabriella Bernardi, waren ebenfalls erfahrene Kletterer und Skitourengeher.
Normalerweise organisieren wir unsere Reisen selbst, aber dieses Mal haben wir uns wegen der Logistik einen Bergführer genommen. Es ist nicht einfach, die Hütten zu buchen.
Tommaso Piccioli
Francesca Von Felten
Francesca Von Felten, eine erfahrene Skibergsteigerin und Kletterin. Sie hatte im Jahr zuvor den Aconcagua, den höchsten Berg Südamerikas, bestiegen.
Andrea Grigioni
Andrea Grigioni, ein 45-jähriger Pfleger aus einer kleinen Stadt nordwestlich von Mailand.
Mit dabei waren außerdem ein 72-jähriger Mann aus dem Schweizer Tessin, den Piccioli als „einen sehr kräftigen Mann“ beschrieb, eine Münchnerin und die 52-jährige Frau des Bergführers, Kalina Damyanova. Piccioli kannte außer seinen Freunden keinen der anderen Gäste, stellte aber nach den ersten paar Tagen der Tour fest: „Man konnte sehen, dass sie erfahren waren. Wir hatten alle dasselbe Niveau.“
Der Bergführer
Der Bergführer der Gruppe hatte ebenfalls eine beeindruckende Laufbahn hinter sich. Mario Castiglioni war ein 59-jähriger, altgedienter Bergsteiger aus dem italienischen Como, der 1992 sein eigenes Bergführerbüro, MLG Mountain Guide, im schweizerischen Chiasso gegründet hatte. Er hatte etliche Berge und Routen in der ganzen Welt be- und durchstiegen, darunter drei Achttausender im Himalaya. Dieser Erfahrungsschatz – und die Tatsache, dass Castiglioni ein italienischer Muttersprachler war – seien ausschlaggebend gewesen, dass Picciolis Gruppe MLG Mountain Guide für ihre Skitourendurchquerung wählte.
Ein Unglück das Fragen aufwirft
Planänderung wegen des Wetters
Ursprünglich hatte die Gruppe von der Dix-Hütte zur Nacamuli-Hütte gehen wollen. Wegen der Wettervorhersage erklärte Castiglioni der Gruppe, dass er stattdessen die Vignettes-Hütte als nächstes Tagesetappenziel planen würde, weil dies die Gehzeit um zweieinhalb Stunden verkürzen würde.
„Am Vorabend”, sagt Piccioli, „habe ich mich wegen des Wetters erkundigt. Ich habe mit ein paar Leuten gesprochen und sie sagten, dass ein starker Wind aufkommen würde und dass es ernst wäre. Aber dann begann der Tag mit recht gutem Wetter.” Die Gruppe schulterte also ihre Rücksäcke mit Wechselwäsche, Ausrüstung, Jause, Wasser und kleinen Thermoskannen mit heißem Tee, überprüfte ihre Bindungen und stieg von der Steinterrasse der Hütte auf den Schnee.
Sie fuhren von der Dix-Hütte Richtung Südosten, überquerten den Cheilongletscher und begannen den langen, vier- bis fünfstündigen Aufstieg zum Pigne d’Arolla, einem 3796 m hohen Gipfel, der höchsten Erhebung der Haute Route. Vom Gipfel fährt man normalerweise 30 bis 60 Minuten abwärts bis zur Cabane des Vignettes mit ihrer fantastischen Lage auf einem exponierten Grat auf 3160 m. Da sie um 6.30 Uhr aufgebrochen waren, hätten die Skibergsteiger rechtzeitig für ein spätes Mittagessen auf der Hütte sein sollen. Sie tauchten aber nie auf.
Auf dieser Etappe erreicht man auch die größte Höhe entlang der Haute Route, und sie ist dem Wetter am meisten ausgesetzt.
Dale Remsberg
Als eine kleine Gruppe von Skitourengehern am nächsten Morgen die Vignettes-Hütte verließ, hörten sie einen Hilferuf von einem Felsvorsprung aus weniger als 500 m Entfernung. Innerhalb von 15 Minuten war eine große Rettungsaktion im Gange. Für die meisten Gruppenmitglieder kam die Hilfe zu spät. Einer der Skibergsteiger war schon verstorben und sechs weitere würden in den nächsten zwei Tagen an Unterkühlung und Erfrierungen sterben. Zu den Todesopfern würden der Bergführer und seine Frau gehören.
Was war passiert?
Wie konnte eine so erfahren Gruppe mit einem derart erfahrenen Führer in solche Schwierigkeiten geraten? Einige der Antworten werden wir nie wissen, weil die Opfer, unter ihnen der Bergführer, so zahlreich waren. Aber es gibt dennoch genug Informationen, um zumindest ein warnendes Exempel zu rekonstruieren. Dale Remsberg, Technical Director der American Mountain Guides Association, hat die Haute Route viele Male geführt. „Auf dieser Etappe erreicht man auch die größte Höhe entlang der Haute Route, und sie ist dem Wetter am meisten ausgesetzt”, so Remsberg. Er beschreibt die Strecke von der Dix-Hütte zur Cabane des Vignettes als „einen langen Anstieg, gefolgt von einer langen Abfahrt“.
Was Letztere so heikel macht, so Remsberg, sei „das Finden eines kleinen Durchschlupfs in den Felsen weiter unten im Hang. Er ist mit einem Steinmann markiert und nur drei bis vier Meter breit und deshalb schwierig auszumachen. Und bei schlechter Sicht ist er noch schwieriger zu finden.” Sobald man durch ist, „fährt man unter einem Eisbruch direkt hinüber zur Hütte.” Auf dem Weg dorthin sieht man die Hütte zur linken Seite. „Würde ein Skifahrer der Falllinie nach links folgen, würde er abstürzen”, so Remsberg. All das sei nicht allzu schwierig zu erkennen, wenn das Wetter und die Sicht gut sind. Aber die Bedingungen, mit denen die Unglücksgruppe kämpfte, waren alles andere als gut. Die Bedingungen hatten sich sogar schon längst verschlechtert bevor sie diesen kritischen Punkt erreichten.
Trotz schlechter Sicht weiter zum Gipfel
Die ersten drei Stunden der Tagesetappe stieg die Gruppe bei teilweise bewölktem Himmel auf. Es war leicht windig, aber „nichts, worüber man sich Sorgen hätte machen müssen”, erinnert sich Piccioli. Um etwa zehn Uhr – sie waren schon recht weit oben – verschlechterte sich das Wetter jedoch rasch. Der Himmel zog zu, der Wind wurde stärker. Nebel und leichter Schneefall verringerten die Sicht auf beinahe null. Dennoch stieg die Gruppe weitere ein oder zwei Stunden Richtung Gipfel auf.
Die Rolle der Technik
Castiglioni navigierte mit Hilfe seines Smartphones, was unter Bergführern in den Alpen nicht unüblich ist. „Ich würde sagen, dass die meisten Bergführer noch ein kleines Garmin-GPS als Backup mitführen. Aber sie verwenden primär ihr Smartphone, weil es sich mit Apps wie Alpenvereinaktiv oder Gaia sehr gut zum Navigieren eignet“, erklärt Remsberg in Bezug auf mobile GPS-Apps mit digitalen Wander- und Skitourenkarten. Die Mobilfunk-Netz- abdeckung ist auf der Haute Route über weite Strecken zwar lückenhaft, für die Navigations-Apps jedoch ist Netzempfang nicht notwendig, da sie mit GPS arbeiten.
Navigieren mit dem Mobiltelefon
Die meisten Bergführer, so Remsberg, aktivieren sogar den Flugmodus und schalten alles außer der Navigations-App aus um Strom zu sparen. Aber der Stromverbrauch der Apps selbst ist hoch. Deshalb verwenden viele Bergführer ein Battery Case mit einem eingebauten Zweitakku und tragen zusätzlich einen größeren Reserve-Akku mit, der das Telefon mehrere Male wiederaufladen kann. Außerdem nehmen sie ihre Telefone in den meisten Fällen nur zeitweise in die Hand – nämlich wenn sie ihren Standpunkt bestimmen wollen – und stecken es dann wieder in eine warme Tasche, weil die Kälte die Akkulaufzeit verkürzt. Es lässt sich nicht rekonstruieren, welche Vorsichtsmaßnahmen Castiglioni in Bezug auf sein Telefon getroffen hatte oder welche Art von Reserve-Akku er hatte oder nicht hatte. Aber irgendwann während des Aufstiegs wurde klar, dass es ein Problem gab: entweder mit seinem Smartphone oder mit seiner Navigations-App.
Wir waren im Whiteout, und er führte uns einmal dorthin, einmal dahin.
Tommaso Piccioli
„Wir waren im Whiteout, und er führte uns einmal dorthin, einmal dahin“, sagt Piccioli. „Nach einigem Zögern nahm ich mein GPS heraus.“ Sei es wegen der Kälte oder wegen des nassen Schnees: Picciolis Mobiltelefon – und, wie er vermutet, auch die Mobiltelefone der anderen Teilnehmenden – funktionierte nicht mehr. Aber er hatte auch ein wasserfestes Garmin eTrex GPS-Gerät dabei. „Ich sah, dass wir in die falsche Richtung gingen. Deshalb sagte ich dem Bergführer, dass wir in die andere Richtung gehen müssten. Zuerst beharrte er: ‚Nein, ich weiß, wohin wir gehen müssen.‘ Also stimmte ich zu und sagte: ‚OK, gehen wir wohin du sagst.‘ Aber dann kam er zu mir zurück und sagte: ‚Zeig mir dein GPS.‘“
Kritischer Faktor: das Versagen von Smartphone, Akku oder App
Welche technischen Probleme Castiglioni genau hatte, bleibt ein Geheimnis. Aber eines ist klar: Das Versagen des Smartphones, des Akkus oder der App war ein kritischer Faktor. Picciolis GPS funktionierte den ganzen restlichen Tag. Doch hatte er nur die Sommerkarte der Haute Route auf dem Gerät gespeichert. Die Sommer- und die Winterroute auf der Haute Route sind zwar ähnlich, aber nicht ident. „Wenn das eTrex die Winterroute nicht hatte, dann diente es in Wirklichkeit nur zur Standortbestimmung auf der Karte“, sagt Remsberg. „Damit kann man aber die Route nicht finden.“
Weniger als zwei Meter Sicht
Dennoch war Picciolis GPS zu dem Zeitpunkt die beste Option für die Gruppe. „Dort, wo wir vom Weg abgekommen waren, sah ich einen Track, der zur Vignettes-Hütte führte. Deshalb entschieden wir uns, ihn anzusteuern und ihm zu folgen. Und das haben wir dann auch gemacht“, sagt Piccioli. Irgendwann zwischen 11 und 12 Uhr erreichte die Gruppe den Gipfelbereich des Pigne d’Arolla. Als sie aber am Bergsattel unter dem Gipfel ankamen, wurde der Wind noch stärker und das Wetter verschlechterte sich weiter. Es war so kalt und der Wind so heftig, dass sie sich gegen eine Mittagsjause entschieden.
Unter normalen Umständen wäre es eine kurze Abfahrt vom Gipfel zur Cabane des Vignettes gewesen. Wegen des Windes, des Schneefalls und der eingeschränkten Sicht, die laut Piccioli zu diesem Zeitpunkt weniger als zwei Meter betrug, entschied Castiglioni, dass die Gruppe die Ski abschnallt, Steigeisen anlegt und zu Fuß absteigt. Remsberg bezeichnet die Entscheidung, nicht auf Ski abzufahren als ein „mögliches Vorgehen, um eine Gruppe zusammenzuhalten und das Risiko zu minimieren“.
Die Gruppe wird größer
Als es zum Whiteout kam, stießen vier französische Skibergsteiger, die ohne Bergführer unterwegs waren und ebenfalls Schwierigkeiten mit der Orientierung hatten, zu der Gruppe. Nun stiegen 14 Personen vom Pigne d’Arolla ab; vorneweg Piccioli, der auf seinem GPS der Sommerroute zu folgen versuchte, gefolgt von Castiglioni und den anderen 12 Skibergsteiger*innen. Die Gruppe seilte sich nicht an, aber laut Piccioli band Castiglioni ein Seil um seine Taille und zog es hinter sich im Schnee her, damit die Bergsteiger*innen eine Spur für den Fall hatten, dass sie ihn selbst nicht sehen konnten.
Wir konnten unsere Handschuhe nicht ausziehen, weil unserer Hände gefroren wären und wir sie wahrscheinlich gar nicht mehr hätten anziehen können.
Tommaso Piccioli
Selbst wenn die Gruppe der Winterroute gefolgt wäre, hätte ein GPS im Whiteout nicht vor Gefahren wie Gletscherspalten oder Steilstufen gewarnt. Der immer stärker werdende Sturm erhöhte das schon beträchtliche Risiko noch zusätzlich. Während des langsamen Abstiegs vom Gipfel erreichten die Windböen schon Geschwindigkeiten von mehr als 80 Stundenkilometern, die Temperatur fiel und der Schneefall wurde stärker. „Wir konnten unsere Handschuhe nicht ausziehen, weil unserer Hände gefroren wären und wir sie wahrscheinlich gar nicht mehr hätten anziehen können“, so Piccioli.
Flucht nach vorne
Die Sicht betrug nur wenige Meter und der Versuch, der Sommerroute zu folgen, führte mehrmals vom Weg ab. Was als 60-minütige Abfahrt geplant war, entpuppte sich als Härtetest für das Durchhaltevermögen – auch deshalb, weil ein Gewitter mit noch intensiverem Schneefall und Wind aufzog. Nach Stunden des Sich- Vorwärtskämpfens, des Umdrehens und Wieder-Versuchens im heulenden Wind, in der Kälte und im Schnee, ohne Essen und Trinken, war die Gruppe am späten Nachmittag völlig erschöpft. Dennoch versuchten sie weiter verbissen, die Hütte zu finden.
Weitergehen als beste Option?
Im Rückblick erscheint es erstaunlich, dass sich die erfahrenen Skibergsteiger*innen so lange abmühten, im absoluten Whiteout und zunehmend stärkeren Wind und Schneefall, anstatt umzudrehen oder einen Notruf abzusetzen. Dieses Vorgehen stellt nun auch Piccioli selbst in Frage. Aber, so erklärte er, als sich die Gruppe einmal im Abstieg zur Cabane des Vignettes befand – und das war der Zeitpunkt, an dem sich die Bedingungen radikal verschlechterten – erschien das Weitergehen als die beste Option.
Wir waren alle überzeugt, dass die Hütte nah war.
Tommaso Piccioli
Es wird Nacht
„Wir waren alle überzeugt, dass die Hütte nah war“, erklärt Piccioli. „Und sie war es auch, denn das konnte man auf meinem GPS sehen.” Nur wussten Castiglionis Gäste nicht, wie knifflig die Wegfindung zwischen ihrem Standort und der Hütte war. Wegen des Schneefalls, des Windes und der äußerst eingeschränkten Sicht fanden sie weder den Steinmann noch den Durchschlupf vor dem letzten Hang. Stattdessen irrten sie oberhalb davon umher und verloren weiter an Kräften. Bis, um circa 21 Uhr, die Nacht hereinbrach.
Der Akku des Satellitentelefons ist leer
Castiglioni informierte die Gruppe, dass sie es nun sein lassen mussten. Ein Weitersuchen in der Dunkelheit war zu gefährlich. Er zog ein Satellitentelefon hervor und versuchte, einen Notruf abzusetzen. Gemäß Piccioli war jedoch der Akku leer. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Gruppe keine andere Möglichkeit mehr, als zu versuchen, sich im Schnee einzugraben und die Nacht abzuwarten. Sie hatten jedoch auf einer Felszunge Halt gemacht. Was es noch schlimmer machte: Sie befanden sich an einem Südhang und der Wind, der inzwischen Orkanstärke erreicht hatte, kam von Süden.
Nicht ausreichend Schnee für eine Notunterkunft
„Ich habe hinter einem Felsen eine kleine Höhle gegraben. Aber der Schnee reichte nicht für eine wirklich adäquate Notunterkunft”, erklärt Piccioli. „Wir waren auf einem Sattel. Der Wind war so stark, dass er quasi schneefrei war.“ Alle Gruppenmitglieder hatten zwar Rettungsdecken in ihren Rucksäcken, aber die brachten in diesem Wind wenig. „Ich nahm meine gar nicht erst heraus, denn sie wäre sofort verblasen worden”, so Piccioli.
Die Situation verschlimmerte sich zusehends. Die Temperatur sank weiter, die körperlichen und mentalen Reserven schwanden. Piccioli und Castiglioni brachten Francesca Von Felten, Elisabetta Paolucci und Gabriella Bernardi in die kleine Höhle, die Piccioli gegraben hatte, obwohl sie eigentlich nicht genug Platz für die drei Frauen bot. Die vier französischen Skibergsteiger suchten oder gruben sich ihre eigenen Schutzzonen, ebenso Castiglionis Frau. Piccioli und die deutsche Frau fanden Felsnischen in der Nähe der anderen Frauen. Gabriella Bernardis Ehemann Marcello und Castiglioni kauerten sich in den brauchbarsten Unterschlupf, den sie in der Nähe finden konnten.
In Bewegung bleiben, nicht einschlafen
Alle waren dem Kollaps nahe. Piccioli stand zuerst aufrecht, um in Bewegung und wach zu bleiben. Aber es wurde zu anstrengend. Also lehnte er sich sitzend gegen einen Felsen, mit so wenig Schneekontakt wie möglich. Er wusste von Alpinkursen und aus Büchern, dass er wach und in Bewegung bleiben musste, um zu überleben. „Nicht einmal große Bewegungen. Kleine Bewegungen, gerade genug, um das Herz am Schlagen zu halten und den Körper am Leben“, erklärt er. „Und auch, damit man nicht einschläft. Weil Einschlafen ist gefährlich. Dann erwischt dich nämlich die Unterkühlung und dann bist du weg.“ Also habe er sich gesagt, dass er sich in den nächsten acht bis zehn Stunden bewegen müsse, „dass ich einfach nicht einschlafen darf”.
Opfer der Kälte
Spätnachts sah Piccoli nach den drei Frauen in der kleinen Höhle, die er gegraben hatte und sah, dass es ihnen sehr schlecht ging. „Zu Beginn dieser schrecklichen Nacht dachte ich, dass Gabriella sterben würde“, erinnert sich Piccioli. „Sie war ziemlich schwach. Aber ehrlich gesagt dachte ich nicht, dass noch jemand sterben würde.“
Ehrlich gesagt dachte ich nicht, dass noch jemand sterben würde.
Tommaso Piccioli
Als er nach ihnen sah, ging es aber allen drei Frauen extrem schlecht. „Sie lagen im Sterben“, so Piccioli. Er schlug dem Bergführer vor nachzusehen, ob seine Frau einen besseren Unterschlupf gefunden hatte. Falls ja, könnten sie beide mit ihren Schaufeln dort eine größere Schneehöhle graben und die Frauen dorthin bringen.
Castiglioni erblindet
„Er aber sagte zu mir: ‚Schau, ich kann nichts sehen‘“, erinnert sich Piccioli. „Er sagte, seine Augen wären vom Schneesturm erblindet. Vom Wind. Er war blind. Er sah überhaupt nichts mehr.“ Ein paar Stunden später sah er Castiglioni sitzend, den Rücksack am Rücken. Als die Retter in der Früh kamen, fanden sie seine Leiche am Fuß des Hanges unterhalb des Felsvorsprungs, auf dem die Gruppe die Nacht verbracht hatte.
Piccioli kehrte zu seinem Unterstand zurück und konzentrierte sich darauf, am Leben zu bleiben. Die Temperatur war unter den Gefrierpunkt gefallen, die Windgeschwindigkeit näherte sich 100 Kilometer pro Stunde und der Schnee peitschte ihn. „In so einer Situation muss man seinen eigenen Verstand einschalten, denn die Kräfte sind verschwindend gering und das Denkvermögen auch. Ich wusste, dass ich mich immer bewegen musste. Aber mindestens zwei oder drei Mal dachte ich mir: ‚Wozu das alles? Es ist zu anstrengend. Lass einfach los.‘“
Warum er nicht aufgegeben hat? Piccoli denkt kurz nach, erinnert sich. „Wissen Sie, in dem Stadium denkt man nicht mehr wirklich über sich selbst nach. Es ist eigenartig, aber wenn’s wirklich zu Ende geht, denkt man an die anderen. Ich dachte an meine Frau, an meine Mutter und ich sagte mir: ‚Ich kann ihnen das nicht antun. Ich würde gern, aber ich kann nicht.‘ Und das hat mich gerettet.”
Der Morgen
In der Morgendämmerung ließen der Wind und der Schneesturm endlich nach. Piccioli hatte seine Augen wegen des Windes immer geschlossen gehalten. Als er sie nun öffnete, war der Himmel bewölkt und die Sicht brauchbar. Er stand auf und sah nach seinen Freunden. Die deutsche Frau saß in seiner Nähe und war am Leben. Einige andere waren bewusstlos. „Es war wirklich schrecklich“, erinnert sich Piccioli. „Sie lagen auf dem Bauch und waren schneebedeckt.“
Er schaute über das Tal und sah die Vignettes-Hütte. Aber er realisierte schnell, dass diese nicht wirklich so nah war und nicht so leicht mit Ski erreichbar. Unsicher, was er als Nächstes tun sollte, holte er seine Thermoskanne hervor und trank mit der deutschen Frau Tee. Sie hatten in den vergangenen beinahe 24 Stunden weder gegessen noch getrunken. Ihre Reserven waren am Ende. Plötzlich sah die deutsche Frau Skibergsteiger unter ihnen. „Also stand ich auf und rief um Hilfe. Und sie blieben stehen, versammelten sich und ich konnte sehen, dass sie mich gehört hatten. 15 Minuten später kam der Helikopter.“
Der Schneesturm fordert seinen Tribut
Am Wochenende dieses Schneesturms starben insgesamt 16 Personen in den Alpen. Neben jenen sieben in der Nähe der Vignettes-Hütte waren dies: zwei Schweizer Kletterer, 21 und 22 Jahre alt, die ebenfalls in den Schneesturm gerieten und wegen Unterkühlung in den Berner Alpen ihr Leben ließen, eine Russin, die mit Schneeschuhen am Monte Rosa unterwegs war, ein Kletterer und ein Bergsteiger aus Frankreich, die in Lawinen gerieten – der eine in Frankreich nahe des Mt. Blanc, der andere im Schweizer Wallis, vier weitere stürzten tödlich ab: Enrico Frescura (30) und Alessandro Marengon (28) beide Ehrenamtliche des Bergrettungsdienstes Aiut Alpin Dolomites in Italien, die den Halt auf den letzten Metern im Anstieg auf den Monte Antelao in Italien verloren und zwei weitere Skibergsteiger, die durch einen Sturz in Gletscherspalten unabhängig voneinander starben.
Es hätte nicht passieren dürfen
Unfälle oder Ereignisse mit mehreren Todesopfern sind in den Alpen nicht unbekannt. Im Jahr 1970 starben insgesamt 113 Personen innerhalb von zwei Monaten in einer Lawine und in einer Mure. Im Jahr 1999 starben zwölf Personen in einer Lawine nahe Chamonix. Am Mt. Blanc starben 2008 acht Personen in einer einzigen Lawine. Und 2015, innerhalb von nur vier Monaten, verloren 12 Skibergsteiger sowie sieben Kletterer ihr Leben in zwei Lawinen. Aber ganze Gruppen, die durch Unterkühlung oder Erfrierungen zu Tode kommen, sind selten. Was den Unfall am Pigne d’Arolla besonders erstaunlich und tragisch macht, ist, dass er eigentlich nicht hätte passieren dürfen.
Anjan Truffer, Bergrettungschef der Air Zermatt, die mit sieben Air-Glacier-Hubschraubern die Gruppe bei der Vignettes-Hütte rettete, führt jährlich 180 bis 200 Rettungen im Hochgebirge durch. Laut Truffer sei es „unüblich“, dass ein solcher Unfall auf der Haute Route passiert. „Die Route ist viel begangen und normalerweise sind eine Menge Bergführer auf ihr unterwegs. Es ist keine übermäßig schwierige Unternehmung.“
Wir hatten eine Wetterlage, die als Föhn bekannt ist (…) die ganze Woche beobachtet. Und wir waren uns ziemlich sicher, dass wir an dem besagten Tag nicht hoch hinaufgehen können.
Mildes Smart
Außerdem mag der Sturm zwar heftig gewesen sein, doch kam er nicht plötzlich oder unerwartet auf. Miles Smart, ein in den USA ausgebildeter Bergführer, der seit 15 Jahren in den Alpen arbeitet, war Castiglionis Gruppe nur 24 Stunden mit einer Skitourengruppe auf derselben Route voraus. Am Morgen des 29. April war Smart mit seinen Gästen auf der Vignettes-Hütte. „Wir hatten eine Wetterlage, die als Föhn bekannt ist“, erklärt er. „Das ist ein Südwind-Wetterphänomen des Alpenhauptkamms. Vom Pigne d’Arolla nach Zermatt ist er normalerweise be- sonders stark. Deshalb haben wir diese Wetterlage die ganze Woche beobachtet. Und wir waren uns ziemlich sicher, dass wir an dem besagten Tag nicht hoch hinaufgehen können.“
Eindeutig: Abstieg
Als Smart und seine Gruppe an jenem Morgen aufwachten, waren die tatsächlichen Bedingungen bei der Vignettes-Hütte sogar schlechter, als die Wetterdienste vorhergesagt hatten. „Es war sehr, sehr windig“, sagt er, „und rundherum war die Sicht sehr schlecht. Es waren wahrscheinlich fünf oder sechs geführte Gruppen auf der Hütte. Unter uns, den amerikanischen und Schweizer Bergführern, war ein Austausch über die Lage gar nicht erst nötig.
Es war für alle sonnenklar. Anstatt weiter nach Zermatt zu gehen, entschieden wir uns eindeutig für den Abstieg. Es gibt eine recht einfache Route von der Vignettes-Hütte ins Dorf Arolla. Wir brachen um circa 7 Uhr in der Früh auf und waren etwa 45 Minuten später unten.“
Bilanz des Sturms
Aber schon so früh am Morgen war der Wind so stark, dass die Bergführer jedem Gast einzeln bei der Bewältigung der kurzen Strecke von der Hütte zu der Stelle auf der windabgewandten Seite des Grats helfen mussten, wo die Gäste die Ski anschnallen und die Abfahrt beginnen konnten. Folglich war der Sturm bei der Vignettes-Hütte laut Smart schon „in vollem Gange“, als Castiglionis Gruppe erst dabei war, die Dix-Hütte zu verlassen. Abgesehen davon, dass die Wettervorhersagen, die Smart die ganze Woche verfolgte, allen Bergführern zugänglich waren, sind die Hütten auch untereinander telefonisch verbunden. Ein kurzer Anruf vor Aufbruch von der Dix-Hütte hätte die nötigen Informationen darüber geliefert, wie schlecht das Wetter am Ziel schon zu diesem Zeitpunkt war.
Ein kurzer Anruf hätte genügt
Außerdem wäre es zu erwarten gewesen – wenn auch kein Muss –, dass ein Bergführer im Falle einer Planänderung bei der nächsten Hütte anruft, um sicherzustellen, dass es dort genügend Schlafplätze für alle gibt. Castiglioni wählte als neues Etappenziel seiner Gruppe die Vignettes-Hütte anstatt der Nacamuli-Hütte. Die lokale Polizei aber habe Piccioli laut dessen Aussage erzählt, dass die Hüttenwirte der Vignettes-Hütte keinen Anruf erhalten hatten. Ein Aufbruch der Gruppe ist überhaupt schwer vorstellbar, hätte Castiglioni die Vignettes-Hütte kontaktiert.
Es gab auch Alternativen zur Route über den Gipfel des Pigne d’Arolla. von der Dix-Hütte kann man abfahren und eine tiefer gelegene Route auf der Nordseite des Berges nehmen, in der Nähe des Dorfes Arolla. Dort kann man entweder übernachten oder den Hang, den Smarts Gruppe abfuhr, zur Cabane des Vignettes wieder aufsteigen. Smart erwähnt noch eine weitere Möglichkeit: „Man kann überall auf der Durchquerung einfach umkehren und zur Dix-Hütte zurückfahren. Als sich das Wetter verschlechterte, hätten sie relativ schnell zurück sein können.“
Ich denke, es ist fatal, sich nur auf ein einziges Mobiltelefon zu verlassen.
Anjan Truffer
Es ist auch ein Rätsel, warum Castiglioni zumindest anscheinend nur ein einziges Mobiltelefon für die Navigation dabei hatte. „Ich denke, es ist fatal, sich einfach nur auf ein einziges Mobiltelefon zu verlassen“, sagt Truffer. „Die Akkus verlieren in der Kälte und bei Wind so rasch an Ladung. Man sollte ein echtes, zweckmäßiges GPS dabei haben.“
Wenn man sich die Alternativen vor Augen führt und berücksichtigt, dass der Sturm nicht nur vorhergesagt, sondern am frühen Morgen bei der Vignettes-Hütte schon in vollem Gange war und diese Information für Castiglioni leicht einzuholen gewesen wäre, dann ist es bestenfalls „schwer zu verstehen“, so Remsberg, wie Castiglioni zu den Entscheidungen kam, die er an jenem Tag traf. Zugleich ist es verblüffend, dass diese Gruppe erfahrener Skibergsteiger*innen diese Entscheidungen nicht in Frage stellte und ihrem Bergführer blindlings in den Sturm folgte.
Faktor Mensch
Niemand wird wissen, was den Menschen, die ums Leben kamen, durch den Kopf ging. Die American Mountain Guides Association, die Berufsbergführer in den USA ausbildet und zertifiziert, und die IFMGA, ihr europäisches Pendant, haben in den vergangenen Jahren größeres Augenmerk auf die Frage gelegt, wie es zu solchen Entscheidungen kommt. Bei der Tragödie am Pigne d’Arolla haben zweifelsohne mehrere Faktoren eine Rolle gespielt.
„Wir legen in den USA unseren Fokus beim Bergführen sehr auf den Faktor Mensch, mehr als früher“, so Remsberg, vor allem auf heuristische Annahmen oder Denkfehler, die sowohl Bergführern als auch Gästen unterlaufen können. In den Alpen sei die Bequemlichkeit oder sogar Selbstgefälligkeit einer der größten Risikofaktoren für Unfälle, so Remsberg, weil das freie Gelände rasch erreichbar und das Hüttennetzwerk großartig ausgebaut ist.
Bequemlichkeit und Selbstgefälligkeit
„Wegen der guten Infrastruktur fühlt man sich schnell besser geschützt“, erklärt Remsberg. „Man kommt leichter ins Gelände, deshalb erscheint es sicherer.“ Das ist es natürlich nicht. Mehr als 150 Personen sterben pro Jahr in den Alpen. Doch sowohl europäische Gäste als auch Bergführer werden zu dem Glauben verleitet, dass sie nicht so viel Informationen oder Ausrüstung benötigen, um sicher in den Bergen unterwegs zu sein. „Es ist nicht so, dass Europäer keine Informationen wollen. Es ist eher so, dass die Bergsportkultur in Europa und die Infrastruktur zu dem Gefühl führen, nicht viel zu brauchen“, so Remsberg.
In den USA müssen Bergführer und Gäste selbstständiger sein: Sie tragen nicht nur Zelte, Material und Vorräte mit, sondern auch mehr Notfall-, Kommunikations- und Navigationsausrüstung. Amerikanische Bergführer pflegen tendenziell auch eine bessere Kommunikation mit ihren Gästen bzw. legen mehr Augenmerk auf sie. Sie schauen gemeinsam mit ihren Gästen in die Karte, besprechen das Wetter und die Routen. Das geht bis hin zu möglichen Risiken und Gefahren sowie den Begründungen für Go- und No-Go-Entscheidungen. „Amerikanische Bergführer mögen es im Allgemeinen durchaus, in Lagebesprechungen reichlich Informationen zu geben“, bestätigt Smart. „Dafür sind wir bekannt.“
Kommunikation als Schlüssel
Natürlich sind Bergführer individuell verschieden und kommunizieren unterschiedlich gut mit ihren Gästen. Laut Piccioli war jedoch einer der Gründe, warum die Gruppe die Entscheidungen an diesem Tag nicht hinterfragte, dass sie keine Ahnung hatte, was geplant war bzw. wohin es an diesem Tag gehen würde. „Es wurde sehr wenig gesprochen, und es gab überhaupt keine Lagebesprechung mit dem Bergführer“, so Piccioli. „Ich glaube, dass man die Gruppe auf so einer Tour genau über Route und Abläufe informieren sollte. Hätte ich von dem engen Durchschlupf auf dem Weg zur Hütte gewusst, hätte ich gesagt: ‚Wir gehen ganz sicher nicht weiter.‘“
Halo-Effekt
Bequemlichkeit und Selbstgefälligkeit können auch einen Einfluss auf Vorbereitung und Entscheidungsfindungsprozesse haben. Es könnte der Fall sein, dass die relative „Leichtigkeit“ der Haute Route – verglichen mit den größeren Expeditionen, an denen Castiglioni teilgenommen hatte – ihn dazu verführte, für weniger Redundanz bei der Navigations- und Kommunikationsausrüstung zu sorgen und außerdem vor Ort weiterzugehen, obwohl sich das Wetter derart verschlechtert hatte. Piccioli gesteht auch ein, dass er und seine Freunde „den Ernst der Situation unterschätzten“. Die Gruppe scheint wohl auch Opfer eines Phänomens geworden zu sein, welches als „Halo-Effekt“ bekannt ist. Für sich allein waren die acht Skibergsteiger*innen erfahren genug, um das Wetter einzuschätzen, die Route zu recherchieren und die Entscheidung für den Aufbruch schon von vornherein zu hinterfragen. Da sie aber einen Experten engagiert hatten, gaben sie ihre eigene Entscheidungsfindung zugunsten der seinen auf.
„Wir haben nur an der Tour teilgenommen, sie aber nicht geplant. Er war für die Planung zuständig“, sagt Piccioli. „Und das war wahrscheinlich unser Schwachpunkt. Wenn man eine Tour selbst organisiert, dann kümmert man sich wirklich um Dinge wie Karten und Wetter. Aber wenn man einen Bergführer hat …” Seine Stimme wird leiser, er seufzt. „Niemand sagte etwas“, fährt er schließlich fort. „Wahrscheinlich weil ihm alle vertrauten. Ich auch. Sie vertrauten ihm alle und sagten sich: ‚Okay, wir folgen ihm einfach.‘“
Wenn man ein Problem hat und zum Arzt geht, vertraut man ja auch nicht blind darauf, dass alle Entscheidungen für einen getroffen werden.
Dale Remsberg
Das ist, vielleicht, die größte Lehre aus dieser Tragödie. „Wenn man ein Problem hat und zum Arzt geht, vertraut man ja auch nicht blind darauf, dass alle Entscheidungen für einen getroffen werden“, so Remsberg. „Ich möchte Gäste ermutigen, nicht blindlings die ganze Verantwortung an den Bergführer abzugeben, sondern ein Team-Mitglied in dieser Konstellation zu sein und es auch so anzugehen.”
Für Piccioli ist die Antwort einfacher. „Ich bin sicher, dass es eine Menge großartiger Bergführer gibt“, sagt er. „Aber ich werde in Zukunft alles selbst organisieren.“