Free and High: Wo liegt die Zukunft des Spitzen-Alpinismus?
Der folgende Essay ist einer von 18, die im Alpinist 75 (Herbst 2021) unter dem Titel „Die Fackel und das Licht: Die vielen Zukunftsoptionen des Alpinismus“, erschienen sind. Aus dem Englischen übersetzt von Leonore Rothwangl
Was ist der neueste Stand, was ist State of the Art im Alpinismus? Ist es möglich, sich bei einer so persönlichen Beschäftigung zu verbessern?
Natürlich wollen manche von uns noch immer die größten und eindrucksvollsten Wände der höchsten Gipfel der Erde durchsteigen. Aber heutzutage konzentrieren wir uns auf die Feinheiten und vergleichen, was in der Vergangenheit erreicht wurde, mit den aktuellen Fortschritten in Ausrüstung, Technologie und geistiger Haltung. Fortschritt hat viele Gesichter: von der Erschließung neuer Routen (im Sinne eines althergebrachten Verständnisses von Alpinismus) bis zur Begehung bestehender Routen mit einer „sportlicheren“ Herangehensweise – oder eine Kombination beider Ansätze.
Manche wollen jede Seillänge onsight klettern – und falls dieses Ideal nicht erreichbar ist, dann wenigstens frei und „clean“ (Anm. ohne Bohrhaken). Wieder andere messen Besteigungen an der dafür nötigen Zeit und der gewählten Taktik: Musste man sich auf einem Gipfel im Himalaya durch unberührten Schnee wühlen oder hatten andere Seilschaften schon gespurt? Bei der Standortbestimmung und der Beurteilung der voraussichtlichen Entwicklung des Alpinismus vergleichen wir oft unsere eigenen Erfahrungen mit denen unserer Vorgänger*innen und unserer Zeitgenossen und -genossinnen.
Gedicht des Jahrhunderts?
Aber es ist sinnlos, den Wert von alpinen Routen zu quantifizieren und es kann manchmal künstlich anmuten, irgendeine Art von klar definierter Hierarchie auf sie anzuwenden. Die sich so rasch verändernden Eis- und Schneeverhältnisse verleihen den Routen immer neue Formen. Die immer anderen Gewitter und Schneestürme, das Bröckeln von Fels oder Schnee und die Launen der Psyche des Alpinisten verändern die konkreten Erfahrungen.
„Es ist sinnlos, den Wert von alpinen Routen zu quantifizieren.“
Und da Alpinismus eine Art von Kreativität und Kunst ist, wird sich sein Ausdruck in den unterschiedlichen Wahrnehmungen der jeweils Beteiligten immer anders darstellen – je nach Schau der Beteiligten. Und genauso werden die Erzählungen aus dem Alpinismus immer der Interpretation der Leserschaft unterworfen bleiben. Voytek Kurtyka schrieb einmal über seine Besteigung der Shining Wall am Gasherbrum IV: „Einige nannten sie die Besteigung des Jahrhunderts. Aber hat irgendjemand den G IV wiederholt, um unsere Illusion davon zu bestätigen? Außerdem: Macht es Sinn, ein Gedicht zum Gedicht des Jahrhunderts zu erklären?”
Da mein alpinistischer Hintergrund das traditionelle Klettern ist (Anm. in GB versteht sich „traditionelles Klettern” als Klettern mit mobilen Sicherungen), setze ich lieber keine Bohrhaken und hänge lieber nicht in Bohrhaken ein. Und weil ich motiviert und optimistisch bin, will ich so viel wie möglich klettern.
Eine einzelne Seillänge ist befriedigend, aber wie wär’s mit zwei oder zehn? Für mich ist die aufregendste Form des Alpinismus jene, bei der ich die Essenz der Aktivität steigere – im Sinn von höherer Schwierigkeit und im Sinn von größerer Höhe. Stellen Sie sich eine anspruchsvolle Route in den Alpen vor, die alle Disziplinen beinhaltet – Fels, Eis und Mixed – und dann verlegen Sie diese Route auf eine Höhe von 7500 Metern.
2019 gipfelte meine Suche nach technisch anspruchsvollem Höhenbergsteigen in einer neuen Route am 6872 Meter hohen Koyo Zom in Pakistan, die ich gemeinsam mit Ally Swinton eröffnete. Mit Steigeisen kletterten wir steiles Eis und mit Kletterschuhen eine schwierige Route im traditionellen Stil.
Es fühlte sich an, als ob ich die Schwierigkeiten von Gogarth (ein walisischer Felsen in einer zerklüfteten Quarzit-Steilküste über dem tosenden Meer, der für seine abenteuerlichen Routen bekannt ist) und Winterklettern in Schottland (sturmgepeitschte, vereiste Felsen, in denen auch nur drei Seillängen einen ganzen Tag brauchen können) auf einen hohen Gipfel aus rissigem Granit transponiert hätte, der aus den gefrorenen Wellen eines Gletschers emporragte.
Andere haben die gleiche Vision. Im Jahr 2017 sponnen die französischen Alpinisten Benjamin Guigonnet, Helias Millerioux und Frederic Degoulet eine clevere und direkte Route durch eine riesige, über 2000 Meter hohe Wand am Nuptse in Nepal hinauf und überwanden auf diese Art und Weise steiles Eis bis zu einer Höhe von 7000 Metern. Diese Besteigung halte ich für einen Fingerzeig in Richtung Zukunft.
„Ich glaube immer noch, dass es im Kern des Alpinismus darum geht, sich auf das Unbekannte einzulassen und sich den Gegebenheiten eines Gipfels in der Wildnis hinzugeben und die Anforderungen zu erfüllen.“
Stilistisch wurden viele der beeindruckendsten Leistungen jedoch bereits in den 1980ern vollbracht, als Alpinisten wie Voytek Kurtyka und Erhard Loretan Routen free solo auf 8000 Meter hohe Gipfeln in erstaunlich schnellen Zeiten begangen. Sie kletterten oft die ganze Nacht hindurch und nahmen nicht einmal Biwakausrüstung mit. Seitdem hat es nur wenige Nachahmer dieser „Night Naked“-Herangehensweise gegeben.
Gefühl für Stil und Ethik
Einige der prominenteren Einzelbegehungen in großen Höhen bleiben umstritten, da die Beweisfrage ungeklärt ist. Alles in allem scheint der wahrhaft abenteuerliche Aspekt des Alpinismus mehr und mehr zu verschwinden, während die Kletterer von heute neue technische Schwierigkeiten meistern. Die meisten Seilschaften sind aber nicht mehr wochenlang zu Fuß unterwegs, um versteckte Täler oder mythische Gipfel zu erreichen.
Satellitenbilder, weltumspannende Kommunikationsnetzwerke und Hubschrauber haben dazu geführt, dass sich Kletterer immer verbundener fühlen und viel weniger „draußen und weit weg”. Für mich bewahrt das freie Klettern in großen Höhen ein Kontinuum, das aus der Vergangenheit erwachsen ist, und führt dieses fort. Es tradiert die Motivation der ersten Alpinisten, nämlich die Motivation, die Gipfel zu erreichen.
Es steigert die erreichten Schwierigkeitsgrade und bewahrt zugleich ein Gefühl für Stil und Ethik. Ich glaube immer noch, dass es im Kern des Alpinismus darum geht, sich auf das Unbekannte einzulassen und sich den Gegebenheiten eines Gipfels in der Wildnis hinzugeben und die Anforderungen zu erfüllen.
„Eine der größten Herausforderungen des Bergsteigens liegt im Umgang mit den natürlichen Hindernissen, die ein Berg mit sich bringt”, schrieb der kanadische Alpinist Marc-André Leclerc einmal. Wenn ich in einer Seillänge stürze oder auf Hilfsmittel zurückgreife, so bedeutet das für mich, dass es mir selbst an etwas mangelt. Die Fähigkeit, frei zu klettern zeigt, dass ich das Können habe, mich geschmeidig nach oben zu bewegen.
Hier möchte ich auch in Zukunft hin: Die Sonne gleitet über mir durch den klaren Himmel und die dünne Luft strömt durch meine Lungen, während mein Partner und ich uns auf eine 7000 Meter hohe Wand zubewegen, die so steil ist, dass kaum Schnee auf ihr liegen bleibt. Mich ziehen Routen an, über deren Unwahrscheinlichkeit ich nur staunen kann – jene Routen, die „gerade noch ausreichend“ vorhanden sind, um sich auf ihnen zu bewegen – so wie ein einzelner Streifen Eis oder die dunkle Linie eines Risses – und wo Schnee, der sich angesammelt hat und den wir auf unserem Weg zur Seite wischen, einfach ungehindert schwebend auf einen 1000 Meter unter uns ruhenden Gletscher fällt.