Die Bohr-Maschinen: 5 legendäre Routen-Erschließer
1. „Der Gestalter“: Reini Scherer
Nachgefragt bei einem, der es wissen muss: Reinhold „Reini“ Scherer, der so etwas ist wie das personifizierte Klettern in Tirol. Geschäftsführer des Kletterzentrums Innsbruck, erfolgreicher Nationaltrainer und passionierter Erstbegeher von mehr als 1500 Seillängen im jungfräulichen Fels.
Simon Schöpf: Reini, in einem Video von dir fällt der Satz: „Einen Bohrhaken zu setzen ist für mich so etwas wie mein täglicher Schuss.“ In einem anderen Interview sagst du, das Einbohren ist für dich „wie eine Droge“. Bist du süchtig nach Erstbegehungen?
Reinhold Scherer: (lacht) Das war natürlich etwas übertrieben. Ich konsumiere schon auch gerne Kletterrouten. Aber letztendlich gestalte ich viel lieber. Da bin ich schon ein bisschen besessen, aber es macht mir halt einen tierischen Spaß. Wenn ich eine Weile nicht gebohrt habe und mal wieder eine schöne Wand für eine Erstbegehung entdecke, dann bin ich plötzlich total unter Strom.
Und dann werde ich auch direkt nervös, wenn ich keine Haken mehr auf Lager habe. Von daher ist das schon mit einer gewissen Abhängigkeit zu vergleichen. Aber ich empfinde das nicht als Krankheit oder lebensmedizinisches Problem, sondern positiv. Insofern ist die Analogie mit dem „Schuss“ vielleicht nicht ganz passend, mir tut jeder leid, der Probleme mit Alkohol oder Drogen hat. Aber Einbohren ist etwas Positives, ähnlich dem ‚Runners High‘ beim Laufen vielleicht. Es hält einen gesund und fit. Aber gut, vielleicht kann es auch pathologisch werden, wer weiß (lacht).
Eine Sucht wird definiert als „das unabweisbare Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet.“ Wo eine Sucht, da auch ein Entzug: Wirst du nervös, wenn du zu lange nichts einbohrst?
Ja, dann habe ich schon das Gefühl, dass es jetzt gut wäre, mal wieder was zu machen, was Neues zu finden. Aber das geht jedem Spitzensportler so. Wenn man gerne Rad fährt und lange nicht gefahren ist, dann muss man irgendwann einfach wieder aufs Rad steigen. Oder der Skitourengeher, der beim ersten Schnee schon nervös wird, das ist ein ähnliches Verhalten.
Deine erste Tour hast du 1983 erschlossen, vor mehr als 40 Jahren. Seitdem bist du kontinuierlich drangeblieben. Wie hältst du deine Begeisterung so lange Zeit so hoch?
Ich denke mir schon seit ein paar Jahren, wenn ich diese Wand oder jenes Projekt noch machen will, dann heuer, denn wer weiß, ob es danach noch was wird. Ich habe immer Angst, dass ich nicht mehr fit genug sein werde. Und das treibt mich immer mehr an.
Das Bohren geht nämlich schon ziemlich auf die Substanz. Aber durch das häufige Tun werde ich schneller, erfahrener. Und dadurch fällt es mir auch immer leichter. Aber vielleicht auch, weil ich mittlerweile leichteres Gelände suche und nicht mehr nur die ganz schweren Sachen.
Ist das eine Alterserscheinung, ein wachsendes Bewusstsein für das natürliche Ablaufdatum?
Ja, vielleicht sogar so eine Art Torschlusspanik. Ich denke mir, das muss ich jetzt noch machen, bevor ich die Motivation verliere. Aber irgendwie finde ich sie immer wieder. Die Leute, mit denen ich letzten Sommer unterwegs war, die waren ganz hin und weg von der Motivation und dem Arbeitseifer, den ich da an den Tag lege.
Mit einem 30-Kilo-Rucksack zu klettern, das musst du erst mal packen, von der Substanz her. Jedenfalls war ich immer motiviert, das Klettern in den Gebieten zu entwickeln, in denen ich zu Hause bin. Zum Beispiel im Osttiroler Lesachtal, wo ich aufgewachsen bin, da war überhaupt nichts, null. Außer ein paar Normalhakentouren, die in Vergessenheit geraten waren. Oder auch in der Mieminger Kette, wo ich jetzt wohne, da war auch mal wenig erschlossen. Und wenn man dann zu den Felsen geht und merkt, das ist schön, da ist noch nichts drin … dann kann ich einfach nicht anders. Dann muss ich da hinauf.
Kennst du die Panik, dass dir wer eine Linie wegschnappt?
Ich tät’ lügen, wenn es nicht so wäre. Bei den ganz lässigen Linien finde ich das dann schon schade, wenn ich da nicht selbst reinkann. Auf der anderen Seite ist man dann auch irgendwie froh drum, dass man die ganze Arbeit nicht selber machen muss.
Ist Einbohren für dich mehr Egoismus oder Altruismus?
Ich bohre schon mehr für die Szene ein, das traue ich mich zu behaupten. Oft eröffne ich Routen, weil sie cool sind und weil ich glaube, dass die Leute Spaß daran haben. Und nicht, weil ich mich damit unbedingt verewigen muss. Oft gehe ich im Nachhinein her und bohre zusätzliche Haken, damit die Absicherung dem Grad entspricht.
Manche Normalhakentouren können nicht die schöne, gerade Linie wählen, sondern queren viel hin und her, da wird dann auch die eine oder andere schöne Linie blockiert. Wenn die Normalhakentouren viel geklettert werden, ist das eh gut, aber wenn das keiner nachklettert, ist das doch schade um den Fels.
Lieber von unten oder von oben?
Für mich persönlich gilt: nur mehr von unten. Und zwar so, dass du die Kletterstelle klettern musst. Aber das habe ich mir selbst auferlegt. Denn meine Generation hat schon auch viel Dreck am Stecken, dass es anmaßend wäre, anderen vorzuschreiben, wie sie zu bohren haben. Wir haben in den 90ern auch von oben gebohrt oder eine schwierige Stelle A0, das war damals ganz normal.
Aber dann kam die Tirol-Deklaration, in der es dann hieß, von oben gebohrte Routen sind keine Erstbegehungen, sondern Erschließungen. Das hat mich schon nachdenklich gemacht, dass dann plötzlich Routen von mir keine Erstbegehungen mehr sein sollen. Deshalb gehe ich grundsätzlich von unten nach oben. Aber jeder soll seine Erfahrungen machen. Als erfahrener Alpinist weiß man ohnehin sofort, ob die Haken von oben oder von unten gebohrt wurden.
Woher nimmst du eigentlich die ganze Zeit für deine Projekte?
Ich lasse halt andere Dinge liegen, das ist klar. Andere gehen feiern oder fahren in Urlaub, aber für mich ist Erstbegehen wie Urlaub. Während andere im Schrebergarten rumwurschteln, bohre ich eine neue Linie ein. Im Sommer fahre ich um vier Uhr nachmittags noch mit dem E-Bike auf den Berg und erschließe neue Sachen, bis es dunkel wird. Da erreicht mich auch niemand, weil ich so oft wie möglich dahin bin, um unbekanntes Gelände zu erkunden.
Gehen dir nach 1500 Seillängen irgendwann die Ideen, die Motivation aus?
Ich habe eigentlich schon das Gefühl, dass es jetzt genug ist. Aber das Gefühl habe ich halt schon lange (lacht). Aber immer wieder finde ich dann zufällig was, wo ich denke, das muss ich mir genauer anschauen. Und dann bohre ich das halt ein.
„17 Sekunden“ – Einbohr-Tipps von Reini Scherer
Über 1500 Routen stehen im „Tourenheftl“ von Reini Scherer, akribisch aufgelistet mit Datum, Name, Schwierigkeit. Und ganz, ganz oft steht eben das Wort „Erstbegehung“ als Kommentar dabei, in Rot. Wenn man die Längen überschlägt, kommt man auf rund 40 Kilometer – Reini Scherer hat in seinem Leben fast schon einen ganzen Marathon gebohrt.
Wer so viel mit der Bohrmaschine hantiert, der hat zwangsläufig eine solide Routine. Und eine beeindruckende Schnelligkeit. „In 95 % aller Fälle bohre ich den Haken aus der Kletterstellung. Weil ich so einfach schneller bin. 17 Sekunden muss ich mich mit einer Hand an einem Griff halten können, um aus der Kletterstellung einen Haken zu setzen“, weiß Reini.
17 Sekunden für das Bohrloch, Haken ansetzen, reinhämmern, festziehen, belasten. Wie ist er nur so effizient geworden? „Im Grunde ist das Hakensetzen eine Handwerkstätigkeit. Je öfter man das macht, desto schneller wird man, genauso wie ein Tischler, der ein Leben lang Stühle herstellt. Aber richtig schnell wird man erst, wenn man schnell im Kopf wird. Wenn man wegsteigt vom Haken, dann geht die meiste Zeit mit Überlegen, Angsthaben, Liniesuchen drauf. Das Denken zwischen den Haken kostet die meiste Zeit. Da musst du dich treiben lassen, und das gelingt halt umso besser, je mehr Erfahrung man hat.“
Welches Material hast du immer dabei?
a) Grobsortiment an Normalhaken (Diagonal-haken, Normalhaken, V-Profil-Haken)
b) ein kleines Sortiment Friends (0.4, 0.75, 1, 2) und Klemmkeile
c) Black Diamond Pecker („die sind Gold wert, das ist das wichtigste Werkzeug“)
d) Cliff („wobei ich den selten brauche, je nach Gelände“)
e) Seilrolle
f) Tuber
g) Standplatzschlinge (Petzl Adjust)
h) Schraubenschlüssel
i) Expansionsbohrhaken (Lasche in Expressschlinge)
j) Hammer
k) Prusikschlinge
1) Welche Bohrmaschine?
„Die klassische, alte Hilti TE-4, die gibt’s gar nicht mehr. Mit einer Bohrmaschine mit weniger Schlagleistung brauche ich mehr Zeit oder mehr Druck, um ein Loch fertigzubringen. Die Hilti ist zwar nicht leicht, aber die muss ich nur hinhalten, dann fährt die schon rein. Da schleppe ich lieber etwas mehr Gewicht, dafür geht’s dann schneller. Wichtig ist immer ein frischer, sauberer Bohrer, da habe ich zwei oder drei dabei. Die Maschine hängt mit einem Fifi-Haken am Gurt.“
2) Organisation am Gurt?
„Das ist das Um und Auf, dass am Gurt alles genau da ist, wo du es brauchst. Vorne das, was man oft braucht (Hammer, Haken, Bohrmaschine), hinten in der zweiten Materialschlaufe der Rest (Friends, Normalhaken, Seilrolle).“
3) Standplatzschlinge
„Ich hänge mir den Karabiner der Selbstsicherungsschlinge immer in den T-Shirt-Ausschnitt, damit ist der griffbereit.“
4) Bohrhaken
„Expansionsbohrhaken (Expressanker FBNII M10/85 und Lasche 10 mm), dabei hänge ich immer schon einen Haken an eine Expressschlinge. Wobei man darauf achten muss, dass die Mutter weit zurückgedreht ist, sonst dreht sich die eventuell beim Klettern raus.“
5) Hammer
„Modifiziert durch einen Drahthaken aus dem Baumarkt, mit dem er am Gurt hängt. Und mit einer Reepschnur, genau abgestimmt auf meine Armlänge, zusätzlich an meiner Brustschlinge, damit ich ihn sofort finde. Einfach daran ziehen und tschagg – schon habe ich den Hammer in der Hand, ohne jemals am Gurt rumfummeln zu müssen.“
6) Schraubenschlüssel
„Da werde ich oft ausgelacht, weil ich so einen großen Schlüssel mithabe, aber damit bekomme ich beim Festschrauben mehr Abstand zur Wand. Und so deutlich weniger oft blutige Fingerkuppen!“
7) Reinis Spezialtipp
„In ganz heiklen Fällen, wo ich nicht weiß, ob ich wegrutsche, setze ich die Bohrmaschine etwas steiler an und fädle den Karabiner der Standplatzschlinge durch den Bohrer. Sobald ich einen oder zwei Zentimeter im Fels bin, kann ich dann schon leicht entlasten und kurz Pause machen, indem ich mich an den Bohrer hänge.“
8) Seile
„Immer Doppelseile. Zwei Mal hat es mir fast das Seil abgeschlagen. Es gibt Leute, die klettern mit Einfachseil und seilen dann mit der Reepschnurmethode ab, aber das ist mir zu heiß.“
9) Die größte Gefahr beim Einbohren?
„Dass man auf einen Fels trifft, den man nicht richtig eingeschätzt hat. Oft sieht man die Risse und weiß, das darf man jetzt nicht angreifen und muss drumherum klettern. Aber das Schlimmste sind so Linsen, so komische Schuppen, bei denen man erst von oben sieht, dass sie nur auf dem Fels liegen und leicht abrutschen. Deshalb ist es für mich immer wichtig, den Stand dort zu machen, wo er aus der Schusslinie der nächsten Seillänge ist.“
10) Wie hältst du es mit dem Putzen?
„Ich habe das Gefühl, dass die Leute mittlerweile eine gewisse Qualität von meinen Routen erwarten. Deshalb traue ich mich gar nicht mehr, nicht zu säubern. Wobei ich auch gemerkt habe, dass es oft nichts bringt, alle Grasbüschel zu entfernen. Im Gegenteil, es ist mir schon passiert, dass nach einer motivierten Putzaktion das Wasser dann an Stellen kommt, wo es vorher nicht war, und durch Frostsprengung ganze Teile meiner Routen zerstört werden. Also lose Steine ja, Gras nein.“
11) Anfängertipp?
„Am meisten bekommt man sicher mit, wenn man mit einem mitgeht, der schon viel Routine hat. Sonst zahlt man ganz viel Lehrgeld.“
12) Die Moralpredigt zum Schluss?
„Ich erhoffe mir schon einen Respekt und ein Gefühl für Linienwahl von Erstbegehern, damit sie andere Linien nicht zerstören. Und den Egoismus ablegen, einfach überall quer reinzubohren ohne Rücksicht auf Verluste. Eigenständige Linien sollte man bewahren.“
2. „Der Bohrwütige“: Peter „Pesche“ Wüthrich
Am groß gewachsenen, stets gut gelaunten Blondschopf kommt man in der Schweiz nicht vorbei, wenn es ums Thema Erschließen geht. In den 80ern wiederholt Pesche viele der damals schwierigsten Routen oder macht gar die erste Rotpunktbegehung. Mit seiner langen, blonden Mähne und seinem athletischen Körper ziert er regelmäßig die Klettermagazine und kann sich dank einer Teilzeitanstellung voll und ganz dem Klettern widmen.
„Wenn du damals hart klettern wolltest, dann musstest du auch selber bohren. All die schwierigen Routen waren ja noch nicht entdeckt“, erinnert er sich heute. Im Routenbohren erkennt er aber bald mehr als bloß das Erschließen neuer Klettergrade. „Es ist das Entdecken von etwas Neuem, das mich auch heute noch mit größter Freude losziehen lässt.
Während es am Anfang noch darum ging, möglichst schwierige Routen zu finden, geht es bei mir längst nicht mehr um den Grad, sondern um das Ganze: einen Felsen finden, die ideale Linie finden, die Bolts am richtigen Ort platzieren.“ Inzwischen hat Pesche rund 1500 Routen vornehmlich in der Schweiz eröffnet.
Sein Name wird vor allem mit dem Tessin verbunden. Als Pesche 1998 in die Südschweiz zieht, wo die Sonne oft scheint und die rauen Gneis-Felsen von Palmen und Kastanienwäldern gesäumt sind, setzt er sofort neue Impulse. Zwar sind die lokalen Kletterer um Locarno nicht untätig, widmen sich aber vor allem der Reibungskletterei auf den großen Gneisplatten. Senkrechte oder gar überhängende Routen gibt es nur vereinzelt.
Pesche bringt genau diesen Spirit mit. „Ich konnte einfach loslegen, das Potenzial war unendlich.“ Er richtet eigenhändig ganze Klettergärten ein, von denen viele zu den beliebtesten im Tessin (wenn nicht sogar schweizweit) gehören. Dass seine Klettergärten dereinst so viele Menschen begeistern, ahnt er damals nicht. „Wenn heute jemand zu mir kommt und sich bedankt, ist das natürlich auch eine Bestätigung und ein Antrieb.“
Inzwischen lebt er wieder nördlich des Gotthards im Kanton Bern. Und auch wenn die Felsen dort schon länger im Fokus der Kletterer stehen, gibt es für einen wie Pesche noch viel zu entdecken.
Zum Artikel: „Seine Leidenschaft altert nicht – die Haken aber schon“
3. „Die Wahnsinnigen“: Claude und Yves Rémy
Wie viele Seillängen das Brüderpaar Claude und Yves Rémy erstbegangen hat, ist nicht so ganz genau bekannt. Fest steht: Es sind sehr viele. Mit zwischen 12 000 und 14 000 Seillängen sind sie weltweit die Rekordhalter unter den Erschließern. Im Schweizer Waadtland groß geworden, gehen die Brüder schon früh mit dem Vater Marcel auf Bergtouren.
Die Herangehensweise des Vater-Söhne-Trios ist stets unerschrocken und pragmatisch, Ausrüstung kaum vorhanden. So sollen sie am Wochenende mit demselben Seil geklettert sein, mit dem Vater Marcel unter der Woche das getrocknete Gras zum Vieh schleppte. Mit dem Minimum an Ausrüstung und Zeit stets das Maximum rauszuholen, war das Motto.
Die Felswände, derer sie sich annehmen, sind entweder Neuland oder aber es gibt kein Topo. Dass Claude und Yves insofern die perfekte „Erstbegeherschule” durchliefen, versteht sich von selbst. In ihren ersten Routen lassen sie kaum Metall zurück, zu kostbar sind die Schlaghaken. Das ändert sich, als sie in den 70ern eine Partnerschaft mit dem Ausrüster Mammut eingehen, der Deal:
Ausrüstung gegen Feedback. Zwischen 1975 und 1985 hinterlassen sie 6000 Bohrhaken, allesamt von Hand gesetzt. Im Kalkfels dauert es 15 Minuten, ein Loch von Hand zu schlagen. Im Granit sind es 45 Minuten – oft müssen zwei Haken pro Seillänge ausreichen. Ab 1986 besitzen sie eine Bohrmaschine, jetzt setzen sie über 2000 Haken im Jahr.
Das Routenerschließen steht bei den Brüdern stets an vorderster Stelle. Sie machen zwar Lehren als Mechaniker und Klempner, doch die sind nur Mittel zum Zweck. Die zwei machen nie ein Geheimnis daraus, dass ihre Zeit primär der Vertikalen gehört. In der Schweiz ist bald jede größere Wand mit dem Namen Rémy verbunden. Ganze Gebiete, wie etwa das Eldorado mit der legendären Motörhead am Grimselpass, gehen auf ihr Konto.
Heavy Metal ist nicht nur die Musik, die sie begleitet. „Als wir 1981 zwischen Lausanne und dem Grimselpass hin- und herfuhren, bescherte uns die unermüdliche Motörhead-Kassette euphorische Autofahrten. Sogar der Wagen zuckte vor Freude über die bahnbrechende Heavy-Metal-Musik. Wir ließen die Fenster geschlossen, um uns nicht das Geringste des inspirativen Zaubers entgehen zu lassen und um zu vermeiden, dass draußen irgendwelche Tiere traumatisiert wurden“, sagt Claude Rémy 2015 gegenüber der Neuen Zürcher Zeitung.
Ihr Wirken geht längst weit über die Landesgrenze hinaus, schon in den 80ern gehörten sie zu den Pionieren im jordanischen Wadi Rum. In jüngerer Zeit trugen sie zum Gedeihen des Sportkletterns in Griechenland bei: 600 Touren auf Kalymnos und weitere in Leonidio. Auf ihr Lebenswerk rückblickend sagen sie in einem Interview von 2022: „Wir sind Wahnsinnige. Es gibt Sexbesessene, aber wir sind Felsbesessene. Oder Boltbesessene.“
Zum SAC-Artikel: „Die Gebrüder Remy – ein Leben fürs Routenbauen“
4. „Der Altruist“: Andreas Nothdurfter
Fragt man den Tiroler Berg- und Skiführer Andreas Nothdurfter danach, welche seiner Erstbegehungen die wichtigste für ihn war, kommt es wie aus der Pistole geschossen: „Herzschlag der Leidenschaft“. Diese Linie mit 32 Seillängen und 1700 Klettermetern in einer 1100 Meter hohen Wand haben er und sein Bruder Thomas im Jahr 2011 eröffnet.
Die Route am Sonnjoch im Karwendelgebirge hat es in den Ostalpen-Auswahlführer „Longlines“ von Adi Stocker geschafft und ist inzwischen ein moderner Klassiker geworden. Mehr als 145 Wiederholungen zählt die Marathonkletterei inzwischen, die frei geklettert mit einem Überhang im Grad VIII+ aufwartet. Die vielen Wiederholer:innen sind neben dem kurzen Zustieg auch der perfekten Absicherung geschuldet.
Andi will nämlich keine Denkmäler seiner eigenen Kühnheit hinterlassen, sondern „möglichst vielen Wiederholern eine gute Zeit bereiten“. Was ihn sonst noch so motiviert zum Erstbegehen? Die alten Bergsteigerlegenden, wie Hermann Buhl oder Hias Rebitsch, hätten immer schon eine große Faszination auf ihn ausgeübt. Sie haben neue Wege durch Wände gefunden, die noch nie zuvor von Menschenhand berührt wurden. Diese Unberührtheit gibt es in unserer zivilisierten Welt kaum mehr.
Ein Stück Fels anzugreifen, wo noch nie jemand war, ein Stück Landschaft neu zu entdecken, übe einen großen Reiz aus, so Andi. Dass sich Rebitsch und Co. ohne Vorkenntnisse in solche großen Wände wie die Laliderer-Nordwand einzusteigen trauten, sei einfach nur beindruckend. Auch wenn man inzwischen mit dem Bohrhaken das Abenteuer und das Risiko verkleinere, so könne man doch immer noch Pioniergeist bei einer Erstbegehung zur Entfaltung bringen und darf ein bisschen Christoph Columbus spielen.
Sich ein klein wenig wie eine Miniaturausgabe von Hans Dülfer, Dibona und Konsorten fühlen zu dürfen, sei schön. Wichtig ist Andi dabei auch immer, eine intensive Zeit mit einem guten Freund oder seinem Bruder Thomas zu verbringen. Gemeinsame Abenteuer und Erstbegehungen schweißen schließlich zusammen und schaffen wundervolle Erinnerungen. Inzwischen blickt Andi auf über 600 erstbegangene Einzelseillängen zurück und genauso wie sich der leidenschaftliche Blasmusikant Andi Nothdurfter über viele Zuhörer freut, freut sich der Erstbegeher in ihm über jede einzelne Wiederholerin und jeden Wiederholder. Denn, so sein Leitspruch: „Das Brot der Erstbegeher sind die Wiederholer.“
5. „Der Kreative“: Uwe Eder
geboren 1971, ist nicht nur im Hauptberuf Ausbilder bei der Bergrettung Tirol und Meister des surrealen Humors, sondern einer der Haupterschließer im Zillertal. An die 1000 erstbegangene Seillängen kann er inzwischen auf seinem Konto verbuchen. Der Löwenanteil davon findet sich im erwähnten Tiroler Seitental, wo er zudem als Führerautor für Mehrseillängentouren aktiv war.
Doch Uwe auf einen Zillertaler Lokalmatador zu reduzieren, greift viel zu kurz. Seine unbändige Neugier und sein reiselustiges und offenes Wesen führten ihn klettertechnisch um die ganze Welt. Ob im amerikanischen Yosemite oder am australischen Mt. Arapiles, fast überall finden sich Spuren von ihm. „Wenn ich eine schöne Linie am Felsen entdecke, beginnt ein kreativer Prozess in mir. Der Wunsch wächst und wächst im Kopf und irgendwann bleibt nichts anderes übrig, als zum schöpferischen Akt zu schreiten (lacht).“
Dabei ist das Routenerschließen für ihn Meditation und Yogaübung zugleich, weil er so fokussiert im Moment sein darf und völlig abschalten kann. „Ich mache es in erster Linie für mich selbst, aber ich will die Routen so hinterlassen, dass auch die Wiederholer eine Gaudi haben.“ Auch die Herangehensweise hat sich über die Jahre verändert. Als er um 1986 seine erste Route an der Auplatte eingerichtet hat, brauchte er dafür noch mehrere Tage, um die wenigen Bohrhaken mit dem Handbohrer anzubringen. Seither ist kein Jahr vergangen, in dem er nicht irgendeine neue Route erschlossen hat.
Inzwischen geht es dank „Bosch“ und Routine zehnmal so schnell. Auch die Anzahl der Bohrhaken hat sich aufgrund wachsender Altersmilde erhöht. Besonders stolz ist Uwe darauf, etwas für die nächsten Generationen zu hinterlassen und für die Jugend neue Klettermöglichkeiten zu schaffen. So glitzern seine Augen ganz besonders, wenn er davon erzählt, wie seine kleine Tochter im Alter von 12 Jahren Papas Erstbegehung „Space“ im Grad 8a wiederholen konnte. Genau 20 Jahre nachdem Uwe den Klassiker eingebohrt hat.