Billi Bierling und die 8.000er-Gipfel
Pünktlich zum 70. Jubiläum der ersten Everest-Besteigung ist dein neues Buch erschienen: „Ich hab ein Rad in Kathmandu“. Wie bist du auf den Titel gekommen?
Das Fahrrad ist für mich das beste Fortbewegungsmittel überhaupt, obwohl man selbst in Kathmandu damit im Stau stecken bleibt. Was für Miss Hawley, die vor 60 Jahren mit dem Archivieren der Besteigungen begonnen hat, damals ihr blauer Käfer war, ist für mich mein mittlerweile 19 Jahre altes Fahrrad.
Was können wir uns von deinem Buch erwarten?
Im Buch geht es um vieles mehr als nur ums Bergsteigen, aber meine Arbeit mit der Himalayan Database ist ein zentraler Punkt. Ich erzähle sehr ehrlich und persönlich von meiner Beziehung mit Miss Hawley. Ich habe sie sehr geschätzt, aber ich hatte auch etwas Angst vor ihrer strengen Art.
2016 hast du das Amt von der US-Amerikanerin Elizabeth Hawley, die in der Szene unter dem Namen Miss Hawley bekannt war, übernommen. Wie kam es dazu?
1998 war ich das erste Mal in Nepal und habe mich sofort in das Land verliebt. 2004 gab ich meinen Job als Journalistin in der Schweiz auf. Ich fragte Miss Hawley, ob ich bei ihr in der Himalayan Database mithelfen dürfte. Seither arbeite ich jede Bergsteigersaison im Frühling und Herbst ehrenamtlich in Nepal. Und es macht mir immer noch Spaß. 2016 habe ich das Amt von Miss Hawley übernommen. Mit 92 Jahren wurde ihr die Arbeit einfach zu viel. Im Januar 2018 verstarb sie, nachdem sie mehr als 50 Jahre Buch über die Expeditionen geführt hatte.
Wie genau läuft eure Arbeit bei der Himalayan Database ab?
Wir dokumentieren 472 Expeditionsgipfel Nepals, die meisten Besteigungen finden am Everest statt. Früher haben wir versucht, noch mit jedem Expeditionsteilnehmer oder mit den Leitern persönlich zu sprechen. Heute versuche ich zumindest die zu treffen, denen eine Erstbesteigung gelungen ist oder die eine neue Route eröffnet haben. In den 19 Jahren habe ich geschätzt etwa 4000 Interviews geführt. Mittlerweile gibt es ein Online-Formular, das die Teilnehmer ausfüllen können. Wichtig für uns sind Infos zum Berg und der Route, die Art wie die Berge bestiegen wurden, aber auch persönliche Angaben.
In den 19 Jahren habe ich geschätzt etwa 4000 Interviews geführt.
Billi Bierling
Dokumentiert ihr auch die Gipfelerfolge der nepalesischen Guides, die teilweise gleich mehrmals pro Saison am Gipfel stehen?
Ja, natürlich, und das ist ganz wichtig, denn ohne sie geht für die meisten Aspiranten gar nichts an den hohen Bergen. Das haben wir schon immer gemacht, allerdings war es früher schwerer, direkt mit den Sherpas zu sprechen, da sie meist nach der Besteigung zurück in ihre Dörfer gingen.
Oft erhielten sie auch kein Besteigungszertifikat, das für ausländische Bergsteiger nach jedem Gipfelerfolg vom Tourismusministerium ausgestellt wird. Viele hat das auch nicht interessiert, weil sie mit dem Bergsteigen rein ihren Lebensunterhalt verdienten. Heute haben die Zertifikate auch für die nepalesischen Guides an Bedeutung gewonnen.
Auch sie rühmen sich mit ihren Leistungen, so wie Kami Rita Sherpa, der diese Saison wieder seinen eigenen Rekord am Everest überbot. Nun stand er das 27. Mal auf dem Gipfel, meines Wissens ist er gerade ein zweites Mal diese Saison auf dem Weg nach oben. Für sie ist es eine gute Möglichkeit, Werbung für ihre Dienste als Guide oder Expeditionsveranstalter zu machen.
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Welchen Stellenwert hat die Himalayan Database heute?
Die Bedeutung hat sicherlich abgenommen, obwohl die Diskussion rund um die „True Summits“ gezeigt hat, dass wir für die offizielle Anerkennung eines Gipfelerfolgs immer noch wichtig sind. Früher hieß es: „Wenn Miss Hawley dir nicht glaubt, dann warst du nicht auf dem Gipfel“. Obwohl auch Miss Hawley damals nur dokumentiert und immer gesagt hat, dass sie keine Schiedsrichterin ist.
Wir verstehen unsere Arbeit noch heute so, dass wir Daten zusammentragen, ohne zu urteilen. Natürlich arbeiten wir dabei sehr genau. Wir haben zum Beispiel Kategorien eingeführt, die eine Besteigung richtig einordnen. So heißt es zum Beispiel „aviation assisted“, wenn ein Bergsteiger eine Strecke ab dem Basislager mit dem Heli überbrückt hat.
Worauf habt ihr euch bei der Himalayan Database jetzt beim Umgang mit den „True Summits“ geeinigt?
Seit 2022 erkennen wir beispielsweise am Manaslu nur noch den „echten“ Gipfel an. Was früher als Gipfel galt, ist nun der Vorgipfel. Jedoch werden wir die Erfolge bis dahin nicht aberkennen, und ich finde es auch nicht richtig, Geschichte umzuschreiben. Zumal viele der Bergsteiger entweder bereits verstorben sind oder schlichtweg zu alt sind, um ihre Expedition nochmal zu wiederholen. Heutzutage hat man zudem mit GPS ganz andere technische Möglichkeiten, einen Gipfelerfolg nachzuweisen.
Du standest selbst auf sechs der 14 Achttausender, auf drei Gipfeln sogar ohne die Hinzunahme von künstlichem Sauerstoff. An einem der Berge warst du aber nicht ganz oben.
Stimmt, ich war selbst zweimal nur am Vorgipfel des Manaslu. Der Gipfelbereich sieht je nach Schneemasse anders aus, und wir sind zu dem Punkt gegangen, der damals als Gipfel galt. Da steckte keine böse Absicht dahinter. Man kann die hohen Berge auch nicht mit einem 100-Meter-Lauf vergleichen, bei dem alle Parameter immer gleich sind. Ich persönlich habe aber nicht vor, zurückzugehen.
Was bedeuten dir deine Gipfelerfolge?
Den Everest habe ich damals aus Neugierde bestiegen. Ich wollte einfach mit eigenen Augen sehen, wie es da oben wirklich ist. Das hilft mir jetzt auch bei meiner Arbeit für die Himalayan Database. Der Cho Oyu hat aber eine besondere Bedeutung für mich. Ich war bereits 2005 mit einem australischen Bergsteiger dort. Der meinte damals zu mir, dass ich zu langsam sei und das mit den Achttausendern besser bleiben lassen solle.
2016 stand ich dann tatsächlich oben, sogar ohne Maske. Da war ich sehr stolz und glücklich. Natürlich bekommt man in der Bergsteigerszene Anerkennung dafür, es ändert, wie mich die Menschen, die ich für die Himalayan Database interviewe, wahrnehmen. Aber ich gehe nicht hausieren damit. Die Menschen außerhalb der Bergsteigerszene sind trotz der vielen negativen Nachrichten immer noch vom Mount Everest fasziniert.
Könnte das auch der Grund sein, warum so viele Menschen auf dem Everest stehen wollen?
Klar, es geht dabei sicher um Bewunderung, aber auch darum, sich selbst herauszufordern. So eine Expedition ist der Lebenstraum von vielen, ein Projekt, auf das sie lange hinarbeiten. Jeder hat dabei seine eigene Motivation, der eine will in Gedenken an seine Mutter oben stehen, der andere seinen Kindheitstraum verwirklichen, andere wollen einen besonderen Rekord aufstellen. Viele der Rekorde haben jedoch mit Alpinismus nicht mehr viel zu tun.
Wie hat sich das Höhenbergsteigen aus deiner Sicht verändert?
Die Kommerzialisierung hat sich seit den Neunzigern stark intensiviert. Heute reicht nicht mehr nur ein Gipfel pro Saison, da werden gleich mehrere kombiniert. Dazu beigetragen hat sicherlich Nirmal Purja und sein Projekt „14 Peaks“. Er hat gezeigt, was mit einer massiven Logistik und militärischer Disziplin alles möglich ist (es herrscht Diskussion darüber, ob alle 14 Gipfel überhaupt gültig sind). Zudem verändern auch die Flash-Expeditionen den Markt.
Anbieter wie Lukas Furtenbach bringen ihre Gäste in Rekordzeit auf den Gipfel, indem sie daheim in hypoxischen Zelten vorakklimatisieren. Insgesamt ist das Höhenbergsteigen aber sicherer geworden, die Standards sind höher, die Sherpa Guides sind besser ausgebildet. Und die Nepalesen haben sich aus ihrer reinen Trägerrolle emanzipiert. Es gibt inzwischen 70 international zertifizierte Bergführer (IFMGA) in Nepal. Sie stellen die wichtigsten Expeditionsanbieter, machen eigene Erstbesteigungen, sind auf den sozialen Kanälen stark vertreten.
Oft ist die Rede davon, dass die Sherpas (vor allem die aus dem Khumbu-Tal) gar nicht mehr an den Achttausendern arbeiten wollen. Was ist dein Eindruck?
Ja, bereits heute arbeiten nicht mehr so viele ethnische Sherpas als Guides. Grundsätzlich spielt der Everest in der Szene noch eine große Rolle, es ist wichtig, zumindest einmal oben gewesen sein. Aber die erfolgreichen Kollegen wie Mingma G, Minga David, Nirmal Purja oder die Unternehmensbrüder von Seven Summit Treks leben es vor: Sie verdienen sehr gut damit.
Da fragen sich die anderen schon, warum sie körperlich so hart arbeiten müssen, wenn man doch auch hinter dem Schreibtisch Geld verdienen kann. Viele Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder an den Achttausendern arbeiten, und tun sehr viel, um ihnen eine bessere Ausbildung zu finanzieren und sie ins Ausland zu schicken.
Die aktuelle Saison am Everest ist im vollen Gange. Mindestens ein Rekord ist schon aufgestellt: Die Regierung hat noch nie zuvor so viele Permits vergeben. Am Anfang der Saison meldeten einige Anbieter, dass ihnen Material am Berg gestohlen worden ist. Wie beurteilst du diese Entwicklung?
Das kam früher auch ab und zu vor, aber es sind glücklicherweise Einzelfälle. Vielleicht liegt es daran, dass manche Anbieter den nötigen Flaschensauerstoff knapp bemessen oder in den Höhenlagern nicht genügend Zelte aufbauen, um Geld zu sparen. Da kann es schon mal vorkommen, dass sich ihre Kunden zu anderen Leuten dazugesellen müssen. Die meisten kommerziellen und gut durchorganisierten Expeditionen kosten mittlerweile um die 65000 Euro. Wenn man nur den halben Preis bezahlt, gibt es sicherlich einen Grund dafür.
Bei all dem, was sich mittlerweile an den Achttausendern abspielt: Hast du überhaupt noch Lust auf den Job?
Ja, es macht mir immer noch sehr viel Spaß. Einzig den Rat und Beistand von Miss Hawley vermisse ich oft.
Mehr: Podcast mit Billie Bierling
alpenverein basecamp #013 Everest – Bergsteigen oder Massentourismus?