Heimlich, still und schnell: Albert Neuner
Nach der Arbeit, erzählt er, steige er in den Wintermonaten oft noch auf die Hohe Munde, die wie ein großer Kegel quasi aus seinem Vorgarten in der Oberleutasch wächst. Nach einem Neun-Stunden-Tag? Vier Mal die Woche, beim Liebherr in Telfs, wo der Baumaschinenhersteller Planierraupen, Teleskoplader und Rohrleger zusammenbaut und wo Albert Neuner als Schlosser arbeitet.
- „Wann kommst du denn heim?“
- „Um vier.“
- „Und wann gehst du los?“
- „Mei, gegen fünf vielleicht.“
- „Wie viele Höhenmeter sind das?“
- „Etwa 1450 bis auf den Ostgipfel.“
- „Und wie lange brauchst du?“
Das sei nicht so wichtig, sagt Albert und lacht, und erst nach mehrmaligem Nachhaken lenkt er ein, vorsichtig seine Worte abwägend, als wolle er nichts Falsches sagen und nichts, was man für Angeberei halten könnte.
„Wenn es gut geht, bin ich unter anderthalb Stunden wieder zuhause.“
Bescheiden zu sein, habe ihn seine Mutter gelehrt, und so würde er sich auch selbst beschreiben, sagt Albert. Man glaubt ihm das, weil es sich nicht nach Understatement anhört, nach einer List also, mit der manche Zurückhaltung vorgaukeln und doch nur ihre Leistungen im richtigen Licht betrachtet wissen wollen. Daran hat Albert Neuner kein Interesse. Und doch, das ist nicht übertrieben, zählt der 34-Jährige zu den stärksten Alpinisten der Gegenwart. Weil er fast so schnell ist wie Kilian Jornet. Und nervenstark in Fels, Eis und kombiniertem Gelände, wie Simon Gietl. Alpinrouten wie den „Weg der Nasenbohrer“ (VIII) in der Südwand der Schüsselkarspitze bewältigt er free solo. Und an der „Chinesischen Mauer“ – einem Klettergarten wenige Kilometer von seinem Zuhause entfernt – tanzt er „Rudolf Nurejew“ gleich durch die ebenso genannte Linie im X. Grad. Das ist schon ziemlich komplett, und wenn die Verhältnisse es erlauben, erschließt Neuner im Wettersteingebirge auch noch Steilabfahrten, in die sich kaum ein anderer hineintraut.
Von alledem liest, hört und sieht man nichts. Selbst dann nicht, wenn man „albert.9er“ auf Instagram folgt, wo er zwischen August 2017 und Dezember 2020 elfmal etwas gepostet hat, obwohl er vier bis fünf Mal die Woche in seinen Heimatbergen unterwegs ist. Im Winter auf Skiern, im Sommer klettert er zum Sonnenuntergang oft eine Route an Schüsselkar- oder Scharnitzspitze oder an beiden. Meist alleine. Nicht weil er ein Eigenbrötler ist, im Gegenteil, sondern weil kaum ein gleichwertiger Partner Zeit habe, wenn er Zeit hat, und weil er auch nicht mehr, wie früher, mit jedem unterwegs sein wolle, nur um unterwegs zu sein.
„Wenn ich drei Freunde anrufe und bei denen geht es nicht, dann gehe ich eben lieber allein.“
Im Sommer nimmt er meistens seinen Gleitschirm mit an den Wandfuß, um mit ihm zu Tal zu fliegen. Das macht er inzwischen auch nachts. Und orientiert sich dabei an den Straßenlaternen, die ihm heimleuchten zu seinem Landeplatz, Obern 26, auf der Wiese direkt hinterm Elternhaus, in dem Albert bis heute wohnt. Aufgewachsen ist er mit seiner Mutter und der ein Jahr älteren Schwester. Sein Vater verunglückte im Winter 1987 in einer Lawine am Fuß der Gehrenspitze. Die liegt in Sichtweite seines Zuhauses. Als der Vater starb, war Albert Neuner sechs Monate alt.
Natürlich sei es schwer gewesen für die Mutter, die eine Frühstückspension betrieb, die Familie über Wasser zu halten. Und die jedes Mal in Sorge verging, wenn Albert auf Skitour war. Zehn Jahre ist der Sohn alt, als er zum ersten Mal der Spur hinterherstapft, die Skitourengeher angelegt haben. Er weiß nichts über das Wetter, Lawinen, Abstürze in felsdurchsetztem Gelände, aber er will sich ständig bewegen, sich austoben und er ist ebenso furchtlos wie neugierig. Mit jedem Mal wagt sich Albert etwas weiter nach oben, an der Rauthhütte vorbei, über die Zigerböden, durch die Hohe Klamm auf den Ost- und schließlich den Westgipfel. Einmal spricht ein alter Telfser Bergführer den Jungen an, den er immer wieder an der Hohen Munde beobachtet. Gut aufpassen solle er, und nicht bei jedem Wetter ausrücken.
Im Winter trainiert Albert im örtlichen Langlaufverein, die Ferien verbringt er auf der Rotmoosalm, als Hirtenbub. Ausdauernd wird so einer ganz von alleine. Auch im Sommer wagt sich der Junge immer weiter vor, Stück für Stück, kletternd in den Südabstürzen von Hinter- und Oberreintalschrofen, wo er ein gutes Jahrzehnt später im Alleingang zwei Routen erstbegeht. Eine davon heißt „Tua was du nit lassen kunsch“ (VI).
Diesem Weg ist Albert bis heute treu geblieben, auf seine eigene Art. Seit 15 Jahren klettert er in jedem Spätherbst die anstrengenden Faust- und Piazrisse der „Meßner-Sint“ (VI+) im seilfreien Alleingang. Am Ende des Quergangs in der zweiten Seillänge, auf einem schmalen Band sitzend, lässt er sich die Abendsonne ins Gesicht scheinen. Das mache ihn glücklich, und in diesen Momenten fühle er sich frei. Im Herbst 2013 steigt Albert im Alleingang durch die Matterhorn-Nordwand. Am Vortag hat es geschneit, Albert ist zum ersten Mal auf der klassischen „Schmid-Führe“ (TD+, WI4+, M5) unterwegs. Für die 1100 Höhenmeter lange Route braucht er gut zwei Stunden und ist damit nur eine Viertelstunde langsamer als der Schweizer Dani Arnold, der mit 1:46 Stunden den Speedrekord für die Nordwand hält – die er kennt wie seine Westentasche.
Schnell zu sein ist für Albert kein Selbstzweck. Er notiert keine Begehungszeiten. Er möge es einfach, sich kontinuierlich zu bewegen. Stillstand vertrage er schlecht, und sichernd am Stand zu warten, sei nicht seine Stärke. Am 9. August 2020 startet Albert in Unterleutasch Richtung Wettersteinspitze. Es ist 20 Uhr. In die Nacht hinein überschreitet er die Gipfel der Wettersteinwand, huscht vorbei an der Meilerhütte, in der alles schläft, lässt Partenkirchner und Leutascher Dreitorspitze hinter sich, ebenso Schüsselkar- und Scharnitzspitze. Er ist schneller als gedacht, weshalb es noch dunkel ist, als er in den extrem brüchigen Teufelsgrat einsteigt. Erst am Hohen Kamm geht die Sonne auf, Albert nimmt sich eine gute Stunde Zeit für eine Pause.
Einige Tage zuvor hat Albert drei Essens- und Wasserdepots entlang des Wettersteingrates eingerichtet. Doch in den Flaschen ist das Wasser brack geworden. Albert trinkt trotzdem, was soll er auch machen, er ist schon stundenlang unterwegs und der Tag wird sonnig und heiß. Zwischen Wetterwandeck und Schneefernerkopf beginnt sein Magen zu krampfen. Auf der Zugspitze, hofft Albert, wird er etwas zu trinken kaufen können. Doch auf dem Gipfel drängeln sich die Ausflügler. Albert müsste sich anstellen, und das will er nicht. Also weiter, auf dem Jubiläumsgrat zum Hochblassen, über den Hohen Gaif hinüber und schließlich der lange, langweilige Abstieg nach Garmisch-Partenkirchen. Nahe der Partnachalm wird Albert schwindelig und schwarz vor Augen. Er ist vollkommen dehydriert. Lässt sich in den Graben neben der Forststraße fallen, die Füße nach oben, des Kreislaufs wegen. Gut eine Viertelstunde liegt er so. Dann steigt er ab ins olympische Skistadion.
21:49 Stunden war Albert auf dem Wettersteingrat unterwegs, der wie ein Hufeisen Tirol und Werdenfelser Land verbindet. Gut 70 Kletterkilometer und 7000 Höhenmeter hat er bewältigt. Schneller war niemand, und schneller wird auch kaum jemand mehr sein.
Dass Albert ein Getriebener sei, auf der Flucht vor sich selbst, inneren Dämonen oder sonst irgendetwas, dieser Schluss läge nahe. Doch Albert wirkt nicht flüchtig. Er ist präsent, konzentriert, aufmerksam. Nicht so wie jene Menschen, die eine Sache tun und drei andere gleichzeitig und die vierte und fünfte schon im Kopf haben. Albert ist ausgebildet als staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, aber nur selten mit seinen wenigen Stammgästen unterwegs. Er hat keine Sponsoren: „Die Mutter hat uns beigebracht, nie um etwas zu betteln.“ Eine Karriere als Profibergsteiger hat er nie angestrebt. Zu wichtig sei ihm seine Freiheit. Auch die Freiheit, nichts zu tun.
- „Wie sieht das aus bei dir?“
- „Ich lege mich aufs Sofa.“
Eine Familie und Kinder wünsche er sich. Wie lange er seine Art zu leben noch leben wolle und könne, keine Ahnung. Früher haben die Alten gesagt, man steige erst auf die Hohe Munde, wenn der Firn auf den Gipfelhängen in der Frühlingssonne glänzt. Albert besteigt seinen Hausberg heute regelmäßig im Hochwinter. Tagsüber. Nachts. Und immer schneller. Wer wisse schon, sagt er, was die Zukunft bringt.
Titelbild: Alex Fuchs