Halbseiltechnik: Seilmanagement ohne Seilchaos?
In bergundsteigen #111 und #114 beschäftigte sich Chris Semmel mit der Halbseiltechnik: Wann sie sinnvoll ist, welche Sicherungsgeräte dafür passen, warum Bremsprobleme auftreten können und wie man damit umgehen sollte? Im dritten und letzten Teil zur Themenreihe geht es darum, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Besonders wird dabei auf die Situation in einer Dreierseilschaft eingegangen.
- Teil 1: Halbseiltechnik – wieso, weshalb, warum?
- Teil 2: Bremskräfte und möglicher Probleme bei der Halbseiltechnik
Seilmanagement
1. Einführung
In berundsteigen #111 wurden Argumente genannt, wann die Halbseiltechnik Sinn macht. Diese waren: Reibungsreduzierung, Kräftereduzierung oder führungstechnische Aspekte.
Reibungs- und Kräftereduzierung dienen dem Vorsteiger. Führungstechnische Aspekte den Nachsteigern. Die folgenden Betrachtungen betreffen die Situation, wenn ich zwei Nachsteiger „bedienen“ möchte. Bei nur einem Nachsteiger sind mögliche Probleme wie verdrehte Seile weniger problematisch. Auch das Aushängen des korrekten Seils aus einer Zwischensicherung entfällt und ein mögliches Pendeln bei Halbseiltechnik ist weniger problematisch, weil ein Nachsteiger durch jede Zwischensicherung abgesichert ist und nicht nur durch jede zweite. Ein korrektes Seilmanagement ist immer hilfreich, bei zwei Nachsteigern ist es essenziell.
2. Getrennte Doppelseiltechnik
Zunächst wollen wir noch genauer die Anwendung der Halb- und Doppelseiltechnik betrachten. Wie bereits beschrieben, wird bei Halbseiltechnik immer nur ein Seilstrang in den Karabiner der Zwischensicherung eingehängt. Was aber, wenn man aus führungstechnischen Überlegungen in einen Zwischenhaken zwei Exen klippt und in jeden Karabiner eines der beiden Halbseile einhängt? Das entspräche der Doppelseiltechnik (zwei Seile in eine Zwischensicherung), aber jeder Strang wird in einem separaten Karabiner geführt.
Der Vorteil dabei ist, dass der erste Nachsteiger schnell sein Seil bzw. seine Exe aushängen kann ohne sein Seil aus der gemeinsamen Exe sortieren zu müssen wie bei klassischer Doppelseiltechnik. Betrachtet man die Situation bei einem Vorsteiger-Sturz, werden sich hierbei beide Seile straffen und die Sturzbelastung aufnehmen. Man bremst also mit beiden Seilsträngen im Tuber bzw. in der HMS. Relevante Seilverbrennungen im HMS-Karabiner wird es hierbei also nicht geben. Somit entspricht diese Technik der Doppelseiltechnik, jedoch mit getrennter Seilführung. Klar ist auch, dass diese Technik schnell zu Seilreibung und Seilchaos führt, sollte der Vorsteiger nicht immer peinlich genau darauf achten, das entsprechende Seil unverdreht in den richtigen Karabiner zu klippen (Abb. 1).
Diese Variante macht nur Sinn, wenn zwei Nachsteiger in einer schwierigen Querung klettern. Der Führende muss aber zuvor abklären, wer von den beiden Nachsteigern zuerst nachkommt und welchen Abstand die beiden einhalten müssen (immer mindestens eine Exe sollte zwischen beiden eingehängt sein). Besonders muss der Vorsteiger peinlich genau darauf achten, die Seile beim Einhängen nicht zu verdrehen. Gesichert werden sollte dabei mit Tube, denn beim Sichern mit der HMS am Stand können die Seile leicht verdreht werden.
Aber schon zuvor sollten die Seilstränge der beiden Nachsteiger unverdreht sein. Eine nicht ganz triviale Aufgabe, die diese führungstechnische Variante oft zum Chaos ausarten lässt. Denn sind die Seile verdreht, müssen die Nachsteiger am Stand „Zwiefacher tanzen“, um ihre Verdrehungen aus den Seilen zu bekommen. Ansonsten wird es für sie problematisch, ihren Seilstrang separat auszuhängen. Die Maßnahme, die den Nachsteigern ein komfortables Aushängen nur eines Seilstranges ermöglichen soll, wird dann oft zur anspruchsvollen „Entwicklungs-Aufgabe“ und bewirkt genau das Gegenteil. Also Vorsicht mit solchen Maßnahmen – sie gehen schlecht angewandt schnell nach hinten los. „Gut gemeint“ bedeutet bekanntlich oftmals „schlecht gemacht“.
3. Vor dem Start
Egal, ob ein oder zwei Nachsteiger: Vor dem Start werden beide Seilstränge immer separat vorbereitet. Als Beispiel: Seil „rot“ rechts, Seilstrang „blau“ links ablegen. Dann bindet sich der Vorsteiger in beide Stränge ein, wieder „rot“ rechts vom Sicherungsring, „blau“ links davon. So kann er am Gurt immer erkennen, welcher Seilstrang wo laufen sollte.
Dann wird das Tube des Sichernden auch unverdreht zum Vorsteiger eingehängt und später binden sich beide Nachsteiger auch unverdreht ein. Mag auf den ersten Blick penibel wirken, hilft aber dabei, Seilchaos zu vermeiden.
4. Am Stand
Der Vorsteiger sichert sich am Stand mit einem der Halbseilstränge im Mastwurf und hängt den zweiten Strang im Sicherungskarabiner dazu. Das dient dazu, um zu vermeiden, dass die Nachsteiger am Stand zwischen die beiden Seile des Vorsteigers steigen können. Natürlich kann sich der Vorsteiger auch mit Mastwurf am Doppelstrang sichern (Abb. 2).
Bevor er das Seil nun einzieht, trennt er beide Stränge mit dem Daumen und zieht das Restseil so ein und „entdreht“ es dabei. Alternativ können die Seile auch durch einen Karabiner separiert werden (Abb. 3).
Anschließend wird die Sicherungsplatte (Plate, z. B. Reverso, ATC usw.) dementsprechend eingelegt. Am Stand angekommen wird jeder Nachsteiger separat und unverdreht mit dem Seil von seinem Anseilknoten aus (also dem Lastseil unter der Sicherungsplatte) mit separaten Mastwürfen am Stand gesichert.
Die Möglichkeit, die Sicherungsplatte als Selbstsicherung für die Nachsteiger hängen zu lassen, ist weit verbreitet, birgt aber drei Nachteile. Erstens wirkt sich eine Be- oder Entlastung der Selbstsicherung immer auch auf den anderen Nachsteiger aus, was an exponierten Ständen unangenehm ist.
Zweitens muss zum Nachkommen des ersten Nachsteigers die gesamte Selbstsicherung beider gelöst werden. Muss der erste Nachsteiger jedoch eine schwierige Stelle in Nähe des Standplatzes klettern, sollte der zweite Nachsteiger mit deutlichem Abstand starten. Hier wäre eine getrennte Selbstsicherung am Stand sehr angenehm, damit der zweite Nachsteiger bequem in seiner Selbstsicherung hängen bleiben kann, bis der Vordermann die Stelle überwunden hat.
Der dritte Nachteil liegt schlicht und ergreifend darin, dass schon öfter vergessen wurde, das Tube/die Sicherungsplatte des Nachsteigers dem Vorsteiger mitzugeben. Das hat dann zur Folge, dass dieser die beiden Nachsteiger provisorisch über HMS nachholen muss – eine „ungute“ Situation, da es schwierig ist, immer beide Bremsseilstränge unter Kontrolle zu halten und trotzdem jeden Seilstrang angepasst straff einzuholen.
5. Seilversorgung
Am Stand werden die Seile, wenn möglich, auf einen Haufen abgelegt und vor dem Start des Vorsteigers von einem der Nachsteiger durchgezogen (wieder möglichst mit dem Daumen die Seile separieren), während der andere die Sicherungsaufgabe übernimmt. An Hängeständen sollten die Seile sinnvoll am Stand aufgehängt werden. Eine Möglichkeit ist, die Seile beim Einziehen immer mit einer fest zugezogenen „Luftmasche“ oder bei zwei Nachsteigern auch mit Sackstichaugen an einem der beiden Stränge in einen verdreht aufgehängten Karabiner zu klippen. Dabei werden die Seilschlaufen so lang wie möglich und so kurz wie nötig unter den Stand gehängt. Die Schlaufen sollten eine nach der anderen immer länger werden. Wird der Vorsteiger weiter gesichert, dreht man den Karabiner. Das zum Vorsteiger führende Seil liegt nun zuvorderst im Karabiner. Dabei ist diese Schleife die kürzeste, die sich nun nicht mit den anderen Schlaufen beim Sichern verfangen kann (Abb. 4).
Beim Sichern hängt man dann der Reihe nach die Luftschlaufen aus und zieht diese nur auf. In Dreierseilschaft bedient einer die Sicherung, der andere übernimmt das Seilmanagement und bereitet das Seil vor. Dabei kann er auch die Sackstichaugen des Sicherungsseils aushängen und öffnen.
6. Beim Vorsteigen
Der Vorsteiger sollte beim Einhängen in Halbseiltechnik konsequent darauf achten, „rot“ immer rechts bzw. „blau“ immer links zu führen. Wird eine Halbseiltechnik mit dem Ziel der Reibungsreduzierung angewendet, kann es durchaus sein, dass ein Strang mehrmals nacheinander in eine Zwischensicherung eingehängt wird. Es muss nicht zwangsläufig immer wechselweise geklippt werden. Beim Eisklettern werden oft zwei Linien gebildet, damit beide Nachsteiger möglichst nebeneinander und gleichzeitig klettern können, um Verletzungen durch Eisschlag zu vermeiden (Abb. 5).
Besondere führungstechnische Maßnahmen
1. Querungen
Eine Maßnahme, z. B. eine Querung für beide Nachsteiger möglichst sinnvoll abzusichern, wurde oben unter „getrennte Doppelseiltechnik“ bereits diskutiert. Hier überwiegen in der Praxis oft die Nachteile. Was also kann man tun, möchte man eine Querung für zwei Nachsteiger optimal absichern?
Zunächst muss man abwägen, wie „schwer“ die Passage für die Nachsteiger ist und welche Konsequenzen drohen. Eine in Relation zum Können der Nachsteiger eher leichte Passage wird herkömmlich in Doppelseiltechnik und ordentlicher Seilführung abgewickelt – also möglichst keine Seildreher im Seilverlauf. Klar ist dabei, dass für die Nachsteiger eine Zwischensicherung nach einer schweren Stelle angebracht werden muss, um ein mögliches Pendeln gering zu halten.
Ist die Querung für die Nachsteiger schwierig oder der Fels sehr brüchig und dadurch eine erhöhte Sturz- und mögliche Pendelgefahr gegeben und diese nicht ausreichend durch Zwischensicherungen abzusichern – oder muss gar abgeklettert werden –, sollte man eine solche Passage „rückwärtig absichern“. Dazu darf die Querung nicht länger als die halbe Seillänge sein.
Vorbereitung: Der erste Nachsteiger hängt sich mit Sackstichauge und Safelock-Karabiner in der Seilmitte des „blauen“ Seils ein, der zweite Nachsteiger ist in beiden Seilenden eingebunden.
Vorstieg: Der Vorsteiger fädelt bzw. klippt am Beginn der Querung das rote Seil in die Zwischensicherung (Opfer-Karabiner oder Schraubglied im Haken). Beim Queren hängt er dann nur das blaue Seil (des in der Seilmitte eingehängten ersten Nachsteigers) in die Zwischensicherungen ein. Nachdem der Führende Stand bezogen hat, legt er das blaue Seil in die Sicherungsplatte (Plate) ein, das rote wird mit HMS aufgehängt und mit Schleifknoten straff abgebunden.
Erster Nachsteiger: Zuerst steigt der am blauen Seil in der Mitte eingebundene Kletterer nach und wird dabei vom zweiten Nachsteiger über den Stand ebenfalls am blauen Seil über HMS „rückwärtig“ abgesichert, während der Vorsteiger ihn über die Sicherungsplatte (Plate) gleichzeitig nachsichert. Dadurch ist er von rechts wie von links gesichert und kann nicht pendeln. Der Kletternde hängt beim Queren die Zwischensicherung hinter sich wieder ein. Sollte die Querung für ihn zu schwer zum Klettern sein, kann sich der Nachsteiger auch am fixierten roten Seil wie an einem Geländerseil und mitlaufender Expressschlinge hinüberhangeln.
Zweiter Nachsteiger: Anschließend wird der zweite Nachsteiger am blauen Seil in der Sicherungsplatte (Plate) nachgesichert, während das rote Seil in der Querung über HMS vom ersten Nachsteiger ausgegeben wird. Somit ist auch der zweite Nachsteiger „rückwärtig abgesichert“. Sollte auch für ihn die Querung zu schwierig sein, bereitet er sich eine lange Reepschnur als Seilschwanz vor und hängt eine mitlaufende Exe in das rote Seil ein. Die Reepschnur (Seilschwanz) kann er in den Zwischenhaken fädeln, um sich nach dem Aushängen der Exen selber ablassen zu können, bis er durch die beiden Seile von rechts und links gehalten wird. Klingt kompliziert, ist mit etwas Übung aber durchaus praktikabel und erspart den Nachsteigern an heiklen Querungen oder in Abkletterpassagen jede Menge Nerven. Diese Technik eignet sich natürlich auch für eine Zweierseilschaft, wobei das „Verschieben“ des ersten Nachsteigers in die Seilmitte dann natürlich entfällt. (Abb. 6)
Sollte ein Bergführer nach der Kletterei im leichten Auf- oder Abstieg seine Gäste am kurzen Seil sichern wollen, wird einer der beiden Seilstränge weggepackt und der Führende bindet sich in der Mitte eines der Halbseilstränge ein. Nun steht die halbe Seillänge für gestaffeltes Klettern zur Verfügung und jeder der Nachsteiger hat wieder seinen eigenen Seilstrang. Ein Seilabbund besteht nun aus einem Halbseil und nicht aus zweien und erlaubt ein deutlich übersichtlicheres und angenehmeres Arbeiten für den Bergführer beim Wechsel der Führungstechnik, also beim Ab- und Aufnehmen des Seilabbunds. Sollen beide Nachsteiger im selben konstanten Abstand am kurzen Seil gehen, wie z.B. bei längeren Passagen im Schutt oder Firn, können die beiden Seilstränge auch mittels eines kleinen Sackstichauges „fixiert“ werden. Aus den zwei Halbseilen wird nun ein Doppelseilstrang.
Die Technik „Rückwärtig Absichern“ ist Inhalt in der Bergführerausbildung und hat weniger mit dem eigentlichen Thema Halb- und Doppelseiltechnik in Seilschaft zu tun. Sie muss geschult und trainiert werden und ist ohne Ausbildung nicht zur Nachahmung empfohlen. Alle zuvor beschriebenen Techniken können natürlich auch von privaten Zweierseilschaften umgesetzt werden.
2. Umbinden in der Dreierseilschaft
Dreierseilschaften gelten als langsam und chaotisch. Das muss nicht so sein. Denn ein positiver Effekt ist, dass der Nachsteiger nicht mit dicken Armen gleich in die nächste Seillänge starten muss und zum anderen kann eine Dreierseilschaft sehr „kommunikativ“ sein und sich am Stand die Sicherungsaufgaben teilen (Sichern und Seilmanagement).
Das Umbinden bei einem gewünschten Führungswechsel erscheint dabei oft als Herausforderung, kann aber auch wie folgt optimal organisiert werden.
Zuerst gibt der bisherige Vorsteiger einen seiner Stränge ab. Am besten den, mit dem er sich nicht selbst gesichert hat. Am flexibelsten ist man beim Klettern mit Halbseilen, wenn man den Mastwurf immer nur auf einen der beiden Stränge legt und den zweiten Strang parallel dazu in den Karabiner hängt (siehe Abb. 2). So kann man den freien Strang leichter tauschen oder für einen anderen Zweck verwenden. Der bleibende Nachsteiger bindet sich in diesen freien Strang ein und sichert sich mittels Mastwurf an diesem. Anschließend bindet er sich aus seinem bisherigen Seilstrang aus und übergibt diesen an den neuen Vorsteiger. Der Vorteil: So muss man nur zwei Seile umbinden und beide Seilenden des neuen Vorsteigers laufen von oben aus dem Seilhaufen. Man spart das Seildurchziehen und niemand muss sich zwischenzeitlich mit einer Bandschlinge selbstsichern.
Keinesfalls darf man dem neuen Vorsteiger ein von oben und ein von unten aus dem Haufen kommendes Seil geben – Seilchaos ist sonst garantiert!
Fazit Generell ist die Verwendung eines Doppelseils im Gebirge angeraten, egal ob in Halb- oder Doppelseiltechnik gesichert wird. Zwei Seilstränge können vor Seilrissen durch scharfe Kanten oder Steinschlag schützen und ermöglichen einen schnelleren Rückzug.
Die Halbseiltechnik bietet die Möglichkeit, Seilreibung zu reduzieren sowie die Sturzkräfte gering zu halten (vgl. bergundsteigen #111). Allerdings muss das Halbseil zum Tube und zur Sicherungstechnik passen und die Bremskraft der möglichen Sturzenergie (und somit dem Gewicht des Vorsteigers) angepasst werden. Bei Kletterern mit 80-100 Kilogramm besser zwei Karabiner im Tube verwenden, bei noch schwereren Personen entsprechend dickere und weichere Seile verwenden. Die erste und ggf. auch noch zweite Zwischensicherung zunächst in Doppelseiltechnik einhängen und erst dann auf Halbseiltechnik wechseln.
Vorsicht: Allgemein müssen Tuber und Seil zur Handkraft und zur Sturzmasse passen! Bremshandschuhe können besonders bei Fixpunktsicherung helfen! (vgl. bergundsteigen #114)
Nach dem Motto „wider dem Seilchaos“ spart ein „ordentliches“ Seilmanagement Zeit und Nerven. Was kleinlich und penibel wirken mag, bietet mit etwas Übung deutlich weniger Stress, einen „reibungslosen“ Klettergenuss und ein Sicherheitsplus – quasi „Seiltechnik-Flow“.