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19. Apr 2022 - 18 min Lesezeit

Fürs Lernen leben: Pädagogik im Bergsport

Weil Bergsport auch Bildungsarbeit ist: Pädagogische Perspektiven des Bergsports im Kontext gesellschaftlicher Transformationen. Welchen Stellenwert hat der organisierte Bergsport für Bildung und Lernen?

Wenn ein Bergsportler eine neue Tour begeht, wenn eine Bergführerin ihre Gruppe anleitet, dann steht hier die Leidenschaft für das Erleben im alpinen Gelände im Vordergrund. Auch Sicherheitsbeauftragte und andere Verantwortliche in alpinen Organisationen sehen ihre Rolle darin, wichtige Voraussetzungen für den Bergsport zu schaffen, in dem sie neue Sicherungstechniken einführen, Unfallanalysen erstellen oder Präventivprogramme auf den Weg bringen. Viele dieser skizzierten Akteure können ihre Aufgaben aber nur dann realisieren, wenn Menschen beginnen etwas zu lernen, Dinge zu hinterfragen, sich selbst zu verändern. Und tatsächlich geschieht dies in hohem Maße. Unsere These:

Bergsport ist Bildungsarbeit!

Dieser Beitrag will aufzeigen, welchen Stellenwert der organisierte Bergsport für Bildung und Lernen hat. Vor dem Hintergrund großer Transformationen (v. a. wegen Pandemie, sich verändernder Lebensstile, Klimawandel, Digitalisierung) gilt es, diese Aufgabe professionell und mit Verantwortung auszugestalten. Bildungsverantwortliche, Trainerinnen und Trainer in alpinen Organisationen können hierzu vielfältig beitragen.

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Klettertraining für Kinder als Bildungsarbeit

1. Lernen in und außerhalb von Schule

„Bildung“ ist ein großer Begriff. Der Mainstream in Gesellschaft, Politik und Wissenschaft verbindet damit zunächst die Bereiche frühkindliche Bildung, Schule und Hochschule. Dies ist insofern zutreffend, als Menschen gerade in den ersten Altersstufen sich selbst und ihre Talente entwickeln, verschiedene Lebenswelten entdecken, Sprache und viele andere Kompetenzen aufbauen. Die Lernpsychologie spricht von Entwicklungsphasen, in denen bestimmte Fertigkeiten und Einstellungen entscheidend geprägt werden (vgl. z. B. die Modelle von Piaget, Erikson).

Das, was die meisten von uns aus ihrer Schulbiografie kennen, ist „formales Lernen“: zielgerichtet, strukturiert, verpflichtend, in Form von Unterricht institutionalisiert und über Prüfungen und allgemein anerkannte Zertifikate dokumentiert.

Auch wenn gegenwärtig viel Unmut und Unzufriedenheit gegenüber dem Schulsystem vorgetragen werden, so stellt der formale Bildungsbereich nach wie vor das Rückgrat des Bildungssystems dar, insbesondere im Hinblick auf die Vermittlung von Kulturtechniken, soziale Teilhabe und Chancengleichheit sowie die Vorbereitung auf berufliche Karrieren. Zwar in eher kleinerem Umfang, aber sehr wohl in ebendiesem Sinne bringen sich auch alpine Organisationen in die formale Bildung mit ein, beispielsweise im kooperativen Schulsportunterricht oder durch bestimmte Berufsausbildungen (z. B. staatlich geprüfte Berg- und Skiführer, Skilehrer, Kletterlehrer).

Es ist allerdings Vorsicht geboten vor universellen oder einseitigen Neuro-Mythen: Nicht nur Kinder und Jugendliche, auch erwachsene Menschen sind nachgewiesenermaßen in der Lage, eine Fremdsprache akzentfrei zu erlernen, physikalische Theorien zu durchdringen oder neue Bewegungsformen am Fels und im Schnee einzuüben – ohne Begrenzung bis ins höhere Alter. Das Lernen Erwachsener gewinnt mit Blick auf den demografischen Wandel, die Migration und die technologischen Umbrüche weiter zunehmend an Bedeutung – das Schlagwort vom „lebenslangen Lernen“ oder „lebensbegleitenden Lernen“ ist landläufig etabliert (vgl. z. B. österreichische Strategie „LLL:2020“, https://epale.ec.europa.eu/nl/node/3892).

Die Besonderheit gegenüber anderen Bereichen besteht darin, dass Erwachsene aufgrund ihrer individuellen Lebenserfahrungen vielfältigere Lernbedürfnisse aufweisen und Lernerfahrungen bereits mitbringen. Infolgedessen hat sich historisch eine große Vielfalt an Institutionen und Organisationen herausgebildet, die sich unter ganz unterschiedlichen Kontextbedingungen reproduzieren und sich auf je ganz eigene Kulturen und Traditionen zurückführen lassen, unter geringen (national-)staatlichen Regelungen.

Das weite Feld der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung versteht sich als „nonformales Lernen“: Unterschiedlich organisiert, freiwillig, in Form von Kursen, Übungsstunden und offenen Angeboten in Akademien, Sportverbänden, Jugendzentren usw. Der erfolgreiche Bildungsprozess wird z. B. über Teilnahmebescheinigungen, Lizenzen für Trainerinnen und Trainer oder durch Würdigung ausgedrückt.

Das organisierte Lernen jenseits staatlicher Bildungsinstitutionen spielt eine wichtige Rolle für den Erwerb und das Aktualisieren von Wissen und Können für weite Teile der Bevölkerung. Anders als im formalen Bildungsbereich verstehen sich die Einrichtungen hier als Anbieter, die ihre Inhalte auf bestimmte Adressatinnen und Adressaten hin ausrichten. Sie übernehmen Funktionen und Inhalte, die von formalen Bildungsinstitutionen nicht oder nur sehr rudimentär abgedeckt werden. So können z. B. aktuelle Themen oder gesellschaftlich umstrittene Aspekte bearbeitet werden, die noch nicht in feste Curricula eingegangen sind, wo nach Ideen und Innovationen gesucht wird, oder wo es gilt, über konträre Meinungen und Positionen zu diskutieren.

Die stärker autonome und flexiblere Organisationsform ermöglicht handlungsorientierte Lernsettings und solche Sozial- und Arbeitsformen, die eher die (Lebens-)Erfahrungen und individuellen Bedürfnisse der Teilnehmerinnen und Teilnehmer in den Blick nehmen, als dies in klassisch schulischen Kontexten typischerweise der Fall ist. Es gilt also festzuhalten: Bildungsarbeit ist nicht auf die ersten drei Lebensjahrzehnte der Menschen begrenzt, die sich dazu in Klassenunterricht einfinden und starren Curricula folgen müssten. Und nicht zuletzt: Jenseits von jeglichen „Schulen“ (allgemeinbildende Schulen, Berufsschulen, Hochschulen, aber auch Fahrschulen, Musikschulen, Skischulen usw.) zeigen sich verschiedene Modalitäten des Lernens (vgl. Schrader 2019; Schwan/Noschka-Roos 2019).

Bilder für die DAV-Kampagne #natürlichklettern. Infos: alpenverein.de/natuerlich-klettern

Wesentliche Momente von Lernen und Bildung finden gänzlich außerhalb organisationaler Strukturen statt, als „informelles Lernen“: Ungeplant, unorganisiert, freiwillig. Lernprozesse kommen aus einem inneren Antrieb (ggf. ange- stoßen) und zeigen sich z. B. im Arbeitskontext, im individuellen Bergsport, in privaten Gemeinschaften (v. a. Peergroups) und über Medien (z. B. alpine Communitys in Online-Plattformen und Social-Media-Kanälen). Ein Lernerfolg kommt in Selbstbestätigung, Selbstwirksamkeit oder Symbolen zum Ausdruck.

Es gibt nicht wenige Menschen, die mit jeglicher formalisierten Bildung ihre Schwierigkeiten hatten bzw. haben, schlichtweg zu „verkehrten“ Lernzeiten an „falschen“ Lernorten waren und dadurch eine gewisse Abneigung gegenüber allem pädagogisch Verdächtigen verspüren. Die Annahme, diese Menschen seien lernunfähig oder bildungsfern, trifft schlicht nicht zu. Vielmehr lernen diese anders, und dabei vielleicht sogar mehr für’s Leben („für Hand und Herz“) als für die Schule („Kopf“). Letztlich können diverse Bildungsformen zwischen unterschiedlichen Polen nachgezeichnet werden, die sich gegenseitig ergänzen, überlagern, zeitlich stattfinden und beeinflussen. Das folgende Schaubild demonstriert die Bandbreite von Bildungsformaten, wie sie im Feld des „Alpinen Lernens“ wirken. Siehe Abbildung.

Zusammenspiel von Lernformen und Bildungsorten am Beispiel „Alpines Lernen“.
(Quelle: Orientierungsrahmen Bildung des Deutschen Alpenvereins 2015; vgl. auch BMFSF 2005, S. 130; nach Neuber 2010, S. 15)

2. Bildung im, durch und für den Bergsport

In den vergangenen Jahren wurden eine gestiegene Nachfrage und entsprechende Angebote in außer- und nachschulischen Lernarrangements in der gesamten Lebensspanne festgestellt (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020). Noch nie war Bildung so breit verfügbar wie heute, auch im Bergsport. Worin liegt der besondere Wert „alpinen Lernens“? Was ist die Leistung des Bergsports für das Bildungssystem?

Bildung im Bergsport

Wenn Menschen Bergsport-Aktivitäten nachgehen, so erlernen sie dabei bestimmte Fähigkeiten (z. B. Kraft, Ausdauer, Risikowahrnehmung) und Fertigkeiten (z. B. Spaltenbergung, 3 x 3- Tourenplanung). Bereits vorhandene und informell erworbene Kompetenzen können durch gezieltes Reflektieren, Rückmelden und neue Impulse in formalen Settings oder non-formalen Settings weiter ausgebaut und vertieft werden. Der Bildungswert (z. B. ein „lebenswichtiges“ Risikomanagement sicher anwenden zu können) beschränkt sich dabei nicht darauf, ein Hobby ausführen zu können, sondern ist wie in vielen anderen Sportarten universell, auch außerhalb des Bergsports wirksam.

Bildung durch Bergsport

Durch die Verbindung von Körperlichkeit, Gemeinschaft und Naturerfahrung kann Bergsport die gesamte Persönlichkeit prägen (z. B. Werteentwicklung gegenüber der Natur). Daneben werden Motivation, Emotion geweckt sowie soziale Kompetenzen ein-geübt (Übernahme von Verantwortung, Umgang mit Konflikten), die über die sportliche Aktivität hinaus lebenswirk- sam sein können.

Bildung für den Bergsport

Nicht zuletzt werden in Bildungs- und Qualifizierungsprogrammen der alpinen Organisationen Expertinnen und Experten auf unterschiedliche Aufgaben vorbereitet, die für den Bergsport oder die Leitung der alpinen Organisationen erforderlich sind. Dabei geht es nicht nur darum, dass verbandsinterne Personalressourcen aufgebaut werden. Vielmehr sollen Menschen in die Lage versetzt werden, mit ihren Kompetenzen auch einen gesellschaftlichen Mehrwert zu erwirken (z. B. in Form der Übernahme eines Ehrenamtes).

Sichtungscamp Expedkader Frauen 2020-2022

Dieser Bildungsdreiklang „im – durch – für“ geschieht häufig zeitgleich, überlappend und ineinander verschränkt, also keineswegs voneinander getrennt, chronologisch linear und unabhängig voneinander. Dies gilt es Lehrenden und Lernenden bewusst zu machen. Die jeweiligen Spezifika des „im“, „durch“, „für“ und der formalen, non-formalen, informellen Bildung werden im Sinne eines ganzheitlichen Bildungsansatzes zur optimalen Kompetenzentwicklung sichtbar und nutzbar gemacht.

Denkbare Formen der Umsetzung:

  • Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Bergsportausbildungen reflektieren vor, während und nach Kursen, welche Fähigkeiten und Kompetenzen sie zum eigenverantwortlichen, sicherheits- und erlebnisorientierten Bergsport geführt haben, und stellen diese im Kursverlauf vor (Kurzreferat, Posterpräsentation, Praxisbeispiel o. a.).
  • Teilnehmerinnen und Teilnehmer berichten, demonstrieren nach einem Kurs bzw. zwischen Kursmodulen in ihrer alpinen Peergroup erlernte Fertigkeiten und spiegeln das Feedback in den Kurs (an andere, an die Kursleitung) zurück.

3. Alpine Organisationen als Bildungsinstitutionen

Ähnlich zu Bürgerinitiativen, Kulturvereinen, Naturschutzverbänden, Rettungsorganisationen und Sportvereinen agieren alpine Organisationen als Zusammenschlüsse der Zivilgesellschaft. Sie konstituieren sich als Wertegemeinschaften und streben in ihren Aktivitäten danach, ihre Ideale in die Bevölkerung und an nachfolgende Generationen weiterzutragen. Bildungsarbeit fungiert dabei als „beigeordnete Bildung“ (von Hippel/Stimm 2020), d. h. zunächst nicht als die Kernaufgabe der Organisation.

Jedoch setzen ihre originären Aufgaben (in alpinen Organisationen: Aktivitäten im Gebirge, Bergsport, Naturschutz) zwingend voraus, dass Mitglieder, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre kreativen und innovativen Potenziale einbringen, sich in ihrem Engagement für den Verein bzw. Verband entwickeln und hierzu befähigt werden – somit für’s Lernen leben. Anders als bei staatlichen oder gewerblichen Anbietern, wo Lehrkräfte aus einem Auftrag heraus tätig werden, agieren die Lehrenden aus eigener Motivation. Es sind maßgeblich die in Vereinen und Verbänden organisierten Mitglieder selbst, die Bildungs- und Lernangebote konzipieren, umsetzen und verantworten (Subsidiaritätsprinzip). Ungeachtet allen Idealismus wissen sie um den praktischen Nutzen für diejenigen, die die Angebote in Anspruch nehmen. Selbstbewusst treten sie auch als Dienstleistungsanbieter auf Freizeit- und Bildungsmärkten auf und gehen damit in Konkurrenz zu anderen Anbietern.

Nonformales Lernen und informelles Lernen in Alpinorganisationen, jenseits von Schule und Hochschule, spielen also eine wichtige Rolle für den Kompetenzerwerb und deren Aktualisierung in weiten Teilen der Bevölkerung. Das Grundprinzip bürgerschaftlicher Akteurinnen und Akteure ist die gleichberechtigte Übernahme von Verantwortung zwischen Staat und Gesellschaft, um gemeinsam Fortschritt und Solidarität in bestimmten Lebensbereichen zu realisieren, auch im Freizeitbereich. Freiwilligkeit und am Gemeinwohl orientiertes Engagement sind dabei wichtige Prämissen. Mit einem gewissen Unternehmertum nehmen Bürgerinnen und Bürger Bildungsarbeit selbst in die Hand, ohne damit ausschließlich ökonomische Vorteile erzielen zu wollen (vgl. Schwan, Noschka-Roos 2019). Dies zu verinnerlichen ist wichtig für das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein von alpinen Vereinen und Verbänden.

Wenn Bergsportverbände Bildung und Ausbildung betreiben, tragen sie mit ganz eigenen und besonderen Leistungen zum gesellschaftlichen Lernen bei:

  • Sie nehmen Desiderate in den Blick, die im formalen Bildungsbereich nur wenig Raum finden (z. B. Sportkompetenz und Gesundheit, mündiges Risikohandeln, Naturschutz) und verbinden sie mit ethischen Werten. Des Weiteren werden gesellschaftliche Querschnittsthemen gezielt integriert (z. B. intergenerationelles Lernen, Inklusion, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit).
  • Das gemeinsame Engagement hat Persönlichkeitsbildung zum Ziel. Menschen sollen ermächtigt werden, ihre Stärken zu nutzen, ihre Rechte wahrzunehmen, ihre Interessen zu äußern, an der Gestaltung demokratischer gesellschaftlicher Entwicklungen mitzuwirken.
  • Mit ihrer Bildungsarbeit wollen sie Menschen auffordern, Verantwortung jenseits des Privaten zu übernehmen, die Gegenwart und Zukunft aktiv zu gestalten, in Abgrenzung zu bloßer Unterhaltung oder Konsum.

Während das staatliche Bildungssystem mit seinen ausdifferenzierten Schulen und Universitäten vor allem rechtlich konstituiert und finanziell vom Staat ausgestattet wird, gründen bürgerschaftliche Bildungseinrichtungen auf dem freien Zusammenschluss von Bürgerinnen und Bürgern, auf Festlegungen oder Entscheidungen in Vereinen und Verbänden mit Non-Profit-Orientierung, um sich mit Bildungsangeboten aktiv in die Gesellschaft einzubringen. Für nicht wenige Bildungsorganisationen bedeutet dies, dass sie ihre Existenz fortwährend legitimieren müssen und hier auch umfangreich Energie und Aufmerksamkeit hineinlegen, durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit (z. B. mit Bildungsberichten), im Austausch mit wichtigen Anspruchsgruppen, im Lobbying bei der Trägerorganisation und Ressourcengebern.

Es ist eine der Stärken von bürgerschaftlichen Bildungsorganisationen, für sich selbst unterschiedliche Organisationsformen zu definieren, um Bildungsarbeit (d. h. Prozesse und Inhalte, Qualifikation und Kompetenzentwicklung) immer wieder neu zu erfinden, neue gesellschaftliche Entwicklungen und Themen aufzugreifen, individuelle Zugänge zu ermöglichen. Die alpinen Organisationen sind herausgefordert, mit innovativen und bisweilen auch experimentellen Suchbewegungen zu (re-)agieren. Die vielfältigen Expertisen der Vereins- bzw. Verbandsmitglieder können dabei im Besonderen einbezogen werden, aber auch das Wissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Bildungsveranstaltungen ist nutzbar.

Bürgerschaftliche Bildungsarbeit – auch im Bergsport – ist allerdings kein Selbstläufer: Es sind überwiegend die höher formal Gebildeten (Hinweis: ca. 70 % der Mitglieder in den Alpenvereinen sind Akademikerinnen und Akademiker) und überwiegend finanziell besser Gestellten, die sie in Anspruch nehmen, und nicht alle können und wollen sich mit den besonderen Werten der Alpinverbände identifizieren (vgl. Gien 2019). Hier besteht tatsächlich die Gefahr des Ausschlusses von Menschen in prekären Situationen vom Bergsport.

4. Alpines Lernen im Kontext gesellschaftlicher Transformationen

Corona-Pandemie

Die aktuelle, weltweite Pandemie hat viele Bildungsorganisationen, und damit auch die Alpenvereine und Bergschulen, in ihrem Markenkern getroffen: Die persönliche Begegnung, Nähe, Spontanität, das Community-Erleben durch Bildungsarbeit am Berg (auch in der Kletterhalle), all das ist unter den vergangenen und gegenwärtigen Rahmenbedingungen der Jahre 2020 und 2021 entweder gar nicht, nur bedingt und vielfach nur mit unbefriedigenden Formen wie z. B. Testung, Separierung, Reduzierung möglich.

Die Problematik bezieht sich nicht nur auf die aktuelle Krisenbewältigung, sondern impliziert mittelfristig gravierende Verwerfungen im Sozialgefüge der Menschen: Je länger „Social Distancing“ und Kontakteinschränkungen wirken, desto mehr fehlen die gemeinsamen Erlebnisse, Geschichten und Gesprächsthemen, die die Grundlage für viele Aktivitäten in Sektionen und Verbänden sind. Man bleibt unter sich bzw. seinesgleichen (Bubble-Effekte), die fehlende Begegnung mit anderen Menschen und Kulturen sind möglicherweise relevante Faktoren für zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft (karikatives Schwarz- Weiß-Denken). Die Einschränkungen durch die Pandemie-Bewältigung haben viele wichtige gesellschaftliche Diskurse regelrecht eingefroren, z. B. in der Bürgerbeteiligung, bei selbstorganisierten Gruppen und Initiativen (vgl. Iberer 2021, auch im Folgenden). Die Vorstellung, „nach“ der Pandemie ist alles so wie vorher, wäre eine Illusion (Stichworte: lokale vierte Wellen, jährliche Impfungen, Long-Covid).

Die Umbrüche und Widrigkeiten der Pandemie fordern die Jugend- und Erwachsenenbildung, und damit auch die Bildungsarbeit im, durch und für den Bergsport, in ihren Grundstrukturen heraus, und zwar gleichermaßen operativ, konzeptionell und strategisch (vgl. Ehses/Seitter 2020). Galt es zum Start der Pandemie zunächst, die Krisenbewältigung ad hoc zu meistern (vgl. Eppler 2020), werden jetzt Routinen und Formate für eine gangbare Bildungsarbeit in einer „neuen Normalität“ gesucht. Leitungsverantwortliche, Bildungsreferentinnen, Trainer und Gruppenleiter sehen sich herausgefordert, auf Distanz und durch virtuelle Kommunikation Arbeitsbeziehungen aufrechtzuerhalten (z. B. zu den freiberuflichen Bergführerinnen und Bergführern in den Lehrteams, zu den ehrenamtlichen Trainerinnen und Trainern), trotz Distanz ein Gemeinschaftsgefühl zu generieren sowie laufende Projekte und Aktivitäten im Blick zu halten („Wer macht was?“).

Nach bald zwei Jahren Pandemie- Erfahrung wird sichtbar, dass sich viele Akteure mit Hilfsbereitschaft und Engagement den Herausforderungen stellen, dass manche aber auch auf „Tauchstation“ oder gar verloren gehen. Ein Rückzug ins Private wird deutlich (Social Distancing). Das Lokale (beginnend beim eigenen Balkon und Garten) und Regionale erfährt eine (Neu-)Erfahrung (z. B. als „Run“ in die nahe Natur und auf die kleinen Berge). Es deutet sich an, dass der Stellenwert von Bildung im, durch und für Bergsport mit und vor allem nach „Corona“ eine neue Bedeutung erfahren wird.

Kletterhalle Freimann

Die Bildungsarbeit in alpinen Organisationen wird künftig weiterhin ein wichtiges Feld darstellen, sich aber auch wandeln (müssen):

  • Der Bedarf an kompetenzorientierten Bildungsangeboten wird zunehmen, d. h. Aus-, Fort- und Weiterbildung für volatilere Situationen und Handlungsanforderungen (weniger „Gipfel-Finaldenken“ und „Must have-Touren“, mehr Alternativplanungen auf Tour, mehr Ambiguitätstoleranz).
  • Darüber hinaus werden solche Bildungsangebote bedeutsam, die dazu beitragen, die Pandemie-Erlebnisse (z. B. Verlust von sozialen Bindungen, s. o.) aufzuarbeiten und zu reflektieren v. a. in der Kinder-, Jugend- und Familienarbeit.
  • Bildungsarbeit ermöglicht das (Wieder-) Erleben von Gruppen, v. a. jenseits digitaler Lernformate (v. a. erlebnisorientierte Bildungsformate). Anstatt in Schockstarre zu verweilen, weil keine großen Touren gehen, können kleine Angebote in der Region bewusst digitalfrei unternommen werden („nicht das Maximale ausreizen, sondern das Minimale auskosten“).
  • Es gilt Bildungsangebote zu forcieren, die benachteiligte Zielgruppen und „Bildungsverlierer“ verstärkt in den Blick nehmen, z. B. Sektionen bieten Touren für Menschen in prekären Situationen an. (Beispiele: www.alpenlebenmenschen.de, www.montagnaterapia.it, www.rando- handicap.fr).

Weiterhin muss damit gerechnet werden, dass bestimmte etablierte Formate auf längere Sicht schlicht nicht mehr realisierbar sein werden (z. B. große Personengruppen auf Hütten, Vollauslastung Kletterhallen).

Digitalisierung

Der digitale Transformationsprozess berührt sämtliche Handlungsebenen der organisierten nonformalen Bildung und erfordert vielfältige Gestaltungsnotwendigkeiten, auch im Bergsport (Überblick: Haberzeth/Sgier 2019; Kerres/Buntins 2020). An manchen Stellen droht die normative Kraft des Faktischen die Entwicklungen festzulegen. Im Kontext der Pandemiebewältigung hat der Gebrauch digitaler Formate und Tools zwar rasant zugenommen (v. a. Videokonferenzen und Lernplattformen). Allerdings: Aspekte der Qualität und Professionalität mussten unter Zeitdruck oft zurückgestellt werden, um die Phase der Überlebenssicherung zu meistern. Das, was vielerorts auf die Beine gestellt wurde, erfüllt bestenfalls den Anspruch von „Emergency Remote Teaching“ (Reinmann 2020). Nach der Phase der spontanen Digitalisierung, nach mehr als einem Jahr Pandemie-Bewältigung und den dabei gewonnenen Erfahrungen und erworbenen Kompetenzen, befinden wir uns in einer neuen Phase. Es gilt nun, nicht darüber nachzudenken, wie Bildung digitaler, sondern wie sie mit Hilfe digitaler Medien besser werden kann. Einen Ansatz hierzu könnte folgender Kontrast der didaktischen Möglichkeiten schaffen (vgl. Müller 2014):

  • „Lernen High-Tech“: Digitale Technologien und Methoden haben ihr Potenzial dort, wo das Lernen des Einzelnen unterstützt wird: selbstgesteuert, situativ, iterativ, interaktiv.
  • „Bildung High Touch“: Demgegenüber bleibt es die Aufgabe der Lehrenden, den persönlichen Austausch mit anderen anzustoßen, gut moderierte Foren für Beratung und Begleitung anzubieten, ganzheitliche, auch körperlich akzentuierte Lernerfahrungen zu ermöglichen, Übungen in praxisnahen Szenarien zu organisieren. Im Bergsport impliziert „High Touch“ neben der respektvollen, achtsamen Begegnung zu-dem den Schutz körperlicher Unversehrtheit, z. B. in Gefahrensituationen.

Viele Bildungsprogramme versuchen, die Chancen aus beiden Bereichen zu kombinieren und zusammenzuführen (z. B. über Konzepte wie „Blended Learning“ oder „Flipped Classroom“). Auch werden vermehrt in der Präsenzlehre digitale Medien eingesetzt. Umgekehrt kommen in digitalen Lernumgebungen auch kollaborative Methoden zum Zug. Die Grenzen zwischen „analog“ und „digital“ verschwimmen, die Gleichzeitigkeit von Präsenz- und Online-Lernen (Konzepte wie „Seamless Learning“ oder immersive Lernwelten; vgl. Wong u.a. 2015) könnte perspektivisch weitere neue Bildungsformate ermöglichen. Der Bergsport steht hier gerade am Anfang, Selbstreflexionen und innovative Projekte sind dringend geboten.

Bildung High-Tech – Ja gerne, wenn es unterstützt und hilft und nicht zum Selbstzweck wird (Foto: Silvan Metz/DAV)

Als ein positives Element der Pandemiekrise könnte beispielsweise gelten, sich selbstkritisch zu hinterfragen, ob die traditionelle Form der typischen Wochen- oder Wochenendlehrgänge nicht besser durch Blended-Formate ersetzt oder ergänzt wird, um Lernen nachhaltiger zu gestalten. Was bringt es eigentlich für eine nachhaltige Kompetenzentwicklung, wenn Lehrende ihre Teilnehmenden weder vor noch nach den Lehrgängen jemals wieder zu Gesicht bekommen? In der Ausbildung von Trainerinnen und Trainern, Bergführerinnen und Bergführern besteht zwischen einzelnen Modulen und Lehrgängen in der Regel kein Kontakt, obwohl dies hochsensible Phasen des (informellen) Lernens sind. Diese Zwischenräume könnten punktuell mit digitalen Formaten angereichert werden, die Präsenzlehrgänge könnten „entschlackt“ werden und mehr der Anwendung des zu Hause Gelernten als dem Erlernen selbst gewidmet werden (Flipped-Classroom-Prinzip). Das Großgruppenprinzip des Präsenz-Lehrgangs mit dem starken autoritären Leitungsstil kann durch digitale Kleingruppenarbeit im Peer-Format eine interessante pädagogische Gegenposition einnehmen. Die Beispiele ließen sich weiterführen und der Kreativität sind kaum Grenzen gesetzt.

Bei der Gestaltung und Weiterentwicklung der Bildungsangebote in den zivilgesellschaftlichen Organisationen kommt eine große Bedeutung denjenigen Akteuren zu, die in ihren Vereinen und Verbänden als Referentin und Referent, als Weiterbildungsbeauftragte, Ausbildungs- oder Lehrgangsleitende tätig sind. Sie nehmen eine „intermediäre Funktion“ (Alke/Rauber 2020) zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, Lehrpersonen und Verbandsgremien ein.

Die Aufgabe wird vor allem darin liegen, neben den besonderen verbandlichen Themen auch die digitalen Handlungskompetenzen auszubauen, die Bedarfe und Ideen der Lernenden aufzugreifen und Innovationen voranzutreiben (vgl. Rohs 2020). Eine neue Medientechnik ist relativ schnell organisiert; mehr Anstrengung und Ausdauer benötigt es, um passende, gute Konzepte zu entwickeln und diese zu implementieren. Nicht wenige Lehrende müssen motiviert und qualifiziert werden.

Vielen fehlt Erfahrungswissen und eigene Anschauung. Ebenfalls gilt es die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen aller Lernenden in den Blick zu nehmen. Von den jüngeren Generationen mit ihren rasanten Mediengewohnheiten bis zu denjenigen, die aufgrund mangelnder technischer Ressourcen an den digitalen Lernformen nicht teilhaben können oder eine Abneigung verspüren.

5. Ausblick

Vielfach wurde in der „guten, alten Zeit“ versucht, mit in sich geschlossenen Schulungen und Bildungsgängen den Lernenden neues Wissen schubladenartig zu vermitteln, Fertigkeiten nach Rezept zu schulen und zu prüfen. Nicht selten wurde und wird versucht (auch unbewusst), die eigenen biografischen Bildungserfahrungen aus dem stark prägenden formalen schulischen Kontext in den nonformalen Bereich zu kopieren. Die Heterogenität der Lernenden, die Vielfalt der Ziele und Komplexität und Dynamiken der Themen sowie die „Neue Normalität“ nach und mit der Pandemie erfordern jedoch eine Vielfalt an Methoden- und Programmformaten.

Neben den curricularen Programmen können auch niederschwellige Angebote, Mentoring- und Multiplikatoren-Projekte, Kampagnen usw. das Portfolio der Angebote bereichern. Das besondere Merkmal von Bildungsarbeit in Bergsportverbänden ist es, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus ihrer Komfortzone zu holen, ohne sie dabei zu belehren und zu gefährden. Sie sollte vielmehr in die Selbstkräfte der Menschen vertrauen, die Eigenverantwortung stärken, Mehrfachschleifen ohne Aufsicht in Peerformaten erlauben.

Bürgerschaftliche Akteure (ehrenamtliche Trainerinnen und Trainer, gewerbliche Bergführerinnen und Bergführer) leisten besondere Bildungsarbeit. Durch das unmittelbare Tun ihrer Aktivität (z. B. in Gemeinschaft Sport treiben, Menschen helfen, Natur bewahren) wirken sie in hohem Maße authentisch und geben ihren Mitgliedern, Kundinnen und Kunden Orientierung, um schwierige Herausforderungen zu bewältigen, sei es beim Planen, Organisieren und Durchführen einer Bergtour (Bildung im Bergsport), bei der Persönlichkeitsentwicklung inklusive Transferwirkungen in den Alltag in volatilen Zeiten (Bildung durch Bergsport) und im Engagement für andere im informellen oder nonformalen Setting (Bildung für Bergsport).

Erschienen in der
Ausgabe #117 (Winter 21-22)

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