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07. Jan. 2025 - 7 min Lesezeit

Filmkritik: Wanda Rutkiewicz und der Preis der Höchstleistung

Die Höhenbergsteigerin Wanda Rutkiewicz bestieg vor ihren polnischen Mitstreitern den Mount Everest und als erste Frau den K2 – und zahlte dafür einen hohen Preis. Der Film The Last Expedition begibt sich auf die Spuren einer Pionierin, die immer auf der Suche blieb – bis sie selbst verschwand.

Der neunte Achttausender sollte ihr letzter sein. Am 12. Mai 1992 wurde Wanda Rutkiewicz zum letzten Mal am Kangchendzönga (8586 m) gesehen. Manche sagen, sie sei am Berg gestorben, andere vermuten, sie habe sich in ein verborgenes tibetisches Frauenkloster auf der Rückseite des Kangchendzönga zurückgezogen. In ihren Tagebüchern schrieb sie immer wieder über ihre große Sehnsucht nach innerem Frieden und die tiefe Erschöpfung – nicht nur von den Anstrengungen am Berg, sondern auch von den endlosen Kämpfen um Respekt.

In dem Dokumentarfilm The Last Expedition begibt sich die polnische Regisseurin und Alpinistin Eliza Kubarska im Himalaya auf die Spuren von Wanda Rutkiewicz – einer Pionierin, die Alpingeschichte schrieb und mit ihren Achttausender-Erfolgen nicht nur Ruhm erntete, sondern vor allem auf Widerstand stieß.

The Last Expedition von Eliza Kubarska porträtiert die polnische Alpinistin Wanda Rutkiewicz. Filmstart: 30. Januar 2025

Filmkritik und Porträt: Die Geschichte von Wanda Rutkiewicz

„Ich hatte von Geburt an eine Eigenschaft, die mein Leben nicht einfacher machte“, hört man die Stimme von Wanda im Dokumentarfilm sagen. „Ehrlich gesagt, bin ich nie zufrieden mit dem, was ich habe. Und was ich habe, lerne ich erst zu schätzen, wenn ich merke es zu verlieren. Ich lebe nicht im Hier und Jetzt – ich lebe in der Vergangenheit oder auf dem Weg in die Zukunft. Ich bin immer auf der Suche.“ 

In alten Archivaufnahmen bewegt sich die großgewachsene, braunhaarige Frau über nebelverhangene, düstere Weiden unweit einer kleinen Lodge im Himalaya. Die Aufnahmen stammen von Wanda selbst, die ihre Expeditionen gefilmt, Bücher geschrieben und Audio-Tagebuch geführt hat. 

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Wanda Rutkiewicz. Foto: TLE©RiseandShine-Cinema

Über Wanda: Ein Leben in den Extremen

Die 1943 geborene Polin begann in jungen Jahren in der Hohen Tatra mit dem Sportklettern. Schon mit Mitte zwanzig durchstieg sie zusammen mit Halina Krüger-Syrokomska als erste Frauenseilschaft die mächtige 1000-Meter-Wand des Trollryggen-Ostpfeilers in Norwegen. Mit Anfang 30 gelang ihr die Winterbegehung der Eiger-Nordwand, kurz darauf leitete sie eine Expedition auf den Gasherbrum III (7952 m) – den damals höchsten noch unbestiegenen Berg und zugleich die höchste Erstbesteigung einer Frau. Die Rekorde gingen weiter: 1978 erreichte die Alpinistin auf dem Mount Everest – noch vor ihren polnischen Mitstreitern. Als erste Frau der Welt stand sie schließlich 1986 auf dem K2

Doch keiner weiß, welchen Preis ich dafür zahlen werde.

Filmplakat_TLE©RiseandShine Cinema
Filmplakat: TLE©RiseandShine Cinema

Der Respekt der polnischen Bergsteigerszene blieb aus, die Presse kritisierte. Nicht ihre Leistungen, sondern vielmehr ihre Persönlichkeit. „Überdurchschnittlich gute Bergsteiger haben ein Ego, ein Leben und Pläne. Sie haben es nicht nötig, auf eine Expedition mit Wanda zu gehen, denn sie nimmt die Leute nur als Unterstützung für sich selber mit. Sie stehen in ihrem Schatten“, sagt der polnische Bergsteiger Aleksander Lwow noch Jahre später im Interview mit der Regisseurin Kubarska. So gelingt es der Regisseurin, den einstigen Kampf um Anerkennung für die Zuschauer lebendig werden zu lassen. Der Kampf, den Wanda nie wollte, scheint auch Jahre später noch präsent zu sein. 

„Wir bekannten Bergsteiger der 80er Jahre hatten unsere eigenen Pläne. Das heißt nicht, dass wir feindselig waren, weil sie vor uns auf dem Mount Everest und dem K2 war. Manchmal machten wir uns über sie lustig – aber wir sagten es ihr ins Gesicht.“ Wenn Wanda Schwierigkeiten mit der Community hatte, habe das an ihrem Charakter gelegen, schließt Lwow das Interview ab. 

Vom Ehrgeiz zerfressen? Wanda Rutkiewicz auf einer ihrer Expeditionen. Foto: TLE©Risenandshine Cinema
Vom Ehrgeiz zerfressen? Wanda Rutkiewicz auf einer ihrer Expeditionen. Foto: TLE©Risenandshine Cinema

Szenenwechsel, 1982: Wanda ist mit einer Frauen-Expedition am K2. Sie hockt im Basislager, ihr Team ist wegen des Windes nicht motiviert aufzubrechen. Die Chancen auf einen Gipfelerfolg schwinden. „Es ist verlockend, einfach ganz allein rauszugehen“, sagt Wanda sichtlich frustriert in die Kamera. Zerfressen vom Ehrgeiz? Die Regisseurin Kubarska lässt die Interviews und Filmaufnahmen unkommentiert. Stattdessen drängt sich bei einem selbst die Frage auf, ob Sturheit, Ehrgeiz und Egoismus beim Höhenbergsteigen nicht zum Spiel gehören. Eigenschaften, die unabhängig vom Geschlecht notwendig sind, um anspruchsvolle Ziele am Berg zu erreichen. 

Wäre Wanda also ein Mann gewesen, hätten ihr die Bergsteiger-Ikonen der 80er Jahre wie Lwow genauso wie die Journalisten diese Eigenschaften ebenso vorgeworfen?

Ein Ausflug in die Psychologie 

Forschungsarbeiten zeigen, dass Frauen, die die gleichen Eigenschaften wie ihre männlichen Kollegen besitzen, in männerdominierten Bereichen häufig abgewertet werden. Zeigen weibliche Führungskräfte beispielsweise vermeintlich männlich konnotierte Eigenschaften wie Durchsetzungsvermögen und Ehrgeiz, werden sie von ihren Kolleginnen und Kollegen zwar als kompetent, aber weit weniger sympathisch bewertet als Männer mit den gleichen Eigenschaften. Die Psychologieprofessorin Rudman entdeckte diese Backlash-Effekte erstmals in den 1990er Jahren. Sowohl Männer als auch Frauen bestrafen Verhalten, das von klassischen Rollenbildern abweicht.

Aus: Wir sind kein Stereotyp. Ein Artikel über internalisierten Sexismus in der Psychologie Heute

„Ich denke, dass selbstständige Frauen ihre männlichen Partner verunsichern. Vielleicht liegt das an der unbewussten Angst, dass ich den Gipfel und den ganzen Ruhm auf ihre Kosten erreichen könnte“, sagt Wanda. Die Frauenexpedition im Jahr 1984 am K2 scheiterte zunächst. Doch Wanda gab nicht auf: Vier Jahre später, nach der Besteigung des Nanga Parbat, erreichte die Polin 1986 schließlich den Gipfel des K2. 

Der Preis, den wir zahlen

Im Laufe ihrer Bergsteigerkarriere hat die Alpinistin über 30 Seilpartner und Freunde am Berg verloren, unzählige Freundschaften zerbrachen. „Dies ist der traurige Preis, den wir zahlen müssen“, erzählt sie in der Dokumentation immer wieder. Auch die polnische Bergsteigerin Dobrosława „Doba“ Miodowicz-Wolf starb bei Wandas erfolgreicher K2-Expedition – und Wanda geriet erneut ins Visier der Journalisten: „Sie sind alle gestorben, weil sie zurückgelassen wurden“, bricht es aus einem Journalisten im Fernsehinterview heraus. Dass Doba von einer Lawine mitgerissen wurde, möchte der Journalist nicht hören. Er bleibt bei seinem Narrativ: „Man hat sie im Stich gelassen.“ Die Tragödie von 1986 war übrigens Teil des tödlichsten Jahres am K2 mit 13 Toten. Die Saison ging als „Schwarzer Sommer“ in die Alpingeschichte ein.  

Wanda und ihr Partner Kurt Lyncke, der nur wenige Meter hinter ihr in den Tod stürzte. Foto: TLE©RiseandShine-Cinema
Wanda und ihr Partner Kurt Lyncke, der 1990 nur wenige Meter hinter ihr in den Tod stürzte. Foto: TLE©RiseandShine-Cinema

Auch abseits des Bergsteigens war Leben der Polin von tragischen Schicksalsschlägen gezeichnet. (ACHTUNG SPOILER!) Ihr Bruder wurde vor ihren Augen von einer Landmine in die Luft gerissen, ihr Vater wurde von einem Obdachlosen mit einer Axt ermordet. 1990 verlor sie ihre große Liebe, den deutschen Höhenbergsteiger und Arzt Kurt Lyncke, der bei der gemeinsamen Besteigung des Broad Peak nur wenige Meter hinter ihr in den Tod stürzte.

Karawane der Träume

Wandas Zeichnungen von der Annapurna Südwand. Foto: TLE©RiseandShine-Cinema
Wandas Zeichnungen von der Annapurna Südwand. Foto: TLE©RiseandShine-Cinema

Während sie die Shishapangma (im Jahr 1987), den Gasherbrum II (1984) und Gasherbrum I (1985) bereits zuvor erfolgreich bestiegen hatte, setzte sie ihr Projekt 1991 mit dem Cho Oyu und der Annapurna I über die Südwand fort – beide im Alleingang. Letztere Besteigung wurde jedoch zum umstrittenen Erfolg: Trotz der offiziellen Anerkennung durch den Bergsteigerverband zweifelten zunächst andere Expeditionsteilnehmer und später auch die Presse an der Besteigung der Annapurna. Körperlich erschöpft und seelisch erschüttert reiste Wanda im Mai 1992 dennoch zum Kangchendzönga. Kurz unterhalb des Gipfels wurde sie zum letzten Mal gesehen.  

Über die Regisseurin und die Kunst des Erzählens

Die Filmregisseurin Eliza Kubarska wurde u.a. durch Filme wie "K2 Touching the Sky" oder  "The Wall of Shadows" bekannt. Foto: TLE©Verticalvisions
Die Filmregisseurin Eliza Kubarska wurde u.a. durch Filme wie „K2 Touching the Sky“ oder „The Wall of Shadows“ bekannt. Foto: TLE©Verticalvisions

Eliza Kubarska ist eine polnische Alpinistin und renommierte Filmemacherin. Für die Dokumentation forschte sie in Archiven, den Gassen von Kathmandu, sprach mit nepalesischen Yak-Hirten und fand Nonnen in tibetischen Klöstern, die Wanda gesehen haben wollen.

Neben Interviews mit ihren damaligen Begleitern nutzt Kubarska Wandas alte Archiv- und Audioaufnahmen, die dem Dokumentarfilm eine beeindruckende Tiefe und Nähe verleihen. Die Regisseurin erzählt dabei keine Heldengeschichte und verzichtet auf bildgewaltige 5K-Himalaya-Aufnahmen. Stattdessen schafft sie es, das Leben, die Ambitionen und die Zweifel einer außergewöhnlichen Alpinistin darzustellen – und selbst zum Nachdenken anzuregen.

Die Dokumentation zeigt einen Menschen, der wie so viele andere in den Bergen das sucht, was kein Gipfel geben kann: wirkliche Zufriedenheit.