Einfach-, Zwillings- & Halbseile: Welches Seil wofür?
Empfehlung der österreichischen Bergführerausbildung für das Führungswesen.
Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts waren es ausschließlich Hanfseile, welche die Bergsteiger vor allem als Hilfe zum Bergabklettern verwendeten. Mit Einführung der Mauerhaken werden die Seile erstmals als Hilfsmittel im Vorstieg eingesetzt – eine neue Ära des Seiles hat begonnen. In den 1940er Jahren wurden die ersten Nylonseile gedreht, in den 50ern die ersten Kernmantelseile entwickelt und 1964 gab es das erste Prüfzeichen für Bergseile. Seit dieser Zeit wurden die Bergseile ständig weiterentwickelt, in Punkto Festigkeit, Arbeitsvermögen und Handling.
Spezialimprägnierungen verhindern zu starke Feuchtigkeit. Die Entwicklung führt zur Einführung von Einfach-, Zwillings- und Halbseilen, welche sich in den ständig weiterentwickelten Seil- und Sicherungstechniken für die verschiedenen Einsatzbereiche optimal einsetzen lassen. In der heutigen Zeit sind die Bergseile zu Hightechgeräten weiterentwickelt worden. Es wird größtmögliche Sicherheit bei größtmöglicher Leichtigkeit und optimierten Handhabungseigenschaften garantiert. Für alle Spielformen des Alpinismus existieren spezielle Bergseile.
Zum Artikel: Halbseiltechnik – wieso, weshalb, warum?
Diese Spezialisierung und Optimierung hat allerdings auch mit sich gebracht, dass nicht mehr alle Seiltypen für alle Anwendungsbereiche optimal geeignet sind, ja sogar manche Anwendungsbereiche mit gewissen Seiltypen potentielle Gefahren und Risiken mit sich bringen. Da sich die Seiltypen in den letzten Jahrzehnten für den Gebrauch im Bergsport deutlich in Richtung „light & fast“ weiterentwickelt haben, ist für den Gebrauch im Führungswesen in manchen Situationen Vorsicht geboten. Aus diesem Grund hat sich das Ausbildungsteam der österr. Bergführerausbildung 2021 dazu entschlossen, auf einer Team-Koordination ein Brainstorming zu diesem Thema stattfinden zu lassen und die daraus gewonnenen Erkenntnisse zu einer Seiltyp-Empfehlung für die verschiedenen Führungstechniken zusammenzufassen.
Eine Unterscheidung zwischen den Führungstechniken mit dem Einbezug und Ausschluss verschiedener Seiltypen ist notwendig geworden. Dieser Artikel soll Einblick in die Hintergrundgedanken und Zusammenhänge geben, aus der diese Empfehlung entstanden ist. Wie immer bei Empfehlungen handelt es sich um Empfehlungen für gängige Führungssituationen, welche in speziellen Situationen situativ variabel eingesetzt werden können bzw. sollen. In der Abbildung 1 sind die Ergebnisse der erwähnten Koordination des Ausbildungsteams zusammengefasst.
In der ersten Spalte sind verschiedene Führungssituationen angeführt, in den Zeilen finden sich die Empfehlungen für die verschiedenen Seiltypen. Die Seiltypen werden eingeteilt in Hilfsleinen, Zwillingsseile (Verwendung im Einzel- und Doppelstrang), Halbseile (Verwendung im Einzel- und Doppelstrang) sowie Einfachseile. Der aktuelle Kenntnisstand des DAV-Sicherheitskreises besagt, dass der Durchmesser zu den Seiltypen eine untergeordnete Rolle spielt. Daher wurde bei der Seiltyp- Empfehlung auf eine Unterscheidung von verschiedenen Durchmessern verzichtet.
Zu den verwendeten Seiltypen sollte auch die Art und Weise des Prüfverfahrens erwähnt werden. Hilfsleinen oder hyperstatische Seile sind – wie der Name schon sagt – keine dynamischen Seile und müssen daher eigenständig betrachtet werden.
Hilfsleinen werden nach der Reepschnurnorm EN 564 geprüft. Diese testet ausschließlich den Durchmesser und die Bruchkraft, welche Hilfsleinen problemlos erfüllen. Allerdings bringen Hilfs- leinen auf Grund ihrer statischen Eigenschaften in diversen Führungstechniken problematische Situationen mit sich, da sie auch nicht auf Fangstoß, Normsturz und Dehnung getestet werden, so wie es bei dynamischen Seilen Standard ist.
Dynamische Seile werden nach der Norm EN 892 geprüft. Die Fallprüfung bzw. der Normsturz ist eine Sturzbelastung unter extremen Bedingungen, wie sie in der Praxis nicht auftreten. Unter einem Sturzfaktor von ca. 1,75 wird der Sturz statisch abgefangen. Eine statische Zugprüfung gibt es nicht, da Bergseile in der Praxis nicht unter hoher Belastung statisch beansprucht werden. In der folgenden Abbildung sind die Prüfkriterien bzw. die Kennzahlen für Einfachseile, Halbseile und Zwillingsseile aufgeführt (Abb. 2).
Mit diesen Hintergrundinformationen und den Erfahrungen des Ausbildungsteams aus der Führungspraxis wurde die Seiltyp-Empfehlung für die verschiedenen Führungstechniken erstellt. Nachfolgend werden die verschiedenen Techniken und die Empfehlung der Seiltypen dafür näher beschrieben:
1. Vorstiegsklettern im Fels, Eis und Firn.
Beginnen wir in der ersten Zeile der Abbildung mit dem Vorstiegsklettern im Fels, Eis und Firn. Im Vorstiegsklettern wird entweder mit Körpersicherung (am Boden oder an geeigneten Standplätzen) oder über eine Fixpunktsicherung vom Standplatz ausgeführt. In der Führungssituation wird die Fixpunktsicherung auf Grund der meist unerfahrenen Sichernden bevorzugt.
Dafür wird die Verwendung des Einfachseiles, von Halbseilen in Halbseiltechnik (einzelnes Einhängen der Stränge mit Fokus auf den Seilverlauf) oder Zwillingsseilen in Zwillingsseiltechnik (beide Stränge werden in jede Sicherung eingehängt) empfohlen (Abb. 3). Dafür nicht empfohlen werden Hilfsleinen (statische Belastung), Zwillingsseile im Einzelstrang (keine Prüfung, nicht dafür vorgesehen) bzw. Halbseile im Einzelstrang (nicht dafür vorgesehen, zu große Dehnung bzw. zu wenig Sicherheitsreserve bei Kanten).
2. Nachsichern einer Person im Fels.
Das Nachsichern einer Person im Fels bezieht sich ausschließlich auf Fixpunktsicherung. Dafür wird die Verwendung des Einfachseiles, von Halbseilen in Halbseiltechnik oder Zwillingsseilen in Zwillingsseiltechnik empfohlen. In Ausnahmesituationen wie in kurzen Passagen ohne Pendelgefahr und bei geringer Sturzwahrscheinlichkeit kann – in Kombination mit entsprechender Sicherungstechnik und Fixpunktqualität – auch die Verwendung der Hilfsleine eine Möglichkeit sein. Ebenso bleibt die Verwendung des Halbseiles im Einzelstrang ein Ausnahmefall, welcher mit Ausschluss von Kantenbelastung, geringer Pendelgefahr bzw. einer Risikoabwägung Pro/Kontra definiert wird. Dafür nicht empfohlen werden Zwillingsseile im Einzelstrang (zu wenig Sicherheitsreserve).
3. Nachsichern von zwei Personen im Fels mit Weiche.
Das Nachsichern von zwei Personen im Fels mit Weiche wird vor allem an Felsgraten mit moderaten Schwierigkeiten bis zum III. Grad praktiziert. Die Schwierigkeiten sind meist auf kurze Passagen konzentriert und die Seillängen kurz, mit Sichtkontakt zu den Nachsteigern. Dabei steigen beide Nachsteiger an einer Seilweiche (kurze Seilschlinge mit zwei Knoten abgebunden) im Abstand von etwa 1,5 bis 2,5 Metern gleichzeitig nach. Die Empfehlung für den Seiltyp sieht gleich aus wie beim Vorstiegsklettern.
Das Einfachseil wird bei dieser Anwendung die Standardwahl sein, in der heutigen Zeit werden vielfach Seile mit Dreifachzertifizierung (Einfach/ Halb/Zwilling) dafür eingesetzt. In manchen Situationen werden Halbseile im Doppelstrang dafür verwendet. Eher unüblich dafür sind Zwillingsseile im Doppelstrang. Dafür nicht empfohlen werden Hilfsleinen (statische Belastung), Zwillingsseile im Einzelstrang (keine Prüfung, nicht dafür vorgesehen) bzw. Halbseile im Einzelstrang (nicht dafür vorgesehen, zu wenig Sicherheitsreserve bei Kanten).
4. Nachsichern von zwei Personen im Fels (gef. Dreierseilschaft)
Unterschiedlich zum Nachsichern mit Weiche bewegt sich die Dreierseilschaft im Fels in einem anderen Gelände. Die Dreierseilschaft klettert von Standplatz zu Standplatz, die Schwierigkeiten sind im Allgemeinen höher bzw. im Klettergelände ab dem III. Grad aufwärts und die Seillängen sind länger, evtl. ohne Sichtkontakt. Die Nachsteiger können einzeln oder gleichzeitig klettern. Für das Nachsichern in der Dreierseilschaft wird die Verwendung von Einfachseilen für beide Nachsteiger empfohlen.
Gut geeignet für diesen Anwendungsbereich sind wiederum Seile mit dreifacher Zertifizierung (Abb. 5). Der Grund für diese doch recht strenge Sichtweise ist eine Kombination von hoher Seildehnung, Kantenproblematik und die mentale Komponente bzw. das Vertrauen des nachsteigenden Kunden auf das Seil. Daher wird die Verwendung des Halbseiles (Einzelstrang für jeden Nachsteiger) nur in Ausnahmefällen, bei unwahrscheinlicher Pendel- bzw. Kantensturzgefahr und mit Risikoabwägung Pro/Kontra empfohlen. Alle anderen Seiltypen werden für diese Anwendung nicht empfohlen.
5. Ablassen einer Person im Fels.
Das führungstechnische Ablassen bezieht sich auf passives Abseilen des Kunden mit diversen Ablasstechniken. Die Situationen beim Ablassen sind meist kurze Strecken mit ständigem Sichtkontakt zu den Kunden. Ähnlich wie beim Nachsichern einer Person im Fels wird die Verwendung des Einfachseiles, von Halbseilen (im Doppelstrang) oder Zwillingsseilen im Doppelstrang empfohlen. In Ausnahmesituationen, wie in kurzen Passagen ohne Pendelgefahr und bei geringer Sturzwahrscheinlichkeit, kann in Kombination mit entsprechender Sicherungstechnik und Fixpunktqualität auch die Verwendung der Hilfsleine eine Möglichkeit sein. Ebenso bleibt die Verwendung des Halbseiles im Einzelstrang ein Ausnahmefall, welcher mit Ausschluss von Kantenbelastung, geringer Pendelgefahr bzw. einer Risikoabwägung Pro/Kontra definiert wird. Dafür nicht empfohlen werden Zwillingsseile im Einzelstrang (zu wenig Sicherheitsreserve).
6. Ablassen von zwei Personen im Fels mit Weiche.
Diese Technik wurde auf Grund der Erkenntnisse, dass dynamische Seile bei einer Belastung mit zwei Personen (etwa 160 kg) nahe an die Grenzen der Belastbarkeit kommen (im Speziellen bei Kantenbelastungen), aus der Standard-Lehrmeinung gestrichen. Daher wird diese Technik nur in Ausnahmefällen empfohlen, welche in Zusammenhang mit dem Ausschluss von Kantenbelastung, geringer Pendelgefahr bzw. einer Risikoabwägung Pro/Kontra stehen. Empfohlen werden kann diese Technik mit Halb- oder Zwillingsseilen im Doppelstrang.
7. Ablassen von einer Person im Firn.
Da im Firn eine Kantenbelastung des Seiles auszuschließen ist, können alle Seiltypen für das Ablassen empfohlen werden. Für das Ablassen im Firn mittels Hilfsleine sollte das entsprechend passende Sicherungsgerät dazu überlegt werden bzw. die Sicherungsmethode an die Situation angepasst werden.
8. Ablassen von zwei Personen im Firn mit Weiche.
Auch das gleichzeitige Ablassen von zwei Personen im Firn kann mit fast allen Seiltypen empfohlen werden. Wichtig dabei ist die Kontrolle der Bremskraft, welche mit zwei Personen Unterschiede an die Sicherungsmethode bzw. das Sicherungsgerät mit sich bringen. Nicht empfohlen wird das gleichzeitige Ablassen von zwei Personen im Firn mittels Zwillingsseil im Einfachstrang (zu wenig Sicherheitsreserve).
9. Gletscherseilschaft.
Für die Gletscherseilschaft können alle Seiltypen empfohlen werden. Der entsprechende Seiltyp sollte für die jeweilige Tour situativ überlegt werden. Bei der Verwendung von Hilfsleinen oder dünnen Halb- bzw. Zwillingsseilen im Einzelstrang sollte eine Auswahl an Seilklemmen für Rettungszwecke mitgeführt werden, da Schlingen und Schnurmaterial nur mehr bedingt einsatzfähig sind.
10. Kurzes Seil.
Das zentrale Element der Bergführertätigkeit stellt die Verwendung der Führungstechniken am sogenannten „kurzen Seil“ dar (Abb. 6). Das kurze Seil im Detail vorzustellen, dessen Vor- und Nachteile zu diskutieren, würde einen eigenen Artikel benötigen – daher bleiben wir bei der Empfehlung für die Seiltypen zu dieser Technik. Der am allermeisten verwendete Seiltyp dafür ist das Einfachseil. Seit der Herstellung von Seilen mit Dreifachzertifizierung werden vermehrt diese Seile für den Einsatz am kurzen Seil verwendet, da sie leichter und im Packmaß kleiner sind als herkömmliche Einfachseile.
Seltener werden Halb- oder Zwillingsseile dafür verwendet. Die Empfehlung beinhaltet diese Seiltypen in der Verwendung im Doppelstrang. In Ausnahmefällen (keine Kantenbelastung, geringe Pendelgefahr bzw. mit einer Risikoabwägung Pro/Kontra) können Halbseile im Einzelstrang empfohlen werden. Nicht empfohlen wird das kurze Seil mit dem Zwillingsseil im Einzelstrang (zu wenig Sicherheitsreserve) bzw. mit Hilfsleinen (zu statisch).