Faktor Mensch und Entscheidungsprozesse – neue Betrachtungswinkel?
Im folgenden Beitrag stellen Anne van Galen und John van Giels – beide hauptberuflich Beraterinnen bezüglich Resilienz & Risikomanagement in verschiedenen Industriesparten und Mountain-Leader – praktische Einblicke und neue Anwendungshilfen vor, die im risikoreichen Umfeld der Berge bzw. des Bergsteigens die Möglichkeit bieten, systematisch bessere Entscheidungen zu treffen.
Der erste Teil dieses Artikels befasst sich mit Methoden, mit deren Hilfe wir besser verstehen, was unter der Oberfläche von Einzel- und Gruppenentscheidungen abläuft. Im zweiten Teil werden van Galen und van Giels dann ein Entscheidungsprotokoll mit fünf Schritten vorstellen, das mentale und soziale Fehleinschätzungen bewusst machen kann.
Alle Inhalte basieren auf Forschungsergebnissen und Erfahrungen, die in anderen risikoreichen Branchen und Berufen wie der Schwerindustrie, der Luftfahrt und der Ausbildung von Polizeisondereinheiten gesammelt wurden.
Einleitung
Wir wollen im Folgenden einen neuen Ansatz vorstellen, der verdeutlicht, wie sich der „Faktor Mensch“ auf den Führungs- und Entscheidungsfindungsprozess sowohl individuell für den einzelnen Menschen als auch auf der Gruppenebene auswirkt. Ein Feld, das wahrscheinlich noch dynamischer und komplexer ist, als die Prozesse, die sich in der Schneedecke oder Wetterentwicklung abspielen.
Zur Wiederholung: Was versteht man unter Entscheidungsfallen?
Die gehirneigenen Funktionen können unsere Entscheidungen verzerren. Um bewusst verschiedene Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen und Risiken abzuschätzen, benötigt das Gehirn viel Energie. Es tendiert daher dazu, den „Weg des geringsten Widerstandes“ zu wählen.
So verwenden wir unbewusst bewährte Routinen, so genannte Heuristiken, um mit der Komplexität einer Situation fertig zu werden – und normalerweise funktionieren diese sehr gut. Da diese Abläufe jedoch größtenteils außerhalb unseres Bewusstseins stattfinden, beinhalten sie auch das Risiko unbewusster Fehler (auch als „Verzerrung“ – engl. Bias – bezeichnet).
Namhafte Wissenschaftler wie beispielsweise Amos Tversky und der Nobelpreisträger Daniel Kahneman haben eine Reihe von Fehlern, die in unseren Denkprozessen während der Entscheidungsfindung auftreten können, nachgewiesen. Diese sind aber fest in unserem Denken verankert, sodass wir sie oft nicht erkennen. Für uns bedeutet das, dass diese Fehleinschätzungen negative Auswirkungen – beginnend bei der Tourenplanung zu Hause über eine fundierte Risikobewertung im Gelände bis hin zu allen anderen Vorgehensweisen – haben können.
Ian McCammon veröffentlichte bereits im Jahr 2002 einen Artikel, der zeigt, dass viele Opfer von Lawinenunfällen bei ihren Entscheidungen durch mentale Fallen beeinflusst wurden. Bekannte Beispiele für solche Entscheidungsfallen nach McCammon sind Folgende (allgemein bekannt unter der Abkürzung FACETS):
- F = Familiarity (Vertrautheit)
In der Vergangenheit angewandte, vertraute Handlungen beeinflussen unser Verhalten in der Zukunft. Ein Hang, den wir schon Dutzende Male hinuntergefahren sind und der dabei nie abgegangen ist, verleitet uns dazu, ihn trotz offensichtlicher Lawinenwarnzeichen wieder mit Ski hinunterzufahren.
- A = Acceptance (Akzeptanz)
Bezeichnet den Drang, sich an Aktivitäten zu beteiligen, um so durch Menschen, die wir schätzen oder respektieren, wahrgenommen zu werden. In dieser Situation möchten wir andere in der Gruppe beeindrucken, was dazu führen kann, dass wir offensichtliche Warnzeichen übersehen.
- C = Consistency (Konsistenz)
Entscheidungen sind viel einfacher, wenn wir sie unverändert wiederholt (konsistent) und entsprechend früherer Entscheidungen anwenden. Wir sind entschlossen, diesen einen Steilhang zu fahren, egal unter welchen Umständen.
- E = Experte Halo (Vermeintliches Expertenvertrauen)
Blindes Vertrauen auf einen informellen Führer, der wichtige Entscheidungen für die Gruppe trifft.
Er oder sie kann aber aus unterschiedlichen Gründen möglicherweise gar nicht die bestmögliche Entscheidung treffen.
- T = First tracks (Erste Spuren)
Die Heuristik, auf die sich dies bezieht, beschreibt die Begrenztheit von Ressourcen im Verhältnis zu den Chancen/zur Häufigkeit und das Gefühl, eine günstige Gelegenheit zu verpassen. Für den Off-Pisten-Skifahrer ist das beispielsweise der „Tiefschneerausch“. Das heißt, wir wollen als Erste den unberührten Pulverschneehang abfahren und ignorieren dabei offensichtliche Lawinenwarnzeichen.
- S = Social Facilitation (Soziale Geborgenheit)
Die Anwesenheit anderer Personen erhöht unsere Risikobereitschaft. Wir sehen bereits frische Spuren in dem Hang, den wir auch abfahren möchten. Selbst wenn die Lawinengefahr hoch ist, gehen wir automatisch davon aus, dass er sicher ist.
Natürlich ist dies keine vollständige Auflistung aller Möglichkeiten, bei denen unser Entscheidungsfindungsprozess unbewusst beeinflusst werden kann. Wikipedia bietet hier eine wesentlich umfangreichere Liste sogenannter „kognitiver Verzerrungen“, wobei die Forschung in diesem Bereich noch längst nicht abgeschlossen ist. Darüber hinaus gibt es noch viele weitere mentale, emotionale oder körperliche Einflüsse, die unsere Entscheidungsfindung bestimmen können (siehe dazu auch die Checkliste weiter unten).
In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde Bergsteigerinnen und Skifahrern zunehmend bewusst, dass der Faktor Mensch eine wichtige Rolle sowohl bei der Identifizierung von Risiken als auch bei der Entscheidungsfindung spielt. Mithilfe mehrerer verschiedener „Checklisten“ (z.B. 3×3, FACETS, SOCIAL usw.) wurden sie dazu angehalten, Faktoren wie Gruppengröße, Fähigkeiten der Teilnehmer, Ausrüstung, Zeitplan, Taktik, Gruppenerwartung und Zielsetzung, Beobachtungsfehler, Kommunikation und Führungsstil mitzuberücksichtigen.
Diese hilfreichen Checklisten können vor und während der Bergtour verwendet werden. Leider wird aber oft erst nach einem Unfall oder Beinahe-Unfall erkannt, dass der Gebrauch einer solchen Checkliste hilfreich hätte sein können, um eine gefährliche Situation zu vermeiden. Es nützt also nichts, die Checkliste lediglich mitzuführen; wir müssen uns intensiver damit beschäftigen. Beispielsweise um herauszufinden, unter welchen Umständen schlechte Entscheidungsfindung wahrscheinlicher ist. Welche Faktoren motivieren oder demotivieren Menschen, ein erhöhtes Risiko einzugehen?
Nehmen wir als Beispiel einen Bergführer, nennen wir ihn Christian:
Christian führt vier hoch motivierte und gut zahlende Tourenskifahrer mit einer hohen Erwartungshaltung auf einer anspruchsvollen Skitour. Auf der Tour erreichen sie eine Stelle, an der Christian entscheiden muss, ob er einen 37 Grad steilen, nordexponierten Pass überqueren kann oder nicht. Die Lawinenstufe ist mit 2 bewertet. Es besteht ein Altschneeproblem und aus Nordwesten ziehen Wolken auf. Die Entscheidung, den Pass nicht zu überqueren, würde bedeuten, dass die Gruppe den Rest des Tages in einem teuren Taxi verbringen muss und einen spektakulären Skitag verpassen würde. Das Überqueren würde die Chance auf eine einmalige Abfahrt im Pulverschnee ermöglichen. Im Anschluss warten als Belohnung das Bier in der Hütte auf der anderen Seite und natürlich die Anerkennung für Christians professionelle Führungsfähigkeiten.
Der Führer verfügt über alle notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten für eine angemessene Risikobewertung, aber in welchem Umfang wird er diese anwenden? Wie wird er die Ergebnisse seiner Risikobewertung abwägen und bewerten? Wie in bergundsteigen #97 knapp formuliert wird:
„Die größte Fehlerquelle bleiben auch bei dieser erprobten (Achtung Lawinen) Methode wir Anwender selber. Viele psychologische Gründe halten uns von einem konsequenten Abarbeiten des Mantras ab: von einfacher, leichtsinniger Schludrigkeit bis hin zur autonomen Persönlichkeitsstruktur.“
In die oben beschriebene Situation kann eigentlich jeder geraten, der in den Bergen unterwegs ist. Selbst hoch qualifizierte Lawinenprofis und Bergführer tauchen regelmäßig im dunklen Teil der Unfallstatistiken auf. Die Sterblichkeitsrate für Bergführer liegt weit über dem Durchschnitt anderer Berufsgruppen. Das bedeutet aber auch, dass es einen besonderen Anreiz geben muss, der dazu verleitet, erhöhte Risiken einzugehen.
„Es ist einfacher, im technischen Bereich zu arbeiten“
Fehler bei der Entscheidungsfindung beim Menschen können in verschiedenen Phasen des Entscheidungsprozesses auftreten: Bei der Festlegung des Ziels, der Planungs- und Vorbereitungsphase, bei der Beurteilung der tatsächlichen Geländebedingungen, beim Abwägen der verschiedenen Faktoren mithilfe einer Risikomanagement-Hilfe und bei der abschließenden Entschlussfassung. Auch in dem anschließenden Lernprozess sowohl auf individueller als auch auf Gruppenebene können Fehler auftreten.
Der „Faktor Mensch“ geht weit über das bloße technische Können, wie beispielsweise das Wissen über Schneestabilitätstests oder Such- und Rettungstechniken, hinaus.
Sebastien Escande, Leiter der Berufsbildungsprogramme des französischen Verbandes für Schnee- und Lawinenforschung (ANENA), formuliert es so: „Manchmal steuert uns etwas Unbewusstes, etwas, was unseren Entscheidungsprozess beeinflusst, sodass wir von einer logischen, gut analysierten Entscheidung abweichen und einen Entschluss treffen, der eigentlich unschlüssig ist mit dem, was wir offensichtlich feststellen sollten.“
Escande erklärt weiter: „Die Schwierigkeit, vor allem bei der Fortbildung von erfahrenen Bergführern und anderen Fachleuten, liegt darin, eine Kultur der Expertise zu durchbrechen, die auf savoir-faire basiert – mit anderen Worten, auf einer Kombination von Wissen und Erfahrung. Dies ist vor allem dann kritisch, wenn diese Erfahrung möglicherweise jahrelange unvollkommene Entscheidungen und reines Glück beinhaltet. Wenn wir über menschliches Verhalten sprechen, fühlen sich Menschen in ihrer Überzeugung und in ihren Gewohnheiten oft etwas angegriffen. Es ist einfacher, im rein technischen Bereich zu arbeiten.“
Unser Ansatz, den wir in diesem Artikel vorstellen, ist handlungsorientiert und wird hoffentlich weitere Diskussionen und Entwicklungen im Umgang mit dem Faktor Mensch auslösen. In den nächsten zwei Abschnitten wollen wir Folgendes behandeln:
Teil 1: Wir benennen die Vorteile eines strukturierteren und individuellen oder gruppenspezifischen Ansatzes, indem „Ausschlussverfahren und dessen schwache oder blinde Flecken“ in den verschiedenen Phasen des Entscheidungsprozesses berücksichtigt werden und erweitern diese Einsicht auf die Gruppenebene mit dem „Partnercheck“-Ansatz.
Teil 2: Wir stellen einen neuen Ansatz für bessere Entscheidungsfindung anhand eines praktischen 5-Schritte-Entscheidungsprotokolls vor, welches ursprünglich für die Hochrisikobranche entwickelt wurde, um psychische und sozialbasierte Fehlentscheidungen zu vermeiden und (Zeit-)Druck zu bewältigen.
Wir haben diesen Artikel speziell für professionelle Bergsteiger verfasst. Diese Gruppe ist Risiken in den Bergen häufig und über längere Zeit ausgesetzt, sodass sich deren Denk- und Handlungsgewohnheiten möglicherweise schon in der täglichen Praxis verfestigt haben.
Wer lange genug in den Bergen unterwegs ist, wird sicherlich früher oder später mal in eine Situation geraten, in der mehrere ungünstige Umstände aufeinandertreffen, welche aber nicht offensichtlich sind und daher leicht unterschätzt werden können.
Das Hilfsmittel, welches wir im Folgenden vorstellen, ist jedoch nicht nur für Spezialisten entwickelt worden, sondern für alle, die ihr Risikomanagement in einem alpinen Umfeld verbessern möchten.
Teil 1: Untersuche dein „persönliches Schneeprofil“
Verwendung psychometrischer Hilfsmittel
Wie erkennen wir frühzeitig mögliche Risikosituationen, anstatt uns erst später der Gefahr bewusst zu werden?
Auf der körperlichen und/oder emotionalen Ebene verändert sich unser Zustand ständig. Denken wir beispielsweise an unser Energieniveau, Erregungszustände, Angst, Unsicherheit, Euphorie und Müdigkeit. Auf einer eher psychologischen Ebene gibt es Antriebe wie das Verlangen nach Anerkennung, Stolz, der Wunsch, der Beste zu sein, einfach nur den Pass zu erreichen, Zurückhaltung oder das Bedürfnis, anderen Personen zu imponieren.
Auch auf der Gruppenebene spielt sich unter der Oberfläche viel ab. Wir müssen erkennen – oder spüren –, wenn die Gruppe unkontrollierbar und undiszipliniert wird oder im Gegensatz dazu sehr ruhig, lethargisch und alle Entscheidungen ohne zu hinterfragen akzeptiert.
Wir schlagen daher einen strukturierteren Weg der Selbstbeobachtung vor, der uns helfen soll, unsere eigenen blinden Flecken bei der Entscheidungsfindung zu umgehen. Dies kann mehr als nur eine Checkliste erfordern. Aufmerksamkeit ist Voraussetzung, um Risiken zu identifizieren und zu erkennen. Das bedeutet, ständig zu beobachten, zu denken, zu reflektieren, zu fühlen oder intuitiv zu erfassen, was sich draußen im Gelände, in einem selbst und in der Gruppe abspielt.
Beginnen wir also damit, uns zuerst selbst zu betrachten. Sehen wir Risiken und Herausforderungen als etwas Positives oder schrecken sie uns ab? Variiert das in bestimmten Situationen? Was erhöht und was reduziert unsere Risikobereitschaft? Wissen wir, wo, wann und in welchen spezifischen (sozialen) Umgebungen (Gruppen) wir eher Fehler machen?
Das sind viele schwierige Fragen. Wie die Forschung zeigt, beeinflussen die unterschiedlichen sozialen Umstände, d.h. vor allem die Gruppe, mit der wir unterwegs sind, unsere Risikobereitschaft und unsere Entscheidungsfindung. „Der soziale Vergleich kann die Logik, die wir in der Lawinenkunde gelernt haben, überlagern“. Und wie beeinflussen unsere eigenen persönlichen Eigenschaften unsere Entscheidungen? Diskutieren wir die eigene Sichtweise jemals mit anderen?
In diesem Abschnitt unseres Artikels möchten wir die Vorteile eines gründlicheren Erkundens, Austausches und Lernens aus unseren eigenen möglichen Fehleinschätzungen und blinden Flecken in unserer Wahrnehmung, Risikobereitschaft und Entscheidungsfindung aufzeigen.
Wir wollen im Folgenden drei Stufen betrachten, welche das Handeln von Führern bzw. informellen Führern maßgeblich beeinflussen können:
- Persönlichkeits- und Selbsteinschätzung
- Praktische Anwendung: Beurteilung unseres Geisteszustandes, unserer Gefühle/Denkweisen und möglichen Ablenkungen während des Tages in den Bergen
- Evaluation danach: Reflexion und Lernen
1. Stufe: Persönlichkeits- und Selbsteinschätzung
Wir empfehlen – in einem gewissen Rahmen – zu Beginn von Alpinausbildungen für Fachleute auch eine Persönlichkeitsbewertung durchzuführen. Es gibt zahlreiche praktische, fragebogengestützte Persönlichkeitsmodelle auf dem Markt, wie z.B. „Profile Dynamics Motivational Scan“, „Insides“, „DISC“, „MBTI“ usw. Diese Modelle werden häufig in der Management- oder Organisationsentwicklung eingesetzt.
Für unseren Bereich ist es wichtig, dass ein Persönlichkeitstest folgende Einblicke gewährt:
- Entscheidungsverhalten von Personen in normalen Situationen sowie unter (extremem) Stress.
- Das persönliche Verhältnis zum Risiko: Risikobereitschaft & Risikovermeidung.
- Das persönliche Bemühen, sich an den vereinbarten Entscheidungsfindungsprozess zu halten.
- Der persönliche Drang, aus komplexen Erfahrungen und Situationen zu lernen.
- Die persönliche „Stabilität“ (z.B. können manche Menschen häusliche Probleme sehr gut ausblenden, wenn sie in den Bergen sind, während andere von diesen weiter beeinflusst werden).
Mögliche Fehler in dieser Art von Tests können durch falsche Selbsteinschätzung entstehen. Manchmal geben wir Eigenschaften an, die wir haben möchten, anstatt solche, die wir tatsächlich besitzen. Durch den zusätzlichen „360-Grad-Austausch“ einzelner Profile innerhalb einer Gruppe oder eines Teams von Kollegen oder Freunden, die sich gut kennen, kann das aber kompensiert werden. Wir haben bereits umfangreiche Erfahrung mit diesem Ansatz gesammelt, z.B. bei Polizei-Sondereinheiten und bei Entscheidungspositionen in der chemischen Industrie.
Das Ergebnis eines solchen Tests kann wertvolle Informationen für die Reflexions- und Entscheidungsfindungsentwicklung liefern, wie es im nächsten Teil dieses Artikels vorgestellt wird.
Der perfekte Test ist wahrscheinlich noch nicht verfügbar. Um pragmatisch an den Start zu gehen, haben wir uns für die „Profil Dynamics Motivational Scan-Methode“ entschieden, da diese die Präferenzen einer Person nicht nur auf einen Typ oder ein Cluster bezieht. Sie bietet einen tieferen und differenzierteren Einblick in die Motivation einer Person, einschließlich entgegengesetzter Dränge oder Konflikte.
Doch unabhängig davon, welcher Test gewählt wird, das erstellte Profil sollte nur als Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen dienen und nicht als die absolute Persönlichkeitsbeschreibung verstanden werden.
Wodurch wird unsere Handlung motiviert?
Menschen motivieren sich auf unterschiedliche Art und Weise. Das zeigt sich in unterschiedlichen Kombinationen von Vorlieben und Neigungen bezüglich Herausforderungen, Risikobewertungen und Nervenkitzel. Das hat natürlich Auswirkungen auf die Tourenplanung und -ausführung, die Art zu strukturieren und Entscheidungen zu treffen oder nach anderen Perspektiven zu suchen und aus früheren Erfahrungen zu lernen. In diesem Zusammenhang wird der Begriff „Antriebsmuster“ verwendet, weil er als Indikator anzeigt, wie tägliches, oft unbewusstes und automatisiertes Verhalten in einer Person oder in der Gruppe ablaufen kann.
Das Profile-Dynamics-Modell von Graves identifiziert sieben Individuum- bzw. gruppenorientierte Antriebsmuster, die das Denken und Handeln von Menschen maßgeblich bestimmen. Diese sieben Antriebsmuster, die damit zusammenhängenden Werte und das entsprechende Verhalten werden jeweils mit einer eigenen Farbe gekennzeichnet (Abb. 1).
Vorteile eines Persönlichkeitstests
Das Ziel eines solchen Tests ist es, den Teilnehmern ihre spezifischen mentalen oder sozialen Gewohnheiten und Herausforderungen (Stärken, Schwächen, Chancen und Risiken) zu verdeutlichen, welche mit zukünftigen Aktivitäten, an denen sie teilnehmen werden, in Zusammenhang stehen.
Erfahrungen aus der Praxis
In der niederländischen UIMLA (International Mountain Leader)-Ausbildung haben alle Teilnehmer den Online-Fragebogen „Profile Dynamics“ ausgefüllt (Dauer: 20 bis 30 Minuten). Diese Profile werden als Basis für weitere Entwicklungen und Diskussionen in das Ausbildungsprogramm aufgenommen. Für die Ausbilder ist es überaus vorteilhaft, über diese Informationen zu verfügen, da sie dabei helfen, individuell angepasste Lernsituationen und Herausforderung zu erstellen und zu simulieren, um so den optimalen Lernerfolg zu erreichen. Die Testergebnisse weisen auch auf bevorzugte Lernstile hin.
Die persönlichen Profile der Teilnehmer werden immer wieder besprochen und in einem Erfahrungsaustausch „kalibriert“ und gegebenenfalls angepasst, wobei es hier kein Richtig und Falsch gibt.
Beispiele für Motivationsprofile
- Ein Beispiel für ein Profil auf der INDIVIDUAL-Ebene:
„Hans“ – Hoch bei orange und rot, niedrig bei blau und grün: „Auf geht’s, sofort!“ (Abb. 2)
- Stärken: schnelle Entscheidungsfindung und Fokussierung auf Handlung und Resultat; „Getrieben, der Beste zu sein“; Improvisieren, Extrovertiertheit, Konkurrenzdenken, „Can-do-Mentalität“, Umkehren wird oft als letzte Option betrachtet.
- Schwächen: Handeln vor dem Denken; binäres Denken: Ja oder Nein; ungeduldig, ergebnis- und herausforderungsorientiertes Denken bestimmt den Prozess und die Gruppendynamik; Zweifel und Unsicherheit unter Stress, die durch Handlungen oder impulsgesteuertes, egozentrisches Verhalten überspielt werden; Stil: flexibel, improvisierend, nicht unbedingt gut organisiert und tendiert dazu, vom Plan oder dem Entscheidungsprotokoll abzuweichen; nicht daran interessiert, die Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb der Gruppe zu nutzen.
In der Ausbildung können nun genau die Situationen simuliert werden, in denen Hans aufgrund seiner Persönlichkeit geneigt ist, falsche Entscheidungen zu treffen; mit dem Ziel, daraus zu lernen und das Verhalten anzupassen.
Wenn man Hans beispielsweise in eine sehr wettbewerbsorientierte Situation mit komplexen Geländebedingungen bringt, in denen ein sorgfältiges Risikomanagement erforderlich ist, kann ihn das zu riskantem Verhalten verleiten. Wenn man Hans das vor Augen führt, kann er diesen Prozess besser begreifen, was ihm effektiv dabei hilft, in der Zukunft seinen Entscheidungsprozess zu verbessern.
- Zwei Beispiele eines Profils auf der GROUP-Ebene
„Gruppe A“ – Hoch bei blau und violett, niedrig bei orange und rot: „Wir halten zusammen und befolgen die Regeln“ (Abb. 3)
- Stärken: Wertschätzung von gegenseitigem Vertrauen und Vorliebe für vertraute Situationen und Gruppen; strukturorientierte, genaue Vorbereitungen; sozial, freundlich, bescheiden, ruhig.
- Schwächen: Festhalten an alten Traditionen, Standardpraktiken und Techniken (wenn das Protokoll „Ja“ sagt, sind keine zusätzlichen Beobachtungen und Bewertungen auf der Tour erforderlich, wir halten uns ja an den Plan); unflexibel, langsame Gruppenentscheidung; langsame Anpassung an neue Umstände, wenn diese nicht eingeplant sind; Hierarchie und Entscheidung der Führungskräfte wird respektiert, man spricht nicht aus, wenn man anderer Meinung ist, da man die gute Atmosphäre in der Gruppe und den Ruf des Führers nicht beeinträchtigen möchte; unentschlossenes Verhalten; Konzentration auf die Gruppe und dabei keine Änderungen der Umstände (z.B. wechselnde Wetter- oder Schneebedingungen) bemerken; wenn die Gruppe entscheidet, muss jeder zustimmen, was nicht unbedingt zu den besten Lösungen führt.
„Gruppe B“ – hoch bei gelb-orange, niedrig bei blau und lila: „Wir leben nur einmal! Es gibt keine Probleme, nur Herausforderungen“ (Abb. 4)
- Stärken: Aktiv und positiv, ergebnisorientiert, eine Gruppe auf der Suche nach Herausforderungen und Abenteuern, „Kann“-Mentalität; flexibel und improvisierend, wenn es darum geht, etwas zum Funktionieren zu bringen; oft abstraktes Verständnis der Schneedynamik; Risiko wird als etwas Positives wahrgenommen; auf der Suche nach Herausforderungen und neuen Entdeckungen.
- Schwächen: Tourenplanung oft nur im groben Rahmen und nicht detailliert; Selbstvertrauen beim Improvisieren vor Ort, Gruppenmitglieder sind verbal stark, starkes Vertrauen in die eigene Fähigkeit Dinge zu klären; auf der Suche nach Nervenkitzel; mögliche Ablenkung durch internen Wettbewerb oder die Suche nach persönlicher Anerkennung; im Zweifelsfall oder bei Unsicherheit dazu geneigt, „vorwärts zu fliehen“; sucht nach Lösungen eher „im höher- oder weitergelegenen Gebiet“ (‘flee forward‘); bei der Begegnung mit dem Ungewissen oder in unangenehmen Situationen kann schnell vergessen werden, den Schnee „zu fühlen und zu testen“; Risiko der Gruppenauflösung, wenn die Mitglieder unterschiedlicher Meinung sind oder meinen, es besser zu wissen; die Gruppenmitglieder folgen gerne dem geschicktesten Skifahrer oder Kletterer, vor allem auf der Suche nach dem Kick; die Fähigkeit der Gruppe zur Risikoeinschätzung kann erheblich variieren; es herrscht ein schlechter Informationsaustausch innerhalb der Gruppe, sie ist anfällig für „ballistische Raketengruppendynamik“.
2. Stufe: Praktische Anwendung
Wenn man sich selbst und die Gruppe einmal beurteilt hat, erlangt man einen besseren Einblick in die Antriebe und erkennt bestimmte Einstellungen als potenzielle Gefahr für die eigene Entscheidungsfähigkeit. Aber wie wir bereits wissen: Das Graben eines Schneeprofils reicht nicht aus, um den gesamten Hang zu bewerten. Die Beurteilung unseres mentalen Zustands und unseres Gefühls ist ein fortlaufender Prozess.
Vor einigen Jahren haben die Schweizer Autoren Markus Müller und Thomas Theurillat bereits ein Instrument entwickelt, welches zur Bewertung und Verbesserung von Führungsqualitäten auf der Tour dient. Wir empfehlen, dieses Hilfsmittel in Trainingssituationen und im Gelände kombiniert mit einer einfachen Checkliste, wie sie in Abb. 5 abgebildet ist, anzuwenden. Das gibt uns mehr Einblick in unseren derzeitigen Zustand, der sich natürlich von Moment zu Moment und von Tag zu Tag unterscheiden kann.
Daumen-hoch/runter-Vorgehensweise
Man kann auch eine etwas kürzere Version anwenden, indem man z.B. die folgenden Fragen in der Gruppe stellt: Wie bewerte ich momentan meine geistige, emotionale und körperliche Verfassung? Bin ich fit, um ein gutes Urteil und gute Entscheidungen zu treffen? U.ä.
Jeder bekommt 10 Sekunden zum Nachdenken (fühlen) und dann müssen alle gleichzeitig anzeigen:
- Daumen hoch: ich bin fit
- Daumen horizontal: gemischte Gefühle
- Daumen runter: ich bin mental, emotional und/oder körperlich nicht fit genug
Dann sollten die Ergebnisse diskutiert werden, um so den Informationsaustausch in der Gruppe und den Entscheidungsfindungsprozess zu verbessern.
3. Stufe: Evaluation danach
Der nächste Schritt (oder das nächste Schneeprofil) besteht darin, eine „After Action Review“ oder für unsere Zwecke eine „After Trip Review“ und sogar eine „After Season Review“, also eine Evaluation oder Bewertung nach einer Aktion, einer Tour oder der Saison durchzuführen.
Wenn wir (die Autoren) auf unsere Saison (Sommer und Winter) zurückblicken, müssen wir oft feststellen, dass es Situationen gab, in denen wir uns – und vielleicht sogar andere – in Situationen gebracht haben, die wir von unserem Sessel zu Hause aus als nicht besonders „weise“ bewerten. Was hat uns also dazu gebracht, dies dennoch zu tun? Waren wir unter Druck, waren wir abgelenkt? Wie ist es dazu gekommen?
Wir bekommen ein schlechtes Gefühl, wenn wir an diese Situationen denken oder über sie sprechen. Diese „Beinahe-Unfall-Situationen“ können jedoch einen guten Einblick in das geben, was uns antreibt – und so in positive Lernerfahrungen umgewandelt werden. Das ist die Meta-Taktik, um mehr Lernerfahrungen zu schaffen und unsere Fähigkeiten zu testen.
Unserer Meinung nach besteht eine Notwendigkeit für bessere und professionellere Nachbesprechungen, bei denen alle beteiligten Personen über solche Ereignisse frei reden können und ermutigt werden, von „ihren“ Erlebnissen zu erzählen und zu lernen. Es ist wichtig, bei solchen Gesprächen den richtigen Ton zu finden und die passende Atmosphäre zu schaffen.
Schlussfolgerung
Im ersten Teil unseres Beitrages haben wir Hilfsmittel vorgestellt, die uns dabei unterstützen, unser eigenes „Schneeprofil“ zu verstehen.
Dabei können Achtsamkeit und Selbstreflexion als entscheidende Faktoren beim Erkennen von Problemen bezüglich des „Faktors Mensch“ genannt werden. Voraussetzung ist die Neugier bzw. der Drang, sein Verhalten und seine Entscheidungen permanent kritisch zu betrachten und zu evaluieren, auch wenn man bereits mehr als 30 Jahre Erfahrung als Profi in den Bergen gesammelt hat.
Teil 2: Verbesserung der Entscheidungsfindung – der Umgang mit Zeitdruck und Fehleinschätzungen
Wie geht es jetzt weiter? Wir haben gelernt, einige der mentalen und sozialen Fallen zu erkennen, in die wir möglicherweise tappen können. Wie aber vermeiden wir diese am besten? Wie können wir die bestmögliche Entscheidung treffen, wenn wir in einer Umgebung mit hohem Risiko, hoher Unsicherheit und mit vielen unbekannten, sich ständig ändernden Faktoren arbeiten?
Aus unserer Sicht ist eine fundierte Entscheidungsfindung eine Fähigkeit, die man trainieren kann und muss.
Jeder Bergprofi, der im Winter im freien Gelände arbeitet, verbringt mindestens ein bis zwei Tage pro Saison damit, seine Schnee- und Lawinenkunde-Grundlagen sowie seine Rettungs- und Erste-Hilfe-Fähigkeiten aufzufrischen. Aber das systematische Üben von Entschlussfassungen mit dem Ziel, mentale Fallen zu vermeiden – auch unter Zeitdruck oder anderen Belastungen (z.B. finanzielle Sorgen, Erwartungshaltung des Kunden) – wie es in vielen anderen Hochrisikobranchen üblich ist, wird oft vernachlässigt.
Das ist beinahe so, als würde man seine Kunden lehren, wie man nach dem Ausrutschen auf einem Schneefeld schnell zum Stillstand kommt, ohne ihnen vorher beizubringen, wie man sich überhaupt richtig auf Schnee bewegt und eine gute Spur anlegt – um ein solches Ausrutschen von vorneherein zu vermeiden. In diesem zweiten Teil unseres Beitrages stellen wir ein fünfstufiges Entscheidungsprotokoll vor, welches Bergprofis und Bergsteigern dabei hilft, bessere Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidungen werden – für die meisten bekannt – regional, lokal und zonal getroffen, also analog zum 3×3-System.
Erklärung der fünf Schritte
Schauen wir uns nochmal das Beispiel von Bergführer Christian an, der mit einer Gruppe von Kunden den Pass zur nächsten Hütte überqueren möchte. Bei aufziehenden Wolken und einem möglicherweise weit verbreiteten Altschneeproblem muss sich Christian entscheiden, ob er weitergeht oder nicht. In seiner Gruppe hat er hoch motivierte und erfahrene Skifahrer. Sie fahren mit überdurchschnittlich schnellen und weiten Schwüngen, suchen nach Nervenkitzel und Herausforderungen und mögen kleine interne Wettkämpfe (um den anderen zu beweisen, wie gut sie sind). Die Gruppe ist laut und juchzt oft aus fröhlicher Erregung und zum Ansporn.
Das Ziel der fünfstufigen Methode
ist es Risiken zu reduzieren, indem man mentale Fallen erkennt und abwägt – auch unter Berücksichtigung des Unbekannten, des Zeitdrucks und des Mangels an Ressourcen – mit dem Ziel, letztendlich bessere Entscheidungen zu treffen. Wie bei der 3×3-Methode sollte die Anwendung des fünfstufigen Systems geübt werden, bevor es in echten Situationen mit hohem Risikopotenzial eingesetzt wird.
Ausgangspunkt: Was ist das Risiko und welche Dinge weiß ich nicht?
Im Winter kann diese Frage z.B. aus der üblichen Einschätzung des (Lawinen-) Risikos mit den entsprechenden Hilfsmitteln wie der Snowcard, Achtung Lawinen usw. beantwortet werden. Darüber hinaus ist es sehr hilfreich, dein eigenes Profil als Führer (die Dinge, die dich antreiben) sowie das Profil deiner Gruppe zu kennen. Deine Entscheidungsfähigkeit wird situationsbedingt von deinem Charakter und deinem Geisteszustand beeinflusst.
Mach einen Test – z.B. die Checkliste in Abb. 5 – und verbessere dein Bewusstsein dafür; berücksichtige aber immer, dass sich die Bedingungen ständig ändern können und werden.
Wenn Bergführer Christian sein persönliches Profil sowie den aktuellen Zustand seiner Gruppe berücksichtigt, kann er erkennen, dass das Verhalten der Gruppe dazu führen kann, dass er sich selbst weniger kritische Fragen stellt bzw. diese teilt. Das wiederum kann dazu führen, dass sich die ganze Gruppe immer größeren Risiken aussetzt, ohne dabei ausreichend Zeit für die Beurteilung der Lage zu verwenden.
Christian beschließt daher, die fünf Schritte anzuwenden, um seine Chancen zu verbessern, gute, nicht voreingenommene Entscheidungen zu treffen.
Schritt 1: Gönne dir Zeit
Fehlentscheidungen entstehen häufig unter realem oder eingebildetem Zeitdruck: Du musst (oder willst) zu einer bestimmten Zeit wieder am Parkplatz sein. Du musst eine bestimmte Schlüsselstelle passieren, bevor sie die Sonne abbekommt. Deine Kunden müssen heute Abend noch den Flug erwischen. Es bläst ein kalter Wind, deine Kunden wollen schnell in die warme Hütte, aber du bist dir nicht sicher, ob der schnellste Weg dorthin sicher ist.
Welche dieser Umstände sind „real“ und welche selbst auferlegt? Überlege, was du tun kannst, um diesen Zeitdruck zu reduzieren, und ergreife geeignete Maßnahmen. Zum Beispiel: Bringe deine Kunden aus dem Wind (Gruppen-Biwaksack), lass sie einen Schluck heißen Tee trinken, während du dir die Zeit nimmst z.B. die Karte zu studieren, das Wetter zu bewerten oder einen Stabilitätstest zu machen, um so einfach Zeit und Informationen für die Entscheidungsfindung zu gewinnen.
Christian erkennt, dass er sich Zeit nehmen muss, um die Schneesituation zu beurteilen. Es ist windstill und er schlägt seinen Kunden eine Trinkpause vor und spornt sie an, währenddessen die Namen einiger Gipfel zu benennen, die in südlicher Richtung sichtbar sind. So gewinnt er Zeit.
Schritt 2: Suche nach verschiedenen Perspektiven
Um Fehler bei der Entscheidungsfindung durch deine persönlichen Schwächen zu vermeiden, hat es sich bewährt, die Situation aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. In einer Berghütte kannst du dazu natürlich den Hüttenwirt, Führerkolleginnen und andere Anwesende befragen. Nach einigen katastrophalen Unfällen im Mont-Blanc-Gebiet 2012 haben französische Führer beispielsweise damit begonnen, kurze Treffen in den Hütten zu organisieren, in denen man sich über die Einschätzung der aktuellen Bedingungen austauscht.
Bevor man zur Tour aufbricht, ist das Gruppenbriefing ein sehr guter Zeitpunkt, um die Sichtweisen deiner Gruppenteilnehmer zu erfragen – was aber nicht bedeutet, dass die eigentliche Entscheidungsfindung zu einem demokratischen Prozess wird. Ziel ist es vielmehr, dass der Führer Einblick in weitere Sichtweisen erhält. Du kannst deinen Kunden dabei auch erklären, dass wir alle Menschen sind, die Fehler machen können und dass es daher wichtig ist, alle Beobachtungen und Informationen über mögliche Risiken und Gefahren auszutauschen.
Während seine Kunden mit der Karte und ihren Telefonen beschäftigt sind, prüft Christian seine App, um Infos zur den Hangneigungen zu bekommen und macht einen schnellen Blocktest. Da er sich bezüglich der kommenden Geländekammer immer noch nicht sicher ist, beschließt er, sich mit einem parallel gehenden Kollegen zu beraten, von dem er weiß, dass er vor zwei Tagen denselben Weg gegangen ist.
Schritt 3: Denke in Szenarien und wäge deine Optionen ab
Denke in Szenarien und sei dabei so konkret wie möglich. Spiele alle Details jeder Möglichkeit durch, einschließlich des „Worst-Case-Szenarios“. Plane für jede Tour standardmäßig mindestens zwei gute Alternativen und stelle dich darauf ein, deine Tour – wenn nötig – auch tatsächlich zu ändern.
Es wird dir als Führer wesentlich leichterfallen auf einen Gipfel oder eine Tour zu verzichten, wenn du bereits im Vorfeld eine Reihe von Schlechtwetteraktivitäten zur Hand hast – vom Bau eines Schneelochs bis zum Saunagang. So bietest du den Teilnehmern ein tolles Erlebnis, auch wenn sie wegen der Lawinengefahr im Tal bleiben mussten.
Als erfahrener Bergprofi hat Christian seine Kunden zuvor darauf hingewiesen, dass dieser spezielle Pass vielleicht nicht zu überqueren ist. Am Vorabend hatte er bereits verschiedene Optionen vorgeschlagen, darunter zwei alternative Routen. Diese Alternativen entstanden in der Hüttenküche, während sich Christian mit dem Hüttenwirt und einem Kollegen besprach.
Schritt 4: Befrage den Anwalt des Teufels
Um mentale und soziale Fallen zu vermeiden, ist es wichtig und eine gute Idee, den Anwalt des Teufels zu befragen. Das kannst du durch eine Selbstbefragung machen oder indem du einem Kollegen oder Gruppenmitglied diese Rolle zuweisen. In Übungssituationen kannst du dieser Person sogar ein Kennzeichen (z.B. kleine Teufelshörner) geben, um so zu verdeutlichen, dass sie durch die unangenehmen Fragen nicht versucht, den schönen Tag im Pulverschnee zu verderben …
Diese Rolle als Anwalt des Teufels muss geübt werden, da wir in der Regel dazu neigen, in kritischen Situationen Entscheidungen von Führern zu akzeptieren, ohne diese offen zu hinterfragen.
Typische Fragen des Anwalts des Teufels sind:
- Wie würde ein Sachverständiger deine Entscheidung beurteilen, wenn ein Unfall passiert? Kannst du deine Entscheidung gegenüber Berufskollegen erklären und gegen einen Staatsanwalt verteidigen?
- Würdest du deine eigenen Familienmitglieder in dieses Gelände mitnehmen?
- Wie sicher sind die vorliegenden Informationen (z.B. Genauigkeit bzw. Aktualität des Wetter- oder Lawinenlageberichtes)?
- Was passiert im Worst-Case, wenn etwas schiefgeht? Wärst du in der Lage, die ganze Gruppe in Sicherheit zu bringen? Wäre deine Gruppe in der Lage, dich aus der Spalte zu holen (Analyse der möglichen Folgen)?
- „Pre-mortem-Test“: Ok, nehmen wir an, wir befinden uns in fünf Minuten unter einer Lawine. Welche Informationen haben wir übersehen, wie hatte das passieren können? Was könnten wir tun, um dieses Risiko zu minimieren?
- Ist die ausgewählte Variante die mit den geringsten Unfallrisiken/besten Überlebenschancen?
- Wie ist unsere Entscheidung zustande gekommen? War das spontan („Das ist aber ein schöner Hang “) oder wurde sie vorher geplant und überprüft?
Christian weiß nun, dass es schwierig wird, zur letzten Hütte zurückzugehen (die Hütte ist ausgebucht). Es besteht jedoch immer die Möglichkeit, dass andere Gruppen ihre Reservierung stornieren. Wenn er sich für die Option „umkehren“ entscheidet, wäre die schlimmste Konsequenz eine unbequeme Nacht. Durch die „Selbstbefragung“ kommt er aber auch zu dem Ergebnis, dass der Worst-Case bei einem weiteren Aufstieg ein Lawinenunfall mit Mehrfachverschüttung wäre. Weiters kommt er zu der Überzeugung, dass er seinen eigenen 17-jährigen Sohn nicht in den kommenden Hang schicken würde.
Schritt 5: Überwachen und Beobachten
Die vorherrschenden Umstände können sich schnell ändern. Dein Entschluss kann – obwohl er sorgfältig überdacht wurde – bald wieder falsch oder nicht mehr zutreffend sein: Du musst stets bereit sein, deine Bewertung und deine Entscheidung aufgrund neuer Informationen über das tatsächliche Risiko anzupassen.
Bei kritischen Entscheidungspunkten (z.B. Point of no Return): Überdenke nicht nur das Gelände und die damit verbundene Gefahr, sondern bewerte auch deinen eigenen mentalen Zustand und andere Faktoren, die dich in diesem Moment antreiben: Bist du gestresst, irritiert oder ängstlich? Was kannst du dagegen tun?
Definiere in der Planung solche kritischen Entscheidungspunkte!
Christian hat sich dafür entschieden, zur letzten Hütte zurückzukehren, eine Suppe zu essen und am frühen Nachmittag vielleicht einen anderen kleinen Aufstieg zu probieren. Als er der Gruppe seine Entscheidung mitteilt, stellt er fest, dass ein paar Personen sehr enttäuscht darüber sind.
Bei der folgenden Abfahrt ist die Gruppendisziplin beim Skifahren schlecht. Wenn einer seiner Kunden den angesagten Spurkorridor verlässt, erkennt Christian, dass die anderen Kunden auch gefährliches Verhalten zeigen. Er beschließt, einen Moment anzuhalten, um seine Gedanken und Gefühle auszutauschen, die Moral zu fördern und das Verhalten für die Abfahrt anzupassen. Christian fühlt, dass er selbst auch enttäuscht ist, und versucht, die Stimmung zu verbessern, indem er mit einem seiner alten Stammkunden zu scherzen beginnt.
Am späten Nachmittag, zurück in der Hütte, stellt Christian fest, dass er sich entspannter fühlt. Die Spannung lässt nach, die Kunden sind „in Sicherheit“ und genießen ihr Bier. Mit der Entscheidung, die er zuvor getroffen hat, fühlt er sich gut. Die kurze Skitour später am Nachmittag auf den Hüttengipfel erweist sich als tolles Erlebnis. Christian beschließt dann, mit seiner Gruppe eine Nachbesprechung durchzuführen, um aus dem Erlebten Schlüsse zu ziehen und daraus zu lernen.
Schlussfolgerung
Wir können bestimmte Fehlschlüsse und -einschätzungen in unserer Denkweise nicht immer vermeiden. Aber wir können Strategien anwenden, um unsere Entscheidungsprozesse zuverlässiger zu gestalten und so die Qualität unserer Entscheidungen zu verbessern. Das wird als „debiasing“ bezeichnet und beispielsweise im Bankensektor immer häufiger eingesetzt, um große Ausfälle und Kosten zu vermeiden.
Das vorgestellte fünfstufige Entscheidungsverfahren wurde entwickelt, um uns dabei zu helfen, bessere Entscheidungen zu treffen.
Anmerkung
Die verschiedenen Schritte wurden als die notwendigen Parameter identifiziert, um einen erfolgreichen Entscheidungsprozess zu ermöglichen. Die Schritte sind als iterativer Prozess gedacht: Manchmal musst du zu einem der vorherigen Schritte zurückkehren und manchmal musst du den gesamten Prozess wiederholen, da sich die Situation geändert hat. Es ist jedoch wichtig, auf jeden Schritt zu achten und keine Instanz zu übersehen.
Hintergrund des fünfstufigen Hilfsmittels zur Entscheidungsfindung
Das fünfstufige Instrument zur Entscheidungsfindung und ein dazugehöriges Kartenspiel wurden ursprünglich entwickelt, um belastbare Entscheidungen in der Schwerindustrie (chemische und petrochemische Industrie, Windräder und auf See usw.) zu erreichen. In Umgebungen mit hohem Gefahrenpotenzial ist eine belastbare Entscheidungsfindung Voraussetzung, da sich Situationen kontinuierlich ändern, Zeitdruck herrscht, unbekannte Faktoren auftauchen können und die Ressourcen begrenzt sind.
Im Rahmen der Recherche für diesen Beitrag wurden auch erfahrene Bergführer und Expeditionsbergsteiger zu ihrer Entscheidungsfindung befragt (z.B. Alpinist und Piolet d’Or-Gewinner von 1999 Lionel Daudet oder die Höhenbergsteigerin Katja Staartjes).
Kartenspiel zur Entscheidungsfindung bei hohem Risiko
Um mit dem fünfstufigen Hilfsmittel zur Entscheidungsfindung zu üben, wurde ein ergänzendes Kartenpaket entwickelt (Abb. 6). Darin lernen Teilnehmer ihre Qualitäten und Stärken kennen, die für eine belastbare Entscheidungsfindung erforderlich sind. Bei dem Spiel werden spezielle Situationen in den Bergen simuliert, in denen schwierige Entscheidungen getroffen werden müssen. Die Teilnehmer (6 bis 10 Personen) werden mit Fehleinschätzungen, Zeitdruck, verschiedenen Optionen, Unsicherheit und reinem Glück konfrontiert.
Darüber hinaus kann das Kartenspiel auch zur Gestaltung der Nachbesprechung verwendet werden.
Epilog
In diesem Beitrag haben wir praktische Hilfsmittel vorgestellt, die uns helfen, einen besseren Einblick in unsere persönliche Motivation und in die Gruppendynamik zu bekommen. Dadurch können wir die wichtigsten Fehler erkennen, die dem „Faktor Mensch“ geschuldet sind und die uns persönlich betreffen können.
Wir haben deutlich auf die Notwendigkeit einer besseren Nachbesprechung bzw. Lernevaluation beim Bergsteigen hingewiesen und danach fünf Schritte für eine bessere Entscheidungsfindung in Situationen mit Zeitdruck erläutert.
Die Kombination dieser Instrumente soll uns dabei unterstützen, einen umfassenden und effektiveren Ansatz zur Verringerung von Risiken und im Umgang mit unvorhersehbaren Bedingungen zu erreichen.
Es bleibt jedoch noch viel zu tun. Unser handlungsorientierter Ansatz erfordert noch mehr Erfahrung aus der Praxis zusammen mit wissenschaftlicher Forschung. So könnte es beispielsweise noch geeignetere Persönlichkeits- und Gruppentests geben, die das Verhalten unter Extrembedingungen besser bewerten und prognostizieren können.
Wer sich für dieses Thema interessiert und seine Ansätze und Erfahrungen mit uns teilen möchte – wir freuen uns sehr über dein Feedback. •
Bitte beachte
Wenn du die vorgestellten Hilfsmittel anwendest, kannst du unter Umständen auf Widerstand treffen, denn:
- Wir sind mit bestimmten Vorstellungen über eine gute Führungskraft groß geworden, wie z.B.: „Lass dir deine Unsicherheit bei der Entscheidungsfindung nicht gegenüber deinem Kunden oder Kollegen ansehen“, oder sogar „Eine Führungskraft ist in allem ein Meister und darf keine Unsicherheiten oder Schwächen haben“. Es ist nicht leicht, zu einer anderen Perspektive zu wechseln, in der z.B. die Fähigkeit, sich an Bedingungen anzupassen und verschiedene Optionen anzubieten und dem Kunden zu verkaufen, sehr geschätzt wird.
- Unsere Kunden haben natürlich auch ihre persönlichen Erwartungen an die Rolle und das Image des Führers. Wenn deine Kunden im Urlaub sind und möglicherweise ihren Verstand zu Hause auf ihrem Nachttisch gelassen haben, musst du sie evtl. enttäuschen und aufwecken.
- Das Einführen und Verwenden dieser Hilfsmittel erfordert Zeit. Sei auf Diskussionen vorbereitet; wir haben jedoch erlebt, dass es ähnlich wie beim LVS-Check ablaufen kann: mit kontinuierlicher, standardmäßiger Anwendung gelangt man an einen Punkt, an dem der Check routiniert und schnell abläuft und in den Alltag integriert wird.
Literatur
- https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_cognitive_biases
- Benjamin Zweifel in bergundsteigen 4/16, „Bist du auf deiner Tour SOCIAL?’’
- Mannberg Andrea e.a. bergundsteigen 4/17 „Who is at risk in the backcountry?’’
- Jan Mersch und Hans Christian Hocke in bergundsteigen #97 (2016), S. 35.
- Romain Ferlay, Cecile Radiguet de La Bastaie. Accidents des guides de haute montagne français de 2003 à 2013: Étude rétrospective de 286 cas et de leurs conséquences. Médecine humaine et pathologie. 2015.
- Human Faktor 2.0, https://storied.storied.co/human-factor-2.0/chapter-3
- Human Factor 2.0 – Manuel Genswein SLF on residual risk and exposure in time: youtu.be/H7PtR_anHP8
- bergundsteigen 4/18, Mannberg Andrea e.a. ‘’Are you keeping up with Jeremy Jones’’ – on the role of social comparison and the influence of what other people around you do.
- siehe Homepage Profile Dynamics https://www.profiledynamics.com/en/
- bergundsteigen 4/12 “Mehr Mensch als Faktor“; Müller Markus, Theurillat Thomas; Seite 84-89.
- bergundsteigen #95 (2016), Würtl Walter, Plattner Peter, „Wieder nichts gelernt“
- In einigen niederländischen spezialisierten Polizeiteams werden Betriebsleiter ausgebildet, um diese komprimierten und konkreten „After-Action-Reviews“(oder vielleicht: … konkreten Assessments der Einsätze) mit ihren Teams durchzuführen. Ziel ist es, von jedem Einsatz zu lernen und diese zu verbessern. Führungskräfte sind eingeladen, sich als diese weiterzuentwickeln und dann ihr Team um Feedback zu fragen.
- Siehe auch bergundsteigen #101, Stephan Harvey „Entscheiden im Einzelhang“ und Benjamin Reuter/Chris Semmel „Gefahren, Konsequenzen, Massnahmen & Risiko“.
- Z.B. https://www.mckinsey.com/business-functions/risk/our-insights/the-business-logic-in-debiasing
- Die Instrumente wurden von Anne van Galen im Auftrag von und in Zusammenarbeit mit Dr. Linda Bellamy (White Queen B.V.), dem niederländischen Nationalen Institut für öffentliche Gesundheit und Umwelt (RIVM) und einem Sounding Board von 20 Unternehmen entwickelt. Die Instrumente basieren auf einem europäischen Safera-Forschungsprogramm für eine belastbare Entscheidungsfindung. Siehe www.resilienceacademy.nl