Blind auf den Cerro Torre
Gabriel Tschurtschenthaler, 34, hat wegen der genetisch bedingten Netzhauterkrankung Retinitis pigmentosa nur noch zehn Prozent seines Augenlichts, „bei guten Lichtverhältnissen“, wie er sagt. Es könne aber auch gegen Null gehen, wobei er den Ausdruck „blind“ vermeiden möchte. Lieber sei ihm da noch der Begriff „sehbehindert“. Trotz dieser Einschränkung begann der in Sexten aufgewachsene und als Kind – damals noch mit besserem Sehvermögen – am Felsen sozialisierte Südtiroler vor sechs Jahren wieder mit dem Bergsteigen. Erst im Dezember erklomm der gelernte Maschinenbauer und Heilmasseur gemeinsam mit den Osttiroler Bergführern Vittorio Messini und Matthias Wurzer den Cerro Torre in Patagonien über die Westwand; zuvor hatte er bereits den Großglockner über die Mayerlrampe und die Große Zinne über die Comici-Route bestiegen. Ein Gespräch über gutes Licht, die Vorteile von Jiu-Jitsu bei vorlauten Bergführern – und wo das Vertrauen in die Partner an seiner Seite endet.
War es eigentlich mal wieder die Blindheit eines Sehenden, unser Interview per Video-Konferenz zu führen? Oder bringt dir das mehr als ein Telefonat?
Ehrlich gesagt bringt mir das nichts, ich kann am Bildschirm nichts erkennen. Wir hätten also auch telefonieren können. Aber für dich als Gesprächspartner ist es ja interessanter, deshalb passt das schon.
Wie ist für jemanden, der am Bildschirm eigentlich nichts erkennt und – im besten Fall – zehn Prozent Sehstärke hat, ernsthaftes Bergsteigen überhaupt möglich?
Indem man sich wirklich gut darauf vorbereitet und – das ist das A und O – sich mit den Kletterpartnern einspielt. Ohne die Erfahrung von Bergführern und einem harmonisierenden Team geht gar nichts. Wenn man mit jemandem neuen unterwegs ist, dauert es auch immer seine Zeit, bis der Partner weiß: Wo brauche ich Hilfe, wo geht es gut, welches Gelände bietet sich für mich an. Beim Felsklettern ist für mich beispielsweise der dritte Grad sicher härter als der fünfte Grad – wegen der Absicherung, der Orientierung, weil oft Gehgelände dabei ist. Das ist für mich unangenehmer als ein Kamin, wo ich nur mit allen Vieren nachsteigen muss.
Aber ganz ehrlich: Wie klettert man nahezu blind die Comici, einen alpinen Siebener, an der Großen Zinne? Das ist schwer vorstellbar.
Natürlich ist der siebte Grad für mich eine brutale Herausforderung. Aber dort ist zum Beispiel der Abstieg über den Normalweg das größere Fragezeichen gewesen als die Route an sich. Wir sind ja auch nicht von null auf Comici gegangen. Ich bin mit Daniel (Rogger, d.Red.) und Vitto (siehe Kasten), zwei befreundeten Bergführern, seit Längerem immer wieder unterwegs gewesen und habe mich dabei langsam gesteigert. Dabei hat es sich bewährt, dass man zu dritt ist. Um bei der Comici zu bleiben: Vito ist alles vorgestiegen, Daniel ist knapp vor mir geklettert und hat die Griffe angesagt, gerade an den schwierigen Passagen oder den Quergängen. Bei gewissem Gelände halte ich mich auch beim Vordermann am Rucksack fest oder wir seilen Passagen ab, die man normal eher absteigen würde.
Schreien die Bergkollegen dann ständig Kommandos: Links! Rechts! Oben!?
Bis etwa zum hohen fünften Grad bin ich relativ selbständig unterwegs – wobei das je nach Fels unterschiedlich ist. In Patagonien zum Beispiel mit der ständigen Plattenkletterei im Granit, da ist es für mich ohne Ansagen extrem schwierig. Die Drei Zinnen in den Dolomiten mit den vielen Leisten bieten sich da besser an. Aber auch dort sagt Daniel in den wirklich schwierigen Passagen schon: Steig da rechts her und dann kriegst mit der linken Hand einen g’scheiten Henkel, oder so. Da muss man gerade bei Routen wie der Comici auch den Stolz beiseite legen, schon allein, um Zeit zu sparen. Ein ständiges Kommandieren ist es aber nicht.
In Patagonien, wo du vor Kurzem am Cerro Torre geklettert bist, war der Zustieg relativ lang.
Da fragt man sich schon, warum man eine Tour aussucht, bei der man 85 Prozent wandert. Die reine Kletterei würdest du in den Westalpen wohl auch finden, speziell in meinem Fall, wo der Aspekt mit der Aussicht nicht so wichtig ist. Aber was es heißt, so weit weg von der Zivilisation zu sein, diese Abgeschiedenheit; das habe ich noch nie so intensiv erlebt wie in Patagonien. Auch in dem Wissen klettern zu gehen: Wir sind auf uns gestellt. Und ob man will oder nicht: Die Frage, wie ich damit umgehe, die macht etwas im Kopf. Dieses Gefühl hatte ich an der Zinne oder am Großglockner nicht.
Wie wichtig ist das Licht für dich?
Eigentlich sehr wichtig. Trotz der höchstens zehn Prozent Sehstärke, die wenig klingen, ändert sich für mich extrem viel, wenn das Licht passt. Auch wenn ich den Griff dann trotzdem nicht sehe. Viel Sonne ist für mich zum Beispiel voll anstrengend. Ich bin sehr lichtempfindlich, trage deshalb oft Sonnenbrille oder dunkle Kontaktlinsen.
Was ist für dich ein gutes Licht?
Ein warmes, eher gedämpftes Licht. Schwer tue ich mich dagegen, wenn es ganz oft zwischen hell und dunkel wechselt, zum Beispiel bei einem Zustieg durch einen Wald mit viel Licht und Schatten. Es braucht bei mir lange, bis sich die Pupille neu anpasst.
Wie war das Licht in Patagonien? Oder ist das überall gleich?
Was ich positiv empfunden habe, war, dass es so lange hell ist. Das ist einfach gut, wenn abends um halb elf erst langsam die Dämmerung einsetzt. Und auch die dämmrige Phase war etwas länger. Für mich ist die Dämmerung ein feines Licht; deshalb fühle ich mich beim Eisklettern und im Schatten der Nordwände auch wohler.
Hast du deshalb unter anderem die Mayerlrampe am Großglockner und am Cerro Torre die Westwand, beides Eisrouten, durchstiegen? Weil das Eis sichttechnisch angenehmer ist als der Fels?
Gar nicht nur sichttechnisch. Man hat einfach auch mehr Möglichkeiten. Ich hätte mir das gar nicht bewusst ausgesucht, wenn mich Daniel nicht auf die Idee gebracht hätte. Ich habe dann aber schnell gemerkt: Ob ich das Steigeisen oder den Pickel jetzt fünf Zentimeter rechts oder links reinhack‘ ist bis zu einem gewissen Schwierigkeitsgrad komplett wurscht. Da kannst du relativ gut Gas geben. Auch sind die Zustiege im Winter – mit Tourenskiern oder Schneeschuhen – für mich oft ideal.
Gerade beim Zustieg sei die Kampfsportart Jiu-Jitsu, die du schon lange ausübst, ein „brutaler Vorteil“. Das hat zumindest einer deiner Begleiter, Matthias Wurzer, gesagt.
Das sagt er ja nur, weil er gegen mich verloren hat, nachdem er Jiu-Jitsu als „Kuscheln“ bezeichnet hatte. Im Ernst: Was mich beim Bergsteigen schon rettet, ist einfach meine körperliche Fitness. Ich verbrauche viel mehr Energie als andere, speziell beim Gehen, weil ich nicht sehe, ob die nächste Stufe 20 Zentimeter oder einen halben Meter tief ist. Und ich würde nicht einmal die Kampfsportart als großen Vorteil sehen, sondern dass ich in diesem Gelände groß geworden bin. Jemand, der seine Kindheit in der Stadt verbracht hat und nicht so diesen Zugang zu den Bergen hatte, tut sich sicher schwerer mit so einem Handicap. Dafür habe ich in der Stadt länger gebraucht, mich zurechtzufinden.
Du wohnst in Wien, um dort deinem Beruf als Heilmasseur nachzugehen. Was ist dort für einen Menschen mit derart eingeschränkter Sicht anders als in den Bergen?
In der Stadt ist sicher mein Blindenhund Caruso ein riesiger Vorteil. Durch den bin ich einfach selbständig; da bin ich safe. Die Mitmenschen erkennen durch den Hund auch gleich, was Sache ist. Und Wien ist in Sachen Barrierefreiheit auch ziemlich weit. Andererseits bin ich etwas sensibel für den Lärm, den es in den Bergen nicht gibt. Dafür bin ich dort nicht auf den Blindenhund angewiesen, sondern auf die Bergkameraden.
Viele Bergsteiger gehen wegen der Aussicht in die Berge, schwärmen von den Panoramen und dem Weitblick. Was ist dein Antrieb?
Klar, die Aussicht auf dem Gipfel ist das nicht. Ich suche mir Projekte, hinter denen ein Fragezeichen steht, wo nicht sicher ist, ob es funktioniert. Mir taugt es, auf etwas hinzuarbeiten, einer Idee wie der Comici zu verfallen. Das hat sich vier Jahre hingezogen. Man muss auch nicht immer etwas Härteres klettern; es darf auch einmal Genuss im vierten Grad sein. Und dieser kleine Aspekt, dass man die Aussicht nicht hat? Dafür nimmt man andere Sachen vielleicht intensiver wahr, wenn man sich nicht nur aufs Visuelle konzentriert.
Welche Sinne werden besonders bei dir beansprucht?
Das Hören. Und bei mir geht viel übers Riechen. Als ich in Patagonien in El Chaltén aus dem Bus ausgestiegen bin, ist mir sofort der ganz eigene Geruch in die Nase gegangen. Ich weiß nicht, ob das die anderen wahrgenommen haben, aber mir prägt sich das ein. Und natürlich ist der Tastsinn wichtig, auch wenn der beim Eis manchmal etwas wegfällt. Vielleicht bleibt mir mehr in Erinnerung, was man auf der Tour empfunden hat – ob man total am Limit ist oder welche Gedanken einem durch den Kopf gehen. Ich bin da eher in mir drin.
Du vermarktest dich – anders als etwa der blinde Osttiroler Bergsteiger Andy Holzer – noch kaum. Ist da noch Luft nach oben? Oder ist es wirklich ein reines Hobby?
Ich will mich gar nicht mit irgendjemand anderem vergleichen. Andy macht das sicher super, aber ich weiß nicht, ob das für mich der richtige Weg ist. Als die Idee mit Patagonien aufkam und Vito meinte, das könnte über einen Sponsor laufen, und dass man dann an die Öffentlichkeit treten müsste, habe ich mich auch lange dagegen gewehrt. Da meinte ich erst einmal: Das interessiert mich nicht. Inzwischen habe ich mich damit angefreundet, das als Chance zu sehen, und bin an dem Punkt angekommen, was zu liefern, wenn man für ein Projekt Unterstützung bekommt. In welche Richtung das aber nun genau geht, weiß ich nicht.
Holzers großes Projekt waren die Seven Summits. Hast du einen Berg-Masterplan?
Ich habe eher kleine Ziele, eines nach dem anderen, als nächstes den Ortler. Was aber durch Patagonien schon klar wurde, war, dass wir immer besser funktionieren. Wir sind als Seilschaft schneller und sicherer unterwegs. Einige Ideen, die wir schon abgeschrieben hatten, sind wieder etwas präsenter geworden.
Was wären das für Ideen?
Die Eiger-Nordwand zum Beispiel, die wir schon als Vorbereitungstour in Patagonien im Kopf hatten. Nachdem ich aber am Südwandwächter am Großglockner am Ende der 600 Wandmeter total am Limit war, dachte ich: Das mit dem Eiger, das kannst du total vergessen; nicht mein Gelände. Nach Patagonien glaube ich: Die Tour wäre machbar.
Gibt es überhaupt einen Vorteil, beim Bergsteigen fast blind zu sein?
Man sieht nicht, wie weit es noch ist. Ich vertraue meinen Partnern wie dem Vito und dem Motz wirklich – man muss es so sagen – blind. Aber bei der Frage, wann wir da sind, da hört mein Vertrauen auf.
Ein Projekt wie die Besteigung des Cerro Torre durch Gabriel Tschurtschenthaler funktioniert nicht ohne Helfer; das betont der fast blinde Bergsteiger immer wieder. In diesem Falle heißen die Helfer Vittorio Messini (links im Gipfel-Selfie), Jahrgang 1988, studierter Geologe, und Matthias Wurzer (rechts), Jahrgang 1984, gelernter Schlosser, in der Szene besser bekannt als Vitto und Motz, beide hauptberufliche Bergführer aus Kals in Osttirol und seit mehr als zehn Jahren befreundet, beide Allrounder am Berg mit einem besonderen Faible für Eisrouten, beide Betreiber des Eisparks Osttirol.
Also, wie ist das so im patagonischen Sturm an einem Granitpfeiler, wenn der Dritte im Bunde kaum etwas sieht und man irgendwie ja auch die Verantwortung trägt? Wer dann mit den beiden spricht, hat eher den Eindruck, als hätten sie einem älteren Herrn gerade beim Einkaufen durch die Regale des nächsten Billa geholfen als Gabriel bei Windböen mit mehr als 100 Stundenkilometern durch die Ferrari-Route (600 m, 90 Grad, WI6) der eisigen Westwand auf einen der legendärsten Gipfel weltweit. Mei, sagt also der Vitto, man sei in den vergangenen Jahren eben als Team zusammengewachsen, mit Routen am Großglockner vor allem: am Nordwest-Grat, am Südwandwächter, an der Mayerlrampe. Extrem flott sei der Gabriel am Nordwestgrat gewesen, da war noch Luft drin, so Messini.
Bald darauf wurde das Patagonien-Projekt immer konkreter – obwohl Gabriel bei der Tour am Südwandwächter ans Limit kam. „Da haben wir schon darüber nachgedacht, ob das sinnvoll ist“, meint Wurzer. Es war ja auch in Patagonien keineswegs so, dass alles wie am Schnürchen lief. Zuerst wich das Tiroler Trio auf die – im zweiten Versuch auch erfolgreich bestiegene – Aguja Poincenot (3002 m) aus, weil sich das Wetterfenster nicht wie erhofft für den Cerro Torre geöffnet hatte. Dort scheiterte der erste Anlauf schon am insgesamt rund 40 Kilometer langen Zustieg.
„Wir sind ein Team. Und da muss der privilegierte Teil von uns vielleicht etwas ausgleichen, wenn ein anderer einfach nicht dieselben Möglichkeiten hat.“
Matthias Wurzer
Grobes Moränengelände mit riesigen Granitblöcken – bei 20 Kilogramm Gepäck auf den Schultern für Tschurtschenthaler ein extrem undankbares Gelände – hatte den Dreien den Weg verstellt. Sie verschoben den Rückflug, planten die Auftaktetappe um und heuerten einen Träger an. Auch die Schlüsselseillänge knapp unterm Gipfel ließ die Seilschaft noch einmal zweifeln. Sie benötigten für diese letzten Meter dreieinhalb Stunden. Warum sich die beiden auf ein derartiges Wagnis einlassen, wo nicht nur das Risiko des Scheiterns, sondern auch die Gefahr eines Unfalls ungleich höher ist, wo zu Beginn nicht einmal ganz klar war, wie sie die Expedition finanzieren sollten? Klar, sagt Wurzer, sei es eine Herzensangelegenheit, ein interessantes Projekt. Aber im Grunde geht es letztlich wohl um einen geradezu sozialdemokratischen, ja, romantischen und gar nicht so selbstverständlichen Grundgedanken des von Egoismus geprägten Alpinismus.