„Ich möchte Frauen ermächtigen!“ – Interview mit Rita Christen
Seit Ihrem Antritt als Präsidentin des Schweizer Bergführerverbandes werden Sie vor allem deswegen interviewt, weil Sie die erste Frau in diesem Amt sind. Nervt das schon?
Rita Christen (lacht): Ich sag’s mal diplomatisch, als Präsidentin sehe ich es als meine Aufgabe, unseren Beruf, unseren Verband in der Öffentlichkeit positiv darzustellen. Das Medieninteresse nutze ich dafür. Ich probiere dann immer schön geduldig, die Fragen zum Thema Frau zu beantworten – obwohl ich diese Frage selbst gar nicht so spannend finde. Dass ich als Frau den Verband leite, ist ja nur oberflächlich gesehen exotisch. In einer Welt, in der Frauen Staatschefinnen sind, Impfstoffe erfinden und ins Weltall fliegen, ist es ja nun wirklich keine Hexerei, Präsidentin eines kleinen Berufsverbandes zu sein.
Sorry, ein paar Stereotype wollen wir auch abfragen: Es gibt das Klischee von Bergführerinnen als „Mannsweiber“, die härter und ehrgeiziger als Männer seien, um sich in dieser Domäne zu behaupten. Was sagen Sie dazu?
Ich mag generell keine Klischees, und dieses natürlich sowieso nicht. Von den Bergführerinnen, die ich kenne, hat jede ihren eigenen Umgang mit ihrer Rolle gefunden, zwanghaften Ehrgeiz oder übermäßige Härte beobachte ich bei keiner einzigen. Mir selber würde im Gegenteil manchmal etwas mehr „Biss“ guttun, ich bin ein ziemlich bequemer Typ. Im Übrigen bin ich selbst nie ernsthaft frauenfeindlichem Verhalten begegnet, es gab höchstens harmlose Missverständnisse. Es passiert schon mal, dass ich auf einer Hütte ankomme mit einem Gast, und sich der Hüttenwart automatisch an ihn wendet, weil er davon ausgeht, der Mann sei der Bergführer und ich, als Frau, der Gast.
Was machen Sie dann?
Ich nehme das mit Humor. Dazu fällt mir ein Beispiel ein. Einmal war ich mit einer Gruppe von sechs Frauen auf dem Aufstieg zur Lämmernhütte für einen Kurs in Eis und Fels. Alle hatten schwere Rucksäcke. Als wir Pause machten, kam ein Mann vorbei und meinte: „Oh, nur Frauen. Braucht ihr jemanden, der die Seile trägt?“ Es war ganz klar nicht ernst gemeint, sondern ein blöder Spruch. Ich sprang auf, sammelte die drei 50-Meter-Einfachseile zusammen, legte sie ihm über den Rucksack und sagte zuckersüß: „So nett, gerne!“ Er war platt und konnte sich nicht mehr hinauswinden.
Wie waren denn Ihre männlichen Mitbewerber zu Ihnen in der Ausbildungszeit?
Ich hatte es sehr gut mit den Kollegen, wir haben uns alle gegenseitig unterstützt. Und auch die Experten waren fair. Dass ich eine Frau war, hat eigentlich keine Rolle gespielt. Das war auch eine Wechselwirkung mit meiner eigenen Einstellung. Mir war das weitestgehend egal, was andere von mir denken. Ich habe ja die Ausbildung nicht für oder gegen die Kollegen gemacht, sondern weil ich sie für mich wollte. Wenn mich Leute schräg fanden, dann nicht, weil ich eine Frau war, sondern aus anderen Gründen. Ich war im Bergsport Quereinsteigerin, Akademikerin und hatte einen Hippie-Touch, trug vielleicht manchmal komische Kleider.
Vor Ihrer Ausbildung als Bergführerin hatten Sie eine Aussteiger-Phase …
So halb, es war ein bisschen schizophren. Ich habe einerseits schön brav mein Jura-Studium gemacht, auf der anderen Seite habe ich eine ganz andere Lebensweise gesucht. Mich hatte immer die Hippiezeit interessiert. Die Musik, die Ideale der damaligen Zeit – das spricht mich an. Aber diese Zeit war längst vorbei, als ich auf der Suche nach einem Platz im Leben war, und einer Ernüchterung gewichen. Doch die Idee des Aussteigens und Ausprobierens hat mich weiter fasziniert. Ich habe daher am Ende meines Studiums einen Spagat versucht. Ich habe meine Sehnsucht nach einem Leben in einer gerechteren Welt, in einer größeren Nähe zur Natur in ein Doktoratsprojekt in Rechtsphilosophie gekleidet und dabei den Sommer 1993 in Vermont, USA, in einem „Peace Village“, also einer Lebensgemeinschaft gelebt, die das versucht hat, umzusetzen.
Was war das für eine Gemeinschaft?
Das waren Menschen indianischer Abstammung, aber auch suchende Menschen aus der westlichen Welt. Wir haben nach den traditionellen Regeln der Cherokee gelebt. Das klingt wunderbar, war aber zum Teil auch mühsam und befremdlich. Ich habe trotzdem faszinierende Dinge erlebt. Es gab viele interessante Leute dort, aus der traditionellen und der modernen Welt, Schamanen, Psychoanalytiker, Künstler, Wissenschaftler und Spinner. Da ist total viel abgegangen.
Warum sind Sie wieder weg?
Letztlich war mir doch zu viel Esoterik im Spiel. Ich bin danach ins Gegenteil gekippt und habe zuhause in der Schweiz ein Anwaltspraktikum gemacht und begonnen, an einem Verwaltungsgericht als Gerichtsschreiberin zu arbeiten. Das mache ich übrigens noch heute in einem freien Pensum als Freelance-Mitarbeiterin.
„Ich bin dahingehend Feministin, dass ich von einer grundsätzlichen Stärke der Frau ausgehe.”
Was finden Sie in den Bergen und beim Führen?
Meine Hinwendung zu den Bergen hatte sicher etwas Kompensatorisches. Statt in einem ausgeflippten Leben irgendwo in der weiten Welt war ich an einem Gericht in Graubünden gelandet. Ich brauchte eine neue Herausforderung. Diese hat mir das Bergsteigen in perfekter Weise geboten. Ich erlebe etwas fast Spirituelles in der intensiven Ausgesetztheit gegenüber der Naturgewalt, in der Weite und Unberührtheit der Bergwelt. Dazu kommt das Kognitive. Ich finde es spannend, mit Risiken umzugehen und Entscheidungen am Berg auf der Basis von klaren Fakten, aber auch von Erfahrung und Intuition zu treffen. Zum anderen kann ich vor allem beim Klettern und beim Tiefschneefahren mein Bedürfnis nach körperlicher Herausforderung befriedigen. Als Bergführerin gefällt mir das Zusammensein mit den Menschen, denen ich ein bereicherndes Erlebnis vermitteln will.
Gäste haben manchmal Skepsis gegenüber Bergführerinnen, wenn es um das Gehen am „Kurzen Seil“ geht. Bei der Technik braucht man Kraft und auch ein gewisses Körpergewicht.
Ja, das ist ein Thema, wenn man wie ich eher klein und nicht so kräftig ist. Den Gewichtsunterschied zum Gast muss aber auch jeder männliche Bergführer kritisch bedenken. Bei vielen Touren kann man als eher leichte Führungsperson einfach mehr an Fixpunkten sichern, was das Tempo der Seilschaft natürlich drosselt. Aber es gibt auch Touren, da ist ein großer Gewichtsunterschied nicht mit vernünftigem Aufwand zu bewältigen. Für solche Touren gebe ich meine Gäste gerne an Kolleginnen oder Kollegen weiter, bei denen es vom Gewichtsverhältnis her besser passt.
Sie lehnen eine spezielle Frauenförderung in Ihrem Verband ab. Warum?
In der Idee der speziellen Frauenförderung steckt für mich etwas, das Frauen schwächt. Die Frau, die unterstützt werden muss, weil sie es alleine nicht schafft – dieses Bild mag ich nicht. Ich habe viele feministische Bücher gelesen und bin dahingehend Feministin, dass ich von einer grundsätzlichen Stärke der Frau ausgehe. Ich mag diesen Opferdiskurs nicht. Ich möchte Frauen eher ermächtigen, dass sie sich mit der gleichen Selbstverständlichkeit für diese Ausbildung entscheiden wie ein Mann.
Einspruch! Es ist ein Fakt, dass Frauen – vor allem Mütter – von der Gesellschaft strukturell benachteiligt werden, einfach weil der Großteil der unbezahlten Familienarbeit an ihnen hängt. Lässt sich das denn zeitlich und finanziell verbinden – Bergführerin und Familie?
Das geht. Das haben ich und viele meiner Berufskolleginnen ja vorgemacht. Man muss flexibel und unkompliziert sein, einen unterstützenden Partner haben und sich gut organisieren. Ich habe es so gelöst, dass ich jemanden eingestellt habe, der sich zu Hause um die Kinder und den Haushalt gekümmert hat. Das hat mir und meinem Mann Martin viel Freiraum gegeben, ich würde es wieder so machen.
Das kann sich aber nicht jede leisten!
Das ist meiner Meinung nach eine Frage der Prioritäten. Wir haben sicher viel Geld für die Haushaltshilfe und die Kinderbetreuung ausgegeben, dafür haben wir einen relativ bescheidenen Lebensstil. Ich gebe aber schon zu, dass es geholfen hat, dass mein Mann eine gute 100%-Stelle hat und dass ich als Juristin relativ locker gutes Geld verdienen kann. Aber auch als Bergführerin ist es in der Schweiz nicht schlecht, wir können hier recht gute Honorare fordern.
Sie kommen Frauen also in keinem Punkt entgegen?
Ja, wir machen keinen Unterschied zwischen Frauen und Männern. Für substanzielle Frauenförderung hätten wir auch gar nicht die Möglichkeiten. Wir sind ein kleiner Verband mit beschränkten Ressourcen. Die Förderung muss vorher stattfinden, und das tut sie auch, nämlich durch den Schweizer Alpenclub und durch das eidgenössische Förderungsprogramm Jugend+Sport, welches gerade dieses Jahr den Fokus auf Mädchenförderung legt. Das sind die Institutionen, die uns zuarbeiten, genauso wie die Schweizer Armee mit ihrer Ausbildung zum Gebirgsspezialisten, die auch jungen Frauen offensteht. Die Frauen, die zu uns in die Bergführerausbildung kommen wollen, müssen vorher schon einen guten Weg gegangen sein. Wie die Männer auch… Eine Erleichterung für Frauen in der Ausbildung würde ihnen den Stempel „Bergführer 2. Klasse“ verpassen. Das wäre fatal.
Der Berufsstand des Bergführers läuft Gefahr, zu überaltern. Wie kommt das?
Wir hatten in der Schweiz lange sinkende Teilnehmerzahlen in der Bergführerausbildung. In den vergangenen beiden Jahren sieht es besser aus. Wir hoffen, es ist eine Trendwende und nicht bloß ein Ausreißer. Zu den Gründen kann ich nur Vermutungen anstellen. Da ist einmal eine gewisse Konkurrenz durch die neuen Ausbildungen Wanderleiter und Kletterlehrer. Auch die Schneesportlehrer konkurrieren mit uns, sie dürfen in der Schweiz recht anspruchsvolle Skitouren und Freerideabfahrten führen. Vielleicht finden es viele auch nicht attraktiv, als selbstständig Erwerbende kein regelmäßiges Einkommen zu haben und vom Wetter und der touristischen Nachfrage abhängig zu sein. Dazu kommt, dass der Beruf in Vollzeit natürlich nicht sehr kompatibel mit dem Familienleben ist.
Wie wirkt der Verband dem entgegen?
Wir gehen die Nachwuchsförderung ganzheitlich an. Wir versuchen, die Ausbildung attraktiv und bezahlbar zu halten. Und wir bemühen uns, möglichst gute Rahmenbedingungen für die Berufstätigkeit zu schaffen. Da gibt es natürlich viel zu tun. Das reicht vom Einsatz für eine sachgerechte Gesetzgebung für Risikoaktivitäten über das Festlegen von Richttarifen, die ein Arbeiten in Teilzeit ermöglichen, bis hin zu guten Versicherungslösungen. Wichtig ist auch ein gutes Angebot an Weiterbildungskursen, die Unterstützung fürs Arbeiten im Ausland und bei Unfällen. Und vieles mehr. Die Arbeit wird mir in den nächsten vier Jahren nicht ausgehen.
Wie viele Bergführerinnen hat der Verband jetzt?
42.
Und Männer?
1481.
Ab wann nennen Sie sich um in den Schweizer Bergführer- und Bergführerinnenverband?
Sicher nicht während meiner Präsidentschaft. Ich kann gut mit dem generischen Maskulinum leben.