Das Auslösen einer Lawine und seine strafrechtlichen Folgen
Der Reiz des freien Geländes
Sonnige Hänge bedeckt mit makellosem Pulverschnee. Traumhafte Abfahrten fernab von überfüllten Pisten und lärmenden Skiliften. Inmitten verschneiter und unverbauter Winterlandschaften für einen Moment der Hektik des Alltags entfliehen. Dies sind nur einige Gründe, weshalb Skitouren und andere Wintersportarten im freien Gelände in den letzten Jahrzehnten so beliebt geworden sind. Waren es zunächst fast ausschließlich Personen mit langjähriger Bergerfahrung, so wagen sich heute auch deutlich weniger Erfahrene in das Abenteuer abseits der präparierten Pisten.
Insbesondere in den letzten Jahren hat sich dieser Trend weiter verstärkt. Nicht zuletzt durch die pandemiebedingten Maßnahmen, die zu Einschränkungen in der Nutzung von Skigebieten führten, widmeten sich immer mehr Menschen dem Skitourengehen bzw. Schneeschuhwandern. Allerdings kommt es bei der Ausübung von Bergsport im freien Gelände häufig zu Unfällen. So besteht u. a. die – nach Lage und herrschenden Schnee- bzw. Wetterverhältnissen unterschiedlich ausgeprägte – Gefahr, eine Lawine auszulösen.
Tritt dieser Fall ein, kann es schnell zu Verschüttungen kommen, mit Verletzungen oder dem Tod der verschütteten Personen als mögliche Folge. Wenngleich längst nicht bei allen Lawinenabgängen Menschen zu Schaden kommen, kann das Auslösen einer Lawine trotzdem strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen.
Was umfasst der freie Skiraum?
Um diese Thematik näher einzugrenzen, bedarf es zunächst einer genaueren Betrachtung des Begriffs des „freien Skiraumes“. Dieser Begriff ist durch eine Negativdefinition gekennzeichnet: Der freie Skiraum umfasst grundsätzlich all jene Gebiete, die nicht in den organisierten Skiraum fallen. Letzterem sind alle Skipisten (sowohl jene für die Nutzung des allgemeinen Publikums als auch jene zu Trainings- bzw. Rennzwecken), aber auch Snow-Parks und Ähnliches zuzuordnen.
Vereinfacht lässt sich somit sagen: Alles, was nicht einem Skigebiet angehört, stellt freien Skiraum dar. Um einige Beispiele zu nennen: Skitourengeher*innen und Schneeschuhwander*innen, die sich außerhalb des organisierten Skiraumes bewegen, aufsteigen und/oder abfahren/absteigen; Varianten- Fahrer*innen, die mit der Seilbahn nach oben fahren. Aus rechtlicher Sicht spielt diese Abgrenzung eine wesentliche Rolle bei der Untersuchung der Haftungsfrage für ein bestimmtes Unfallereignis.
Bei einem Unfall innerhalb des organisierten Skiraumes ist die Frage nach einer möglichen Verantwortlichkeit der Betreiber*innen unausweichlich. Diese haben gegenüber den Benützer*innen der Piste bestimmte Schutzpflichten, die sich, je nach Einzelfall, auch auf einen Bereich abseits der Piste bzw. den unmittelbar an die Piste angrenzenden Bereich erstrecken können.
Ist ein Unfall auf die Vernachlässigung dieser Pflichten vonseiten der Betreiber*innen zurückzuführen, so kann grundsätzlich von einer strafrechtlichen Verantwortung für Körperverletzung bzw. fahrlässige Tötung (je nach Unfallfolge) ausgegangen werden. Ereignet sich ein Unfall im freien Skiraum, gestaltet sich die Analyse der strafrechtlichen Folgen ganz anders.
Merkblatt „Achtung Lawine!“ faltbarer Flyer zum Mitnehmen
Dabei erscheint die Frage nach der möglichen Verantwortung für das Auslösen einer Lawine besonders relevant. Ob und in welchen Fällen eine Lawine für das Strafrecht relevant ist, hängt zunächst davon ab, wo bzw. im Territorium welchen Staates sich der Lawinenabgang ereignet hat. So kann es einen großen Unterschied machen, ob die Lawine z. B. nördlich oder südlich des Alpenhauptkamms ausgelöst wurde.
Rechtslage in Österreich
In der österreichischen Rechtsordnung gibt es keine strafrechtlichen Bestimmungen, die sich spezifisch auf das Auslösen einer Lawine beziehen. Dementsprechend sind all jene Fälle, in denen eine Person schuldhaft eine Lawine verursacht, zunächst anhand der allgemeinen Strafbestimmungen zum Schutz von Leib und Leben zu beurteilen. Wird eine Lawine ausgelöst, durch die eine oder mehrere Personen verletzt oder getötet werden, kommen in erster Linie die Straftatbestände der fahrlässigen Körperverletzung (§ 88 StGB) sowie der fahrlässigen (§ 80 StGB) und grob fahrlässigen Tötung (§ 81 StGB) zum Tragen. Was aber in all jenen Fällen, in denen eine Lawine keine Personen verletzt oder gar tötet?
Kann das Auslösen einer solchen strafrechtliche Folgen mit sich bringen? In diesen Fällen ist eine mögliche Anwendbarkeit der Straftatbestände der Gefährdung der körperlichen Sicherheit (§ 89 StGB) und der fahrlässigen Gemeingefährdung (§ 177 StGB) zu prüfen. Diese stellen auf die alleinige Gefährdung von einem oder mehreren Menschen ab. Im österreichischen Strafrecht liegt eine solche Gefährdung immer dann vor, wenn diese konkret ist und somit Personen wirklich gefährdet werden.
Hier ein Beispiel. Löst ein Tourengeher eine Lawine aus, die auf einem Weg- oder Pistenabschnitt niedergeht, so liegt eine konkrete Gefährdung vor, wenn dadurch Menschen lediglich durch Zufall oder durch Glück nicht verletzt werden. Dementsprechend ist eine konkrete Gefährdung zu bejahen, wenn sich ein im Gefahrenbereich aufhaltender Skifahrer gerade noch in Sicherheit bringen kann oder von der Lawine mitgerissen, aber nicht verschüttet wird.
Befindet sich zurzeit des Lawinenabganges jedoch niemand im betroffenen Abschnitt, so sind die besagten Straftatbestände nicht erfüllt. Denn allein die Tatsache, dass eine Skipiste zum Zeitpunkt des Lawinenabganges in Betrieb ist, reicht für eine konkrete Gefährdung von Personen noch nicht aus.
Rechtslage in Italien
Bei der Beurteilung der strafrechtlichen Folgen für die Auslösung von Lawinen, die die Verletzung oder den Tod einer oder mehrerer Personen verursachen, finden in Italien zum einen die Strafbestimmungen zum Schutz des Lebens und der persönlichen Unversehrtheit Anwendung. Ähnlich der österreichischen Rechtsordnung ist in diesen Fällen eine mögliche Strafbarkeit für fahrlässige Körperverletzung (Art. 590 Codice penale) oder fahrlässige Tötung (Art. 589 Codice penale) zu prüfen.
Zum anderen – und im Unterschied zu Österreich – gibt es im italienischen Strafrecht spezifische Bestimmungen für das Auslösen u. a. einer Lawine. Gemeint ist der sog. Naturkatastrophentatbestand, der sowohl das vorsätzliche (Art. 426 Codice penale) als auch das fahrlässige Verursachen einer Überschwemmung, eines Erdrutsches oder einer Lawine (Art. 426 Codice penale i. V. m. Art. 449 Codice penale) unter Strafe stellt. Konkret sieht das italienische Strafgesetzbuch bei vorsätzlichem Verhalten eine Gefängnisstrafe von fünf bis zwölf Jahren, bei Fahrlässigkeit eine Gefängnisstrafe von ein bis fünf Jahren vor.
Allerdings fällt nicht jedes Lawinenereignis in den Anwendungsbereich dieser Straftatbestände. Eine erste Voraussetzung bezieht sich auf das Ausmaß bzw. die Größe der ausgelösten Lawine. Dem Wortlaut des Art. 449 Codice penale entsprechend – „Unglück“ (disastro) – ist nicht jede Schneebewegung strafrechtlich relevant. Hierfür bedarf es nach italienischer Lehre und Rechtsprechung vielmehr einer Lawine erheblichen Ausmaßes. Dies ist z. B. bei kleineren Schneeumlagerungen ohne Verschüttungsgefahr sicherlich nicht gegeben.
Außerdem – und auch hier ist das Ausmaß der Lawine von Bedeutung – muss durch das Lawinenereignis eine Gefährdung des durch die Straftatbestände geschützten Rechtsgutes der öffentlichen Unversehrtheit erfolgen. Dieses besteht grundsätzlich im Schutz des Lebens, der persönlichen Unversehrtheit sowie der Gesundheit „einer unbestimmten Anzahl von Personen“.
Pflicht zur Mitnahme der Lawinenschutzausrüstung?
Ist es bereits zur Verschüttung gekommen, können nur noch die Lawinenschutzausrüstung und der richtige Umgang mit dieser Schlimmeres verhindern. In Österreich ist die Mitnahme dieser Ausrüstung nicht verpflichtend. In Italien wurde mit Art. 26 GvD Nr. 40/2021 hingegen eine solche Verpflichtung für alle Personen, die sich im verschneiten Gelände bewegen (wie z. B. Skitourengeher* innen, Variantenskifahrer*innen, Schneeschuhwander*innen usw.), eingeführt.
Diese müssen immer dann ein Lawinensuchgerät, eine Sonde und eine Schaufel mitführen, wenn aufgrund der herrschenden Schnee- und Wetterbedingungen Lawinengefahr besteht. Wenn das angestrebte Ziel dieser Maßnahme mehr Sicherheit bei der Ausübung dieser Sportarten ist, ist doch nicht außer Acht zu lassen, dass neben dem Mitführen dieser Ausrüstung auch kompetenter Umgang damit notwendig ist, um dies zu erreichen.
Anders als in der österreichischen Rechtsordnung genügt für die Anwendbarkeit des Naturkatastrophentatbestandes nach Art. 426 i. V. m. 449 Codice penale, dass die durch die Lawinenauslösung entstandene Gefährdung lediglich „abstrakt“ ist. Das heißt, es muss allein theoretisch möglich sein, dass durch die Lawine eine oder mehrere Personen gefährdet werden. Der Umstand, dass sich zum Zeitpunkt des Lawinenabganges im Gefahrenbereich keine Menschen aufhalten und dementsprechend konkret gefährdet sind, ist irrelevant.
Andererseits ist eine strafrechtliche Relevanz einer Lawine dann auszuschließen, wenn diese in Gebieten abgeht, in denen aufgrund ihrer Abgelegenheit bzw. schweren Zugänglichkeit von vorneherein nahezu ausgeschlossen ist, dass Personen gefährdet werden könnten. Um besser einordnen zu können, wann eine abstrakte Gefährdung gegeben ist, wurde das Konzept des sog. anthropisierten Geländes erarbeitet. Unter diesen Begriff fällt ein Gelände, in dem mit der Anwesenheit von Menschen in der Regel gerechnet werden kann und somit die Gefährdung der öffentlichen Unversehrtheit immerhin real scheint.
Unstrittig ist dies, wenn sich der Gefahrenbereich einer Lawine auf ein bewohntes Gebiet, einen Wanderweg oder etwa eine Skipiste erstreckt. Schwieriger wird es, wenn z. B. ein Skitourengeher eine Lawine auslöst und diese in einem schwer zugänglichen Bereich niedergeht. In diesem Zusammenhang hat der Kassationsgerichtshof in Rom zuletzt eine sehr weite Auslegung der Strafnorm gewählt, die die Lehre des anthropisierten Geländes ins Wanken bringt.
In dem der Entscheidung zugrunde liegenden Einzelfall lösten zwei Variantenfahrer eine Lawine aus, nachdem sie die Abgrenzung am Pistenrand überwunden und gegen ein geltendes Verbot in ein schwer zugängliches Gebiet vorgedrungen waren. Der Kassationsgerichtshof bejahte das Bestehen einer abstrakten Gefährdung durch das Auslösen dieser Lawine. Gemäß Urteilsbegründung könne eine solche Gefährdung nicht bereits dadurch ausgeschlossen werden, dass sich in dem vom Lawinenabgang betroffenen Gebiet keine Straßen, Pisten oder Gebäude befinden.
Vielmehr könne durch das Vordringen in ein bestimmtes Gebiet vonseiten des Auslösers der Lawine selbst immer darauf geschlossen werden, dass auch andere Personen vor Ort hätten sein können. Dieser Interpretation folgend erweitert sich der Anwendungsbereich der besagten Strafnormen um ein Vielfaches. Denn durch diese ist die Voraussetzung der möglichen Gefährdung anderer Personen, auch bei einem noch so entlegenen Gebiet, schon bereits dadurch erfüllt, dass jene Person, die die Lawine ausgelöst hat, in dieses vorgedrungen ist.
Gemeinsamkeiten & Unterschiede
Betrachtet man die in Österreich und in Italien vorgesehene strafrechtliche Regelung der Auslösung einer Lawine, so sind einerseits gewisse Gemeinsamkeiten bzw. Ähnlichkeiten erkennbar. So ist in beiden Rechtsordnungen die strafrechtliche Relevanz einer Lawine nur dann zu bejahen, wenn diese ein bestimmtes Ausmaß erreicht. Außerdem ist in beiden Rechtssystemen die Strafbarkeit einer Person nur in jenen Fällen anzunehmen, in denen der Lawinenabgang zumindest fahrlässig verursacht worden ist. Andererseits bestehen aber auch große Unterschiede.
Insbesondere das Erfordernis einer konkreten Gefährdung in Österreich und einer abstrakten Gefährdung in Italien sticht hierbei heraus. Ist es in Österreich notwendig, dass bestimmte Personen durch die Lawine tatsächlich gefährdet werden, reicht südlich des Brenners eine theoretische Gefährdung einer unbestimmten Anzahl von Personen aus. Dieser an sich bereits wesentliche und praxisrelevante Unterschied in der strafrechtlichen Regelung der Lawinenauslösung wird durch die oben beschriebene Rechtsprechung des Kassationsgerichtshofes in Rom weiter verstärkt.
Forschungsprojekt „Naturgefahr Berg: Risikomanagement & Verantwortung”
Universität Innsbruck, 2020–22
Dieses interdisziplinäre Euregio-Forschungsprojekt hat die Untersuchung verschiedener, bei Bergunfällen auftretender strafrechtlicher Fragestellungen zum Gegenstand. Als Projektpartner sind die Universität Innsbruck/Institut für Italienisches Recht (Leadpartner), EURAC Research Bozen, die Freie Universität Bozen und die Universität Trient involviert.
Wichtige Projektpartner sind darüber hinaus der Österreichische Alpenverein (ÖAV), der Alpenverein Südtirol (AVS), das Amt für Geologie und Materialprüfung der Autonomen Provinz Bozen, die Geologenkammer Trentino- Südtirol, die interregionale Lawinenagentur AINEVA, die Agentur für Bevölkerungsschutz der Autonomen Provinz Bozen, der Club Alpino Italiano (CAI), der Club Alpino Italiano – Gruppo Regionale Alto Adige und die Società degli Alpinisti Tridentini (SAT). Das Forschungsprojekt wird von der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol –Abteilung Innovation, Forschung, Universität und Museen über die Ausschreibung „Research Südtirol/Alto Adige“ – 2019 gefördert. Weitere Informationen zum Projekt.
Literatur
- Bertel, Christian; Schwaighofer, Klaus: Österreichisches Strafrecht. Besonderer Teil II (§§ 169 bis 321k StGB). Wien 2020, 6 ff.
- Bertel, Christian; Schwaighofer, Klaus; Venier, Andreas: Österreichisches Strafrecht. Besonderer Teil I (§§ 75 bis 168d StGB). Wien 2020, 45 ff.
- Fuchs, Helmut; Zerbes, Ingeborg: Strafrecht Allgemeiner Teil I. Wien 2021, 116 f. Helfer, Margareth: Je unberechenbarer, desto weiter? – zum strafrechtlichen Schutz kollektiver Rechtsgüter vor Naturgefahren. ZSTW, 2020, 132, 2, 502 ff.
- KassGH, Sek. IV, 2. April 2019, Nr. 14263.
- Kritzinger, Monika: Lawine und Strafrecht. Ein Rechtsvergleich zwischen Italien und Österreich. Dissertation, Univ. Innsbruck, 2014.
- Rathgeb, Hans; Egger, Peter Wolfgang: Schitour, Variante und Freeriden – Strafrecht „Abseits der Piste“, in Pilgermair, Walter (Hrsg.): Skisport und Recht. Wien 2021, 265 ff.
- Stabentheiner, Johannes: Haftungsfragen im freien Skiraum, in Pilgermair, Walter (Hrsg.): Skisport und Recht. Wien 2021, 346 ff.
- Summerer, Kolis: I reati di disastro naturale: inondazione, frana o valanga (art. 426) e danneggiamento seguito da inondazione, frana o valanga (art. 427), in Cadoppi, Alberto; Canestrari, Stefano; Manna, Adelmo; Papa, Michele (Hrsg.): Trattato di diritto penale, Parte speciale IV. I delitti contro l’incolumità pubblica