bergundsteigen #128 cover
Magazin Abo
Reinhold Messner I bergundsteigen.blog
18. Sep 2019 - 27 min Lesezeit

bergundsteigen im Gespräch mit Reinhold Messner

Dass Reinhold Messner gesagt hat, er hat auf Klettersteigen so viele glückliche Menschen gesehen, dass er dafür sein muss – stimmt das?

Richtig. Im Originalzitat in meinem ersten Buch „Zurück in die Berge“ abgedruckt mit einem Foto von einem Klettersteig. Und dann habe ich, ich glaube es war 1975, mein erstes Klettersteigbuch gemacht: „Klettersteige Dolomiten“. Ich stehe zu meinen Fehlern. Ein zweites Klettersteigbuch ist dann noch dazugekommen; zusammen mit einem Co-Autor, weil ich die Zeit nicht hatte, es alleine zu schreiben. 1978 habe ich allerdings bemerkt, dass diese Klettersteigführer – der erste war damals mein erfolgreichstes Buch – einen derartigen Druck auf die lokalen potenziellen Klettersteigeinrichter ausüben, dass ich beide Verträge gekündigt und die Bücher nicht mehr herausgeben lassen habe. Ich war der Meinung, dass es nicht weiter schlimm ist, wenn die Leute meine beschriebenen Klettersteige nachgehen, aber es nicht gut ist, dass durch diesen Hype neue Klettersteige eingerichtet werden. Okay, das war meine Jugendsünde. Heute kommt dieser Druck ja nicht mehr von den Führerautoren, sondern durch die Hotels und durch die Hütten und durch Tourismusvereine – einfach durch den Tourismus selbst. Klettersteige locken viele Menschen an, doch jetzt geht es so weit, dass teilweise Welzenbach-Routen zu Klettersteigen umgebaut werden; oder es werden die kühnsten Konstruktionen installiert, mit einem Drahtseil über Abgründe, wo du selbst nicht mehr drüber gehen magst.

Fun-Klettersteige mit Hochseilgartencharakter …

… Hochseilgärten in der Wand. Jetzt wird Jahr für Jahr der neueste und schwierigste Klettersteig gesucht. Wer den gebaut hat, kriegt einen Haufen Besucher. Damit wird der ganz normale Tourismus angeregt. Früher ging der Alpinist ja dorthin, wo der Tourist nicht hinkam. 

Die Alpenvereine aber waren zu Beginn im Grunde schon Touristenvereine; und nannten und nennen sich ja teilweise noch Touristenclubs. Sie haben die Alpen allen Menschen zugänglich machen wollen, bis in den 70er-Jahren ein Umdenken einsetzte: dass die Alpen auch bewahrt werden müssen. Das Herumklettern in den Bergen sollte nie verboten werden und das finde ich auch richtig. Aber ich bin eben der Meinung, man muss heute eindeutig trennen zwischen Tourismus und Alpinismus: Der Alpinismus beginnt dort, wo der Tourismus aufhört. Der Alpinist übernimmt alle Verantwortung selber. Der Alpinist geht dorthin, wo keine Infrastrukturen sind. Für den Touristen muss man Infrastrukturen schaffen. 

Wenn der Tourismus aber am Gipfel des Everest angekommen ist, taucht die große Frage auf: Wo beginnt der Alpinismus? 

Wenn ich das ernst nehme, kann ich bei uns keinen Alpinismus mehr betreiben. Aber das stimmt nicht, es gibt ja nicht nur Möglichkeiten zum Bergsport …

… Bergsport, das ist eben auch Tourismus. Sport oder Tourismus.

Oder Abenteuer ohne Risiko. Die Menschen suchen das Gefühl des Abenteuers, aber es darf nichts passieren. Denn dann gibt es den großen Aufschrei. 

Es ist so, in den Alpen habe ich heute mehr Abenteuermöglichkeiten als in den 70er-Jahren. Die klassischen Routen, wie die Solleder in der Civetta oder die Rebitsch in der Lalidererwand, die werden heute weniger begangen als früher. Zu meiner Zeit sind in einem Sommer mindestens 30 Seilschaften in der Virgl-Klamm geklettert, jetzt wird sie noch ein-, zweimal im Jahr gemacht. Aber an den Kletterfelsen am Rand, die alle eingebohrt sind mit Routen in den oberen Schwierigkeitsgraden, da sind die Leute knüppeldick unterwegs.

Im Gegensatz zu früher sind die Kletterer heute technisch einfach extrem gut.

Sie klettern frei, sie klettern viel besser, sind super trainiert. Sie haben vielleicht nicht das Auge für die Schwachstellen in der Wand, weil sie sind einfach dermaßen gut, dass sie in einer Ver-Tour daneben im VIIer-Gelände raufgehen und sich fragen, ob das jetzt V war oder doch ein bisschen schwerer? Ich kenne das von meinem Sohn Simon, der macht das genauso: Wenn ich ihn frage, ob er die leichtere Variante nicht sieht, dann sagt er, dass es für ihn keinen Unterschied macht.

Geht dabei der „Blick für das Ganze“, das Risikobewusstsein im alpinen Gelände verloren, wenn ich in der Halle Klettern auf höchstem Niveau gelernt habe und das jetzt im Gebirge umsetzen möchte? 

Natürlich, und in dieser Diskussion spielen die alpinen Vereine eine wichtige Rolle: Sie sind die großen Dienstleister, was Versicherung angeht, was Informationsweitergabe angeht, was Wissenschaft angeht und was die Sicherheitsforschung angeht. Die alpinen Vereine haben aber nicht das Recht, ins Gebirge loszugehen und irgendwo Infrastrukturen zu schaffen. In erster Linie müssten sie eine Brücke sein zwischen der Sporttätigkeit, zwischen dem reinen Sportklettern und dem Alpinismus. Sie müssten sagen: Passt auf, wir haben eine 200-jährige Historie hinter uns, wir wissen hier Bescheid und wir haben die richtigen Leute, die euch sagen können, was alles dazukommt, damit man seine Sportfähigkeiten ins Gebirge übertragen kann. Und das haben sie nicht getan. 

Aber deswegen saniert man ja Touren und stattet die Stände mit Bohrhaken aus.

Aber das ist der falsche Weg. Das ist der absolut falsche Weg. 

Doch diese Routen werden von den Menschen viel und gerne geklettert.

Weil sie konsumieren. Weil sie alle nicht bereit sind, selber abzusichern – was ja viel schöner ist. Lieber eine nur halb so lange Route und dafür selber absichern und überlegen, wie ich das jetzt am besten angehe. Klar, ich muss halt lange lernen, bis ich meinen Keilen und Haken vertraue. Doch heute hat ja fast keiner mehr einen Hammer mit dabei, die meisten besitzen gar keinen. 

Als Bergsportler …

Ich bin absolut gegen diesen Ausdruck.

Aber ich als Bergführer bin nun einmal Mitglied im Tiroler Bergsportführerverband. Und wenn heute jemand beschließt, mit dem Klettern zu beginnen, dann geht der natürlich in die Halle. Und der ist ein guter Sportler und trainiert und klettert bald auf hohem Niveau und möchte dann auch hinaus an den Fels und vielleicht auch in alpine Touren.

Dem muss ich sagen: Mein lieber Freund, das Gebirge ist gefährlich. Wenn du ins Gebirge gehst, dann riskierst du jedes Mal relativ viel. Dir kann ein Stein auf den Kopf fallen und diesen Stein kann ich da oben nicht einzementieren. Dir kann plötzlich schlechtes Wetter um die Ohren fliegen und du kannst auch einen Fehler machen und stürzen – und das ist dann nicht mehr so wie in der Kletterhalle, dass du locker abspringst. Du musst schon, bevor du eventuell stürzt, überlegen, dass du die Sicherungen gut platziert hast und und und. Die ganze Verantwortung liegt plötzlich bei dir und nicht mehr beim Hallenbetreiber oder Klettergartenhalter. 

Das wissen diese Kletterer ja auch und deswegen wählen sie alpine Touren aus, die mit Bohrhaken abgesichert sind; etwas anderes kommt für die meisten gar nicht in Frage. Das ist doch erfrischend, damit kann ich lenken und noch genügend Spielraum für Abenteuertouren lassen. 

Ja, und zum Beispiel die alten Dolomitenführer sind solche Abenteuerrouten und sollen es auch bleiben. Beim alpinen Klettern bist du in einem Gefahrenraum unterwegs und trägst als Bergsteiger selber die Verantwortung. Und wenn du nur im zweiten Grad auf die große Zinne gehst: Du bist selber verantwortlich, du musst selber überlegen, wie du das mit deinem Partner, deiner Partnerin sauber machst, damit du gut da hinauf und hoffentlich wieder runter kommst.

Gerade auf die Zinne waren ja bereits sehr früh Stahlstifte drinnen, wenn man die jetzt entfernen würde …

… dann haben wir einen Haufen Tote.

… aber danach wird das Bergsteigen wieder authentischer, dann ist jedem klar, dass er eigenverantwortlich das volle Risiko trägt. Am Matterhorn zum Beispiel: Den ganzen Schrott heraus, dann macht es einen Tuscher, aber dann geht man als eigenverantwortlicher Bergsteiger wieder gern aufs Matterhorn. Wäre das nicht erstrebenswert?

Es ist irreversibel. Wenn du einmal irgendwo einen ersten, einen wichtigen, schweren Eingriff gemacht hast, ist er nicht mehr reversibel, weil es nicht mehr zu verantworten ist. Und deshalb besteht die Gefahr, dass später alles abgesichert ist und es keinen Freiraum mehr gibt.

Das bedeutet, dass das Abschlagen und Entfernen von Bohrhaken eine wenig grandiose Idee ist?

In der ersten Phase war das eine Notwendigkeit und es war auch richtig, zumindest in den Dolomitenklassikern. Vor Jahren habe ich im DAV-Haus in München den Spruch geprägt: „Ihr seid die Totengräber des Alpinismus!“ – und der Schubert hat mir recht gegeben. 

Aber gerade Pit war selber ein großer Verfechter vom „Sicheren Bergsteigen“ und vom Sanieren alpiner Routen.

Er hat es erfunden und der Pit ist sehr gescheit. Ich habe gesagt, wenn du nur deine Studien machst und testest und ausrechnest, was das Seil und die Haken halten, was ein Helm können muss, um gut zu sein – das ist alles gut und wichtig. Aber wenn du dann hinausgehst und Klassiker einbohren lässt, dann bin ich absolut dagegen, weil das nicht mehr Alpinismus ist. Du machst das Spielfeld kaputt. Alles ist legitim, aber wir dürfen der Natur ihre Möglichkeiten nicht nehmen. Und die größte Möglichkeit des Berges für den Menschen liegt darin, dass wir Erfahrungen machen können, Erfahrungen im Sinne von Abenteuer. Wir können über uns etwas lernen. In dem Moment, wo alles abgesichert ist, sind die Erfahrungsmöglichkeiten nur mehr sportlicher und nicht mehr gesamtmenschlicher Natur.

Jetzt beginnt der Stadtmensch in der Halle zu klettern und möchte das in die Natur übertragen, das ist doch eine tolle Sache. 

Ja, und der Alpenverein muss ein Interesse haben, dass er das tut.

Und weil er eben kein gewachsener Bergsteiger ist, beginnt er mit eingebohrten Plaisirtouren, wo er selbst erste Erfahrungen sammeln kann. Ist doch auch eine schlaue Idee?

Ja, denn solange er die Plaisirtouren geht, braucht er nicht viele Hilfen. Denn das ist ungefähr das gleiche wie das, was er vorher in der Halle und im Klettergarten gemacht hat. Doch warum geht man nicht her und sagt: Okay, jetzt haben wir genug Plaisirtouren, jetzt lassen wir es gut sein und alles andere bleibt wild. Allerdings gibt es in den Tälern ohne Plaisirrouten weniger Klettertouristen, deswegen müssen auch dort ein paar Linien eingebohrt werden. Der Druck kommt vom Tourismus, vom Konsum. Der Konsument ist das Problem. Es ist Konsumbergsteigen. 

Ich sehe das entspannt, weil fast in den ganzen Alpen muss ich nur ums Eck gehen und habe dann eine tolle, wilde Spielwiese. 

Meine Sorge ist nicht nur, dass wir früher oder später alle wilden archaischen Räume verlieren. Sondern meine Sorge ist, dass wir das Know-how verlieren. Dass wir am Ende alle gleich auf die Berge klettern im Grad XI, XII oder XIII; dass wir schnell auf den präparierten K2 hinaufrennen in Skyrenner-Manier. Aber niemand mehr  in der Lage ist zu sagen: Das Wetter ist schlecht, heute gehe ich nicht. Oder, jetzt bin ich zu alt, jetzt lass ich es sein. So geht es mir ja schon seit Längerem. Und auch das ist eine wichtige Erfahrung, mit der Zeit zu bemerken, dass ich manche Sachen nicht mehr so gut kann. Zuerst bin ich einen halben Grad leichter geklettert und am Ende geh ich jetzt halt irgendwo Klettersteige. Da bin ich froh, dass es welche gibt (lacht). Und sonst bin ich halt auf einem Normalweg unterwegs – wo ich nicht runterfallen kann. 

Wie gefallen dir die kurzen talnahen Sportklettersteige, wie sie immer mehr gebaut werden?

Ich bin ja kulant. In vielen Tälern sind jede Menge Wände, die wird niemand je nutzen für das Bergsteigen. Die sind nicht kaputt, wenn man da einen Klettersteig gut baut. Dann sollen die Leute halt im Frühling und im Herbst herumturnen. Ich bin aber ganz vehement dagegen, dass man die archaischen Räume, die wilden Berggebiete dem Konsum opfert. Dort sollen die Menschen die Möglichkeit haben, Erfahrungen zu machen. Dort gehören die hin, die sich das aufgrund ihres Könnens und ihrer Erfahrung verdient haben.

Was meinst du mit „archaisch“?

Archaisch heißt „ohne Regeln“. Vor dem Mensch war die gesamte Welt archaisch. Bevor er eine Kultur, eine Infrastruktur hineingebracht hat. Die Welt wurde vom Menschen zum Teil umgewandelt in eine Kulturwelt – das muss er machen, sonst kann er nicht überleben. Natur wurde umgewandelt in Kultur oder in Unkultur. 

Archaisch ist das geblieben, was nicht berührt wurde.

So definiere ich das klassische, das traditionelle Bergsteigen als ein anarchisches Tun in einem archaischen Raum. Dort gibt es keine Regeln. Am Klettersteig und auf der Skipiste schon: jemand ist für den technisch einwandfreien Bau verantwortlich, FIS-Pistenregeln mögen befolgt werden usw. Wenn ich heute alleine in der Eiger Nordwand klettere, kann ich tun, was ich will, ich unterliege nur meinem Überlebensinstinkt. Wenn ich zu zweit klettere, unterliegt jeder seinem eigenen Überlebensinstinkt und es gibt eine Korrelation zwischen den beiden. Aber es gibt keine Regel, was richtig und was falsch ist. Dann kommen aber die Moralisten, die nicht verstehen, dass der Mensch sich dort in einem archaischen Raum befindet, in dem das Bürgerliche Gesetzbuch überhaupt nichts zu suchen hat; und die möchten dann bewerten, was richtig und falsch ist. 

Wenn ich mit einem „besseren“ Partner oder einem Bergführer unterwegs bin, kann ich mein Risiko auch abgeben?

Ich kann das ganze Risiko nicht komplett delegieren. Das Risiko bleibt geteilt, wenn auch nicht gleichwertig. Dazu gibt es schon seit 1900 Texte, in denen zum Beispiel Purtscheller darüber philosophiert: Ein Bergführer kann nicht das ganze Risiko auf sich nehmen, das ist nicht möglich. Und ich glaube, dass das früher oder später in die Gesetze einfließen muss, dass ein Bergführer einen Teil des Risikos dem Gast lassen muss. Beide stimmen sich ja permanent aufeinander ab: Der Gast sagt, dass er heute besonders gut oder schlecht drauf ist, dass er sich das nicht traut oder doch ans Seil möchte oder für eine schwierigere Tour motiviert ist – und umgekehrt.

Jetzt bringt ein Bergführer Menschen auf einen Gipfel, auf den sie selbst nicht hinaufkommen würden. Zuvor haben wir über Abenteuer und Risiko und Eigenverantwortung gesprochen, was würdest du davon halten, wenn Bergführer nicht mehr klassisch führen, sondern andere nur noch ausbilden, mit dem Ziel, dass diese selbstständige Bergsteiger werden?

Das wäre der beste Weg. Aber das werden die Bergführer nie tun; einige gehen ja so weit, dass sie zwar ausbilden, aber ja nicht zu viel, sodass ihre Klienten selbstständig unterwegs sein könnten. 

Ist für den, der als Nachsteiger mit einem Bergführer die wilde Dolomitentour geht, das Abenteuer nicht viel geringer als für zwei Menschen, die eine eingebohrte Plaisirtour eigenverantwortlich klettern? 

Also, alle Erfahrungen musst du in deinen eigenen Fußstapfen machen. Alles, was du nicht selbst verantwortest, gibt keine wesentliche Erfahrung. Aber selbst verantwortlich sein, bedeutet beim Klettern auch in der Wand den Weg selber zu suchen, selber abzusichern, selber einen Stand zu bauen usw. Wenn alles eingebohrt ist …

Aber ich muss mich dem Alpinen ja irgendwie nähern.

Klar, und eine längere Plaisirtour vorzusteigen ist viel mehr, als in der Halle zu klettern. Aber es ist nicht der Schlüssel. Ich versuche im Großen und Ganzen nur zu sagen: Das Wichtigste, um ein Bergerlebnis zu haben, ist nicht die Schwierigkeit und auch nicht die Gefahr, sondern die Exposition. Weil die alles steigert. Und wenn ich einen Bergführer habe, bin ich weniger exponiert; und bei mir bleibt natürlich weniger an Eigenverantwortung. 

Als Bergführer bin ich halt Dienstleister für meinen Kunden.

Aber der Bergführer muss rechtlich abgedeckt sein, dass die Verantwortung nicht zu 100 Prozent bei ihm liegt. Der Bergführer wäre natürlich der beste Dienstleister, wenn er seine Klienten so weit bringt, dass sie in Eigenregie im Gebirge losklettern und Erfahrungen sammeln können. Ob es am Normalweg auf die Große Zinne ist – wenn sie nicht abgesichert wäre – oder auch bei schwierigeren und größeren Unternehmungen. Ich schwöre auf die Eigenständigkeit. 

Und der Alpenverein müsste im Großen und Ganzen diese große Verantwortung übernehmen, die Leute möglichst neugierig und hungrig aus den Hallen, aus den Klettergärten ins Gebirge zu übergeben. Und zu sagen: Passt auf, das ist alles gefährlich bis hin zum Lebensende! Auch wenn du noch so gut bist, du kannst umkommen, bei jeder Tour. Der Deutsche Alpenverein hat ja mir einmal vorgeworfen, ich betreibe elitären Alpinismus, bei mir kommen die Leute alle um. Inzwischen weiß ich, dass bei mir gleich viele sterben wie bei ihnen. 

Dieses Elitäre schwingt natürlich mit. Wenn ich ein souveräner 8er-Kletterer bin, tue ich mir leicht zu sagen, dass die leichten Plaisirtouren keine Bohrhaken brauchen. Doch gerade in diesen Touren passieren die meisten Unfälle. Gerade im Schrofenzeug brauche ich eine super Absicherung.

Aber warum sollten nicht die zukünftigen Generationen die Möglichkeit haben, dass man sich – wenn ich jetzt im Dolomitenraum bleibe – von einem Normalweg auf die Große Zinne über die Gran Pilaster auf der Pala di San Martino über die Comici bis zum Fisch weiterentwickelt? Irgendwann ist man dann zu alt und hört mit dem schwierigen Klettern auf und geht über diese Stufen wieder zurück. 

Ich habe als 16-jähriger Bub bei den klassischen Dolomitentouren, die wir damals klettern konnten, die gleichen Abenteuer gehabt, die gleichen Emotionen wie später bei den 6er-Touren und dann bei den noch schwierigeren. Die Schwierigkeit ist ja egal; es zählt immer nur die Relation Schwierigkeit zu Können: „Das Können ist des Dürfens Maß“, ist von Paul Preuß. 

Schon klar, aber wer möchte beim Bergsteigen heute schon draufgehen? 

Nicht einmal in den 30er-Jahren wollten Kletterer draufgehen. Das waren nicht so heroische Burschen. Das hat man nur hineininterpretiert. Das war viel Nazi-Propaganda in Deutschland und faschistische Propaganda in Italien – diesen heroischen Alpinismus gab es auch nur dort, dieses „Wir sind bereit für das Ziel unser Leben zu geben“. Die hatten alle Angst, wie wir auch. Ich habe noch keinen Bergsteiger getroffen, der nicht Angst kriegt, wenn er nicht mehr weiterkann. Dann sind alle bereit zurückzugehen. Doch es gilt schon viel früher, die Schneid zu haben und sofort zu sagen, wenn man sich unsicher fühlt.

Wir sind uns einig, dass es darum geht, sich für etwas zu entscheiden und dann die Konsequenzen dafür zu tragen. Das ist der wahre Wert, den kannst du sonst nirgends mehr haben. Der Richter ist die Natur – wenn ich einen groben Fehler mache, bin ich tot. Ob ich mich darauf einlasse, zum Beispiel wenn ich Familie und Kinder habe, sollte überlegt werden. Entscheide ich mich dafür, darf ich nicht erwarten, dass die Öffentlichkeit in Trauer verfällt, wenn ich dabei sterbe.

Damit muss sich auch der alpine Nachwuchs auseinandersetzen, der heute primär vom Sportklettern kommt.

Der David (Lama) hat dazu drei Jahre gebraucht und ist ein positives Beispiel, dass diese Entwicklung funktioniert. Wenn die Jungen heute aus der Halle ins Gelände gehen und sich die Zeit nehmen zu lernen, was der Berg alles ist, dann werden die alles in den Schatten stellen, was es bisher gegeben hat. David hat diesen Sprung gemacht, hat in den bekannten klassischen Wänden gelernt, aber auch in unbekannteren wie dem Sagzahn. Er hat ein gutes Gespür für seine Möglichkeiten entwickelt.  

Jetzt gibt es also einen durchaus tollen Nachwuchs, doch immer, wenn es um alpine Diskussionen geht, dann sprechen Messner, Eisendle und Diemberger, also die alte Generation. Wäre es nicht wünschenswert, wenn die Jungen hier einmal auf den Tisch hauen würden?

Wenn sie es nur täten. Aber dann müssen sie lernen, sich auszudrücken.

Ist das das Problem?

Ja, ich glaube, dass die wenigsten hintergründig darüber nachdenken und auch die Historie kennen. Ich habe mich schon früh geäußert und zu schreiben begonnen. Ich kannte die ganzen Schriften von Zsigmondy und Preuß und habe mir meine Gedanken gemacht, wie man das in die aktuelle Zeit übertragen kann. Denn was wir jetzt diskutieren, hat der Preuß immer schon gesagt. Natürlich war es in seiner Zeit noch einigermaßen verständlich, wenn er gesagt hat, dass er keine Haken braucht, wenn er einen Felskopf findet. In den heutigen schwierigen Freikletterrouten gibt es keinen Felskopf und keine Risse und so muss ein Stand gebohrt werden. Es ist auch völlig in Ordnung, das in einer neuen Route zu tun; aber deswegen hat noch niemand das Recht, die alten Routen zu verbohren. Doch bei uns sind heute die meisten Erstbegehungen keine logischen Linien, sondern sie sind gebastelt. 

Müsste man den Kletterern heute nicht vermitteln, dass weniger die Schwierigkeit, sondern das persönliche Erlebnis das Essenzielle im Alpinismus ist?

Ich habe es mir in den letzten zehn Jahren zur Aufgabe gemacht, alte Geschichten zu studieren und versuchen zu verstehen, wie die Leute gehandelt haben und warum sie so gehandelt haben. Das interessiert mich. Es gibt eine Natur in mir, in meinem Ich, und eine Natur draußen, eine Berg-Natur. Wenn ich die beiden zusammenführe, am Limit meiner Möglichkeiten, dann passiert etwas: weil ich in Todesgefahr gerate, weil ich Angst bekomme. Im Grunde entsteht so auch der Respekt den Bergen gegenüber. Der entsteht nicht, solange ich weit unter meinen Möglichkeiten spazieren gehe, wenn ich nur das versuche, wo ich mir sicher bin, dass ich es auch schaffe. Wenn ich aber an meine persönliche Grenze gelange, dann passiert etwas mit mir. Und wenn ich das nicht beschönige, wenn ich damit weder hoch- noch tiefstaplerisch umgehe, sondern wenn ich einfach ganz genau bei den Tatsachen bleibe, dann komme ich an den Schlüssel dessen, was eigentlich wertvoll ist. Gute Bergbücher zum Beispiel sind alle jene, wo die Leute ganz offen aus sich herausgegangen sind.

Hat das Reinhold Messner immer so gemacht? 

Ich glaube, mein Erfolg als Schreiber liegt darin, dass ich ganz offen mit meinen Zweifeln und Ängsten umgegangen bin. Man hat meine Geschichten nur von außen heroisiert, ich selbst habe das nicht getan. Später wurden sie auch moralisch hinterfragt, was ich nie verstanden habe, denn mit Moral hat das alles nichts zu tun. 

Darf Bergsteigen Spaß machen?

Bergsteigen darf Spaß machen. Aber es macht fast keinen Spaß. Natürlich schon, wenn ich in den Alpen auf einen tollen Gipfel gehe, eine schöne Wand klettere oder mit den Skiern irgendwo herunterschwinge. Das sind aber keine Grenzerfahrungen. Wenn ich an meiner Grenze bin, ist der Spaß sehr relativ: „Das große Bergsteigen ist das Spiel der Leiden“, ist nicht von mir, aber teile ich voll und ganz. Die Leidensfähigkeit ist der Schlüssel zum Erfolg. 

Mir macht das Bergsteigen aber meistens Spaß.

Teilweise. Es ist ein Genuss, einen vierten Grad zu klettern, wenn man einen sechsten beherrscht. 

Aber gerade das Klettern hat eine lustvolle Komponente.

Ja, aber die steht nicht im Vordergrund, da bin ich ganz sicher. Und sie stand auch nie im Vordergrund.

Das kann ich einem Plaisirkletterer aber nicht verkaufen.

Warum gehen heute die jungen Leute mit einem Rucksack zwei Stunden bis zum Einstieg? Allein, weil dieser Zwei-Stunden-Marsch für sie ein Leiden ist. 

So wie sich viele für zwei Stunden im Fitness-Studio hinter eine Maschine hängen?

Dann ist natürlich der Zustieg besser. Es hat auch einen hohen Genussfaktor. In den letzten Jahren hat zum Beispiel das Tennisspielen mächtig nachgelassen, doch die Kletterhallen sind alle voll. Wenn ich die Kinder in der Kletterhalle sehe, wie sie an der Boulderwand herumturnen und herunterspringen, wenn sie im Seil hängen und vor lauter Freude schreien, das ist die pure Lust. Das verstehe ich schon. Aber in dem Moment, wenn ich ins Gebirge hinausgehe, dann wird es eine ernste Angelegenheit.

Die man gerne machen muss und von der man als Profi auch leben können muss?

Ja, und das, was ich gern mache, finanziere ich mit meinen Sachen, die ich vielleicht nicht so gern mache … Das habe ich so gehalten, die Museen mache ich mit der gleichen Freude wie eine Expedition.

Du bist ja jetzt Museumsdirektor.

Nein, bin ich nicht. Ich bin Museumsmacher und zwar so lange, bis alles fertiggestellt ist. Das mach ich umsonst … wie ein Alpenvereinschef. 2014 sollte alles fertig sein und dann gebe ich alles ab und mache etwas anderes. Wenn ich wieder Geld übrig habe, dann investiere ich es wieder in irgendeine Tätigkeit, die ich gern tue. 

Also, nur Klettersteige gehen und sich zurücklehnen …

Nein. Ich brüte wahnsinnig gern Ideen aus und wenn ich glaube, dass etwas funktionieren müsste, dann muss ich es auch ausprobieren. Das habe ich im Grunde auch bei den Achttausendern so gemacht …

Ein Spiel mit dem Risiko?

Ja, bei den Museen auch wirtschaftlich gesehen und es war sehr knapp. Wenn ich da gescheitert wäre, hätte ich viel Geld verloren, und noch mehr Zeit.

Andere Menschen müssen ihre Zeit mit Dingen verbringen, die sie nicht gerne machen.

Das tut mir leid. Man sagt, 80 Prozent der Menschen in Europa haben einen Beruf, der sie nicht freut. Sie haben eine Pflichtarbeit, weil sie eine Familie ernähren müssen oder weil sie ein Haus gebaut haben. Sie tun etwas, was sie nicht gern tun. Was meinst du, was die leisten würden, wenn sie das tun dürften, was sie gern tun. 

Können diese pflichtbewussten, braven Menschen switchen und in ihrer Freizeit wilde Abenteuer in den Bergen erleben?

Viele schon, die brechen dann aus ihrem ungeliebten Beruf aus und gehen ihrer Leidenschaft nach. Aber wenn ich immer meiner Leidenschaft nachgehen kann und damit auch mein Auskommen und meine nächsten Träume finanzieren kann – auch wenn diese dann in eine ganz neue Richtung gehen –, das ist das Beste. Genau das rate ich meinen Kindern: Sucht euch eine Tätigkeit, die ihr könnt, die ihr gut und mit  Begeisterung macht – dann braucht ihr euch keine Sorgen machen.

Hat der Alpinismus heute überhaupt noch eine Chance, wenn er immer irgendetwas mit Leiden zu tun haben muss? Die Sportarten der jungen Generation, Skaten oder noch besser Surfen, da kann man sich ja auch wehtun, aber das ist auch entspannt, das ist Reisen, das ist Sonne.

Aber das ist Klettern heute auch. Es ist Urlaub und Reisen. Mein Sohn geht zum Beispiel nach Südafrika zum Bouldern; eine Klettersportart, wo es diese Leidensgeschichte eben nicht gibt; wo die Gefahr reduziert ist, wo sehr viel Sport und Spaß dabei ist. Deshalb nimmt Bouldern ja stark zu und wir haben das ja auch getan, jedes Kind tut das. Für uns war das eine Spielerei.

Wenn dein Sohn jetzt in Südafrika bouldert oder perfekt eingebohrte Touren klettert, ist das für dich nicht beruhigender, als wenn er in eine harte alpine Tour einsteigt?

Wenn er in den Dolomiten ist und irgendeine 1000-Meter-Wand in der Marmolata vorhat, zum Beispiel den Fisch, dann mache ich mir natürlich eher Sorgen. Obwohl die Jungen heute sagen, der Fisch ist nicht so schwierig, weil ihr Kletterniveau eben so hoch ist. Und in den alten 6er-Touren, wo in einer ganzen Seillänge nichts steckt, natürlich legen die sich heute was. 

Gut, jetzt weißt du, dass er eine Tour geht, die du kennst, wo dieser beschissene Quergang ist, der nicht vernünftig abgesichert werden kann und wo ein Sturz fatal endet. Wenn an dieser Stelle jetzt ein Bohrhaken drinnen wäre, dann müsste das für dich doch eine Erleichterung sein, das wäre doch in Ordnung. Oder rätst du deinem Sohn von dieser Tour ab?

Simon hat zum Beispiel den Mittelpfeiler gemacht, die Umgehungsvariante. Der Alex (Huber) ist die direkte Stelle sofort geklettert – aber der Huber ist der Huber. Simon ist sie dann auch von oben geklettert, er hat gesagt, von oben hat er sich getraut, aber von unten, da ist nichts zum Absichern. Doch stecken mittlerweile auch zwei Bohrhaken drinnen, und das hat ihn dann auch geärgert, weil es nicht notwendig ist, weil man diese Schlüsselstelle umgehen kann. Persönlich ist mir das wurscht, ich kann das eh nicht mehr klettern. Aber es geht mir um die gesamte Philosophie. Der Wert ist das Erlebnis und deshalb darf nicht alles kaputt gemacht werden. 

Ich bleib dabei, dein Sohn möchte jetzt diese gefährliche Tour klettern …

Wenn ich ihm jetzt sagen würde, dass ich das nicht möchte, dann würde er mir sagen, dass er volljährig ist. Er macht es sowieso und deswegen sage ich auch nichts.  Jedenfalls ist der Simon neugierig, doch ich habe das Gefühl, dass seine Lust am großen Abenteuer Fels in den Dolomiten eher schwächer geworden und dafür die Begeisterung fürs Bouldern zugenommen hat. 

Mir ist natürlich beides recht. Wenn er nach einer langen alpinen Tour nicht anruft, dann denke ich mir aber gleich, dass er jetzt halt biwakiert; die Sabine sagt mir dann, dass er ohnehin nicht anruft und schon lange zurück sein wird … 

Mir ist klar, dass du bei jeder großen Tour umkommen kannst. Du musst nur Pech haben und ein Stein trifft dich oder du machst einen Flug und die Sicherungskette hält nicht. Wenn ich daran denke, wie viele Menschen ich aus meinem unmittelbaren Kletterfreundeskreis so verloren habe. Nicht so viele, aber doch ein halbes Dutzend. Und aus meiner Bekanntschaft sind das 50, 60 … und dann ist es nicht vertretbar.

Heute passiert nicht mehr so viel, weil die meisten eben gut abgesicherte Routen klettern. Aber wenn jemand ein Leben lang ins Gebirge geht, klassisch, dann ist das Risiko 50:50. Auch viele der alten guten Bergführer sind abgestürzt, der Gross am Matterhorn, oder der Michl Innerkofler – das waren die besten Kletterer und Bergführer. Und irgendein kleiner Fehler, dann hat es sie erwischt.

Kein Bergführer, aber ein Ausnahmekletterer war ja auch Matthias Auckenthaler, der ebenfalls tödlich abgestürzt ist. Der fällt mir jetzt ein, weil in den Kalkkögel eine Mordsdiskussion war, ob und wie seine Tour in der Ochsenwand saniert wird. Den Bohrhakengegnern und Ethikfanatikern hat dann ein gescheiter Mensch gesagt, dass sie seine Route – wie er bei der Erstbegehung in den 30er-Jahren – dann halt auch solo und barfuß klettern müssen, wenn sie seine Leistung schätzen und dasselbe Abenteuer erleben möchten.

Aber darum geht es nicht. Ich kann ja historisch nachempfinden, was dieser Mann gemacht hat, was er empfunden hat – zumindest teilweise –, wenn ich den Urzustand der Route unter den Fingern habe. Auch wenn ich moderne Kletterpatschen anhabe. Natürlich müssen sich alle darüber klar sein, dass die Routen heute viel leichter sind als sie damals waren, weil eben die Schuhe besser sind, weil das Seil mehr hebt. Doch im Grunde geht es um die Absicherung und die soll heute auch noch leichter sein früher. Warum sollen Kletterer, die einen 10er klettern, nicht auch eine Auckenthalerroute im oberen fünften Grad selber absichern können, wenn sie ja auch Locker vom Hocker sicher gehen können?

Jetzt kann ich noch ins Spiel bringen, dass es früher nur Schlaghaken und Holzkeile gegeben hat, aber die sind auch zur Fortbewegung verwendet worden. Jetzt habe ich vielleicht einen Bohrhaken drinnen, dafür klettere ich es frei. Was wiegt da mehr?

Es ist gut, dass Freiklettern wieder Standard ist, im Yosemite Valley haben sie das Technische parallel weiterentwickelt, aber bei uns hat die Fiffi keiner mehr dabei. Doch das hängt nicht nur vom Bohrhaken ab. Die Zinnen-Direttissima hat früher ein paar Bohrhaken gehabt, die brauchst du heute nicht mehr, weil du hast ja ganz andere Absicherungsmethoden. Natürlich hat die Zinnen-Direttissima frei einen höheren Wert als technisch geklettert. Das Freiklettern ist ja zurückgekommen und das Absichern ist heute leichter und deswegen frage ich mich, warum man dann noch mit mehr Bohrhaken aufrüsten muss? Am wichtigsten ist es, dass die Kletterer wissen, was sie können – und dabei sollen sie bleiben. Ich hätte ja jeden Grund zu sagen, dass ich in meinem fortgeschrittenen Alter noch einmal die Comici klettern möchte: sie müsste nur alle fünf Meter eingebohrt werden, dann trau ich mich – sonst nicht. Also werde ich sie nicht mehr klettern können und das ist gut so. 

Wenn sich die Leute die Routen aussuchen, die zu ihnen passen, dann benötigen wir nicht mehr Haken als die Erstbegeher verwendet haben. „Du darfst nur das machen, was du kannst“, war ja ein Credo von Preuss.

Das ist der Schlüssel am Ende, sportlich und ethisch. Obwohl ich den Begriff ethisch nicht gerne verwende, was heißt schon „ethisch wertvoller“. Viel besser ist es zu sagen, etwas ist vom Erlebniswert her wertvoller. Aber das hat mit Ethik nichts zu tun.   

Erschienen in der
Ausgabe #83