
bergsönlichkeit: Michael Larcher
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Stopp! Das „Lawinenupdate 2023/24“ ist zwar erst zwei Minuten und 22 Sekunden alt, und wir unterbrechen Michael Larcher nicht gerne, auch nicht auf YouTube, aber trotzdem, Pause. Das ist der Vorteil, wenn man nicht live dabei ist, im Innsbrucker Haus der Musik, in dem Larcher sein Lebensthema „Sicherheit im Bergsport“ auf die große Bühne bringt: Man kann das Gesehene und Gehörte auf dem Video anhalten und wirken lassen.
Und an einigen Stellen hineinzoomen ins Leben des Vortragenden, der über praktische Lawinenkunde, Lawinenunfälle und Rettungsmaßnahmen spricht und dabei auch etwas von sich preisgibt – wenngleich nicht alles, aber dazu am Schluss des Vortrags mehr. Larchers „Lawinenupdate“ ist interaktiv. Seine Zuhörer und Zuhörerinnen können sich einloggen, um Fragen zu beantworten und ihr Wissen zu testen.
Dazu benötigt man ein Passwort, und Larcher sagt: „Das Passwort, ihr könnt euch erinnern, die letztes Jahr dabei waren, mein erster Enkel #Valentin, heuer #Laurin, mein zweiter Enkel …“ Er unterbricht und breitet die Arme aus, als wolle er sagen, seht her, so geht es. Und während der Applaus abebbt, ergänzt er: „Im nächsten Winter weiß ich noch nicht, was da wird. Vier Söhne hätte ich, es wäre einiges möglich.“*
Schon hat Michael Larcher das Publikum hinter sich. Vor Menschen zu sprechen, sagt er, falle ihm nicht schwer. „Es gibt auch den Moment, in dem ich es richtig genieße.“ Dass er auf der Bühne eine starke Wirkung entfaltet, könne er sich dennoch nicht erklären. Dabei muss man kein Experte in Sachen Körpersprache sein, um zu verstehen, was Larcher macht.




In jedem Moment seines Vortrags bleibt er dem Publikum zugewandt. Er rudert mit den Armen, um zu demonstrieren, „wie der Schnee am Arlberg ständig durchgepflügt wird“. Auf den Knien beschwört er das Auditorium, bei Skitouren Sicherheitsabstände einzuhalten, im Aufstieg und bei der Abfahrt. Einbeinig balancierend ahmt er die abbauende Umwandlung eines Schneekristalls nach. Die Bruchfortpflanzung in der Schneedecke macht er mit einem onomatopoetischen „swoosh“ anschaulich.
Larcher erzählt, referiert, reflektiert mit ganzem Körpereinsatz – wie ein Schamane, der seine Zuhörer beschwört. „Die Lawine“, sagt er, „ist der Star unter den alpinen Gefahren.“ Womit er vermutlich recht hat, und womit er gleichzeitig sein eigenes Credo erfüllt: „Bergsportkompetenz muss heute ergänzt werden durch Sprach- und Kommunikationskompetenz.“

Nur so erreiche man die Menschen. Nur so ermögliche man Wissenstransfer. Nur so verbessere man die Sicherheit im Bergsport. Schritt für Schritt, eine Sisyphusarbeit. Ein Blick zurück: In bergundsteigen, Ausgabe 3/1997, veröffentlichte Larcher den Text „Risikomanagement im Klettergarten“. So trocken sich der Titel las, so eingängig war die Verhaltensempfehlung formuliert, die als „Partnercheck“ zur Erfolgsgeschichte wurde.
Information könne nur dann erfolgreich vermittelt werden, glaubt Larcher, wenn die Form ebenso ernst genommen werde wie der Inhalt.
„Bergsportkompetenz muss heute ergänzt werden durch Sprach- und Kommunikationskompetenz.“
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Es ist eine Binse: Wer im winterlich freien Gelände unterwegs ist, sollte die Antworten des Lawinenlageberichts auf die Fragen Wie? (Gefahrenstufe), Was? (Lawinenproblem), Wo? (Gefahrenstellen) stets im Kopf haben. Oder das Smartphone nutzen, rät Larcher: „Ich brauche dafür jetzt genau zehn Sekunden. Ich gehe auf meine Lieblings-App“, womit er www.alpenvereinaktiv.com meint, „und schon finde ich die Antworten“.
Was Larcher nicht sagt: Als Projektleiter tat er das seinige, damit das Informationssystem des Österreichischen (ÖAV), Deutschen (DAV) und Südtiroler Alpenvereins (AVS) am 22. Dezember 2012, 17 Uhr, online gehen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war Larcher bereits zehn Jahre lang Leiter der Abteilung Bergsport im ÖAV. Eine Konstellation, die es dem studierten Germanisten – „Winddünen schreibt man ohne h!“ – und Sportwissenschaftler erlaubte, seine Kreativität und Technikaffinität mit institutionellem Rückhalt umzusetzen.

Zugleich war er weitsichtig genug zu erkennen, dass der Alpenverein zu schwach ist, um eine derart komplexe App am Leben zu erhalten und weiterzuentwickeln; seine Kompetenzen und Aufgaben sind andere. Larchers Lösung: das Teilen, neudeutsch Sharing, von Erfahrung und Knowhow. „Die Alpenvereine wissen, was Bergsteigerinnen wollen und brauchen.“
Und die Kooperation mit der Allgäuer Firma Outdooractive garantiert, dass www.alpenvereinaktiv.com auf technisch höchstem Niveau basiert. Fast im Jahresrhythmus kommen neue Features und Funktionen hinzu – die Einbindung der Lawinenbulletins, der Hangneigungslayer, die Avalanche Terrain Hazard Map (ATHM) und wer weiß, was noch alles in den Schubladen von Bergführern und Informatikern steckt.
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„Wer alpenvereinaktiv nicht auf seinem Rechner und Smartphone hat, ist selbst schuld. Das traue ich mich so hart zu sagen.“ So eine Aussage klingt natürlich apodiktisch. Larcher darf sich das erlauben, weil er sich schon sein ganzes Berufsleben lang mit der Frage beschäftigt, wie man das Thema „Sicherheit“ in die Köpfe und Herzen bergsteigender Menschen bringt.
Am 1. März 1992, damals leitete Robert Renzler** noch das Referat Bergsport, gab Larcher die erste Ausgabe von bergundsteigen heraus: 16 Seiten, auf dem eigenen PC entworfen und geschrieben, das Logo handgemalt. 1200 Exemplare wurden per Rundbrief an ehrenamtliche Tourenführer des ÖAV verschickt.16 Jahre lang verantwortete Larcher als Chefredakteur „mein Baby“, das den Kinderschuhen längst entwachsen ist: Heute hat bergundsteigen eine Auflage von 28.000 Exemplaren, erscheint vier Mal im Jahr, wird herausgegeben von ÖAV, DAV, AVS und Schweizer Alpen-Club und gilt zu Recht als wichtigste Publikation im Special- Interest-Segment „Alpinismus“.
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Es bleibt dem Referenten nicht erspart, auch die Schattenseiten des Skitourengehens darstellen zu müssen: Unfälle, bei denen Menschen in Lawinen zu Schaden oder ums Leben kamen. Larcher könnte sich das leicht machen. Seit 1984 ist er staatlich geprüfter Berg- und Skiführer, seit 1999 „beeideter und gerichtlich zertifizierter Sachverständiger“ für Alpinistik und Lawinenkunde und vermutlich würden viele seiner Zuhörer ein Schuldurteil aus seinem Munde akzeptieren.
Stattdessen sagt er, und seine Stimme wird eindringlich, man müsse Bergunfällen mit Respekt begegnen: „Wenn diese etwas gemeinsam haben, dann ist es die Unschuld der Akteure.“ Über Schuld und Teilschuld, Fahrlässigkeit und Vorsatz zu richten, obliege der Justiz. Larchers Ansinnen ist anderer Natur. Ihm geht es darum, genau hinzuschauen, zu analysieren, die Fehler zu finden und zu benennen. „Es ist wichtig, die eigene Fehleranfälligkeit zu akzeptieren und gegenzusteuern.“
Nur so ließe sich aus Beinahe- und tatsächlichen Unfällen lernen. Denn das Gespräch über Fehler sei ein „Fortschrittsmotor“. Larcher ist 13, als er zu klettern beginnt. Anfang der 1970er-Jahre hat die technologische Entwicklung, die dem Bergsport eine gewisse Sicherheit bescheren wird, noch nicht mal richtig begonnen.
„Es ist wichtig, die eigene Fehleranfälligkeit zu akzeptieren und gegenzusteuern.“
Niemand weiß, welche Haltekräfte Normalhaken haben. Eisschrauben sehen aus wie Korkenzieher. Und statt LVS-Geräten und Airbags haben Skitourengeher Lawinenschnüre am Körper. Mit einem guten Anteil Glück übersteht Larcher seine Sturm-und-Drang-Jahre. In diese Zeit fallen die ersten Solobegehungen des „Jungmannschaftsrisses“ an den Schnitlwänden sowie des „Buhl-Durchschlags“ in der Westwand der Speckkarspitze, in Seilschaft die „Philipp-Flamm“ in der Civetta-Nordwestwand, die „Charly Chaplin“ in der Laliderer-Nordwand, „Moderne Zeiten“ an der Marmolata-Südwand und mehr.

1985 nimmt Larcher, noch mit vollem schwarzem Lockenkopf, an der Erstbegehung der Nordwestwand des Masherbrum (7825 m) teil. Von seinen Gefährten Robert Renzler, Andreas Orgler, Hans Bärnthaler, Christoph Rimml und Thomas Burtscher sind der Letztere und Larcher die Einzigen, die noch am Leben sind, „und keiner der anderen ist im Bett gestorben“.

Die Neuroute durch die 3500 Meter hohe Bastion ist nicht nur schwierig, sondern auch extrem lawinen- und eisschlaggefährdet. Larcher erkennt damals, dass seine Bereitschaft zu leiden und Angst auszuhalten, begrenzt ist. In ihm keimt die Erkenntnis, er könnte eher zum Lehrer und Ausbilder, denn zum Extrembergsteiger geeignet sein. Für den Bergsport ist das ein Glücksfall, weil Larcher seine Energie fortan der Entwicklung von Sicherheitsstandards widmet.
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Die entscheidende Frage, die er sich bis heute immer wieder stellt: Wie begegnet man Unsicherheiten, Gefahren und Risiken am Berg? An dieser Stelle sei ein bisschen Innenschau erlaubt: „Ich bin heuer wieder überzeugter Fan von „Stop or Go“ geworden, und ich glaube, das ist wirklich gelungen … Ich bin noch frecher und sage, es ist das Beste, was es im analogen Bereich gibt.“
Ein Blick zurück: In bergundsteigen #29, Ausgabe 4/1999, präsentierten Larcher und sein Bergführerkollege Robert Purtscheller mit „Stop or Go“ ein Entscheidungs- und Handlungskonzept für Skitourengeher, das bis heute Grundlage des ÖAV-Ausbildungskonzeptes ist. Vereinfacht gesagt handelt es sich um den Versuch, Standard Operation Procedures (SOP), wie sie etwa in der Luftfahrt üblich sind, in die praktische Lawinenkunde einzuführen.

Das bedeutet, dass die Methode auch klare Verhaltensregeln vorgibt. „Nachdem ,Stop or Go‘ Regeln definiert, wird uns oft vorgeworfen: Das ist ja viel zu streng. Nur, wir haben auch begründete Ausnahmen, wie man eine Regel brechen kann.“ In Larchers Verständnis ist dies ein wichtiger Punkt, denn „unsere Regeln sind immer Empfehlungen, die sich bewähren und allgemein anerkannt werden müssen“.
Dazu müssen sie „möglichst smart sein, einfach und praxisrelevant, sonst werden sie nicht akzeptiert“.
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Knapp ein Drittel des „Lawinenupdates 2023/24“ hat Larcher vorgetragen, als er einen immer wiederkehrenden Aspekt seiner Überlegungen und Publikationen anspricht: den Faktor Mensch. „Wir Bergsteiger haben alle eine Scheu vor der Psychologie … Technische Sachen mögen wir, aber über die Psychologie reden wir nicht gerne. Ich zwinge euch jetzt dazu.“
Denn es sei wichtig, nicht nur ins Gelände und in die Schneedecke, sondern auch nach innen zu schauen: um sich Unbewusstes bewusst zu machen. Der „Mentalcheck“ – wichtige Information, richtige Verpackung – mache fünf „psychologische Fallen“ deutlich, in die Skitourengeher immer wieder tappten. Die Scheu vor offener Kommunikation. Hochgefühle, die „blind machen für Gefahren“.
Die Last des Erwartungsdrucks. Trügerische Sicherheiten, die sich aus der Form von Gelände und Gruppe ergeben. Sowie, last but not least, die „Expertenfalle, die ständig tabuisiert wird“. Die Summe seiner Erfahrungen erlaubt es Larcher, auch das eigene Tun zu hinterfragen. „Ich glaube, durch die Arbeit als Gutachter wurde ich selbstkritischer und offener.“ Larcher ist überzeugter Advokat einer positiven Fehler- kultur, vor allem unter sogenannten Experten.
Weil diese viele unfallfreie Tage im Gebirge verbrächten, säßen sie oft der Illusion auf, unsichere Situationen unter Kontrolle zu haben. Allzu häufig vertrauten sie dabei auf ihr Bauchgefühl – eine „romantische Betrachtung“, die Larcher als Entscheidungsgrundlage in der praktischen Lawinenkunde vehement ablehnt. Dies entspringt keineswegs der Willkür.

Larcher ist ein Kind der Aufklärung. Er argumentiert auf Basis der Vernunft und bezieht zugleich empirische Erkenntnis in sein Urteil ein. Dabei stützt er sich auf die Forschung des Psychologen und Risikoexperten Gerd Gigerenzer. Dieser bezeichnet Bauchgefühle als einfache Faustregeln, die eine komplexe Wirklichkeit vereinfachen und sich evolvierte Fähigkeiten des Gehirns zunutze machen; jene Fähigkeiten also, die uns wie ein unsichtbares Navi durchs Leben leiten.
Weder das eine noch das andere schütze gegen Lawinengefahren: Individuelle Faustregeln entstünden zufällig und in der menschlichen Evolution hätten Lawinen keine Rolle gespielt. „Regelbasiertes Entscheiden“, etwa auf Grundlage von „Stop or Go“, „ist der intuitiven Methode daher ganz klar überlegen“. Folgerichtig hält Larcher den Einzug künstlicher Intelligenz in die praktische Lawinenkunde für eine große Errungenschaft.
Günther Schmudlachs Launch der Planungsplattform www.skitourenguru.ch bezeichnet er, in Anlehnung an eine Textsammlung des Schriftstellers Stefan Zweig, als „Sternstunde“. Die Melange aus klassischer, analytischer und strategischer Lawinenkunde, in Algorithmen verpackt, vernetzt mit Gelände-, Wetter- und Schneedeckenmodellen sowie Unfallstatistiken trage maßgeblich dazu bei, dass es weniger Lawinenunfälle geben werde.
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„Überhaupt ist es toll, wie digitale Technologie den analogen Sport, und Bergsport ist so was von analog, befruchtet. Das begeistert mich.“ Die Tiefe des Bergerlebnisses werde durch intersubjektives, datenbasiertes Lernen und Entscheiden nicht geschmälert. Stattdessen werde der Heldenmythos, der den Individualismus überhöhe, endlich als das entlarvt, was er sei: „ein rückständiges Selbstbild, das immer wieder seine Opfer fordert“.
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Dass der 65-Jährige sein Lebensthema „Sicherheit“ in griffige Formeln verpackt hat – „Stop or Go“, Partnercheck, Mentalcheck –, ist in erster Linie natürlich dem Sinn der Sache geschuldet. Zugleich könnte sich darin ein Bedürfnis ausdrücken. Eine Sehnsucht nach Checkpunkten, die eine gewisse Sicherheit versprechen. Nicht nur in den Bergen, sondern auch im richtigen Leben.
Denn was man nicht sieht oder spürt, weder auf der Bühne im Haus der Musik noch in seinem lichtdurchfluteten Büro des Innsbrucker Alpenvereinshauses: Larcher ist sich seiner selbst nicht immer sicher, Zweifel ziehen sich durch sein Leben und erst vor 15 Jahren konnte er sich eingestehen, dass professionelle Hilfe notwendig ist, um regelmäßigen depressiven Episoden entgegenzutreten.
Es ist nicht Freude, die uns dankbar macht. Es ist Dankbarkeit, die uns Freude macht
Am Ende des „Lawinenupdates 2023/ 24“ angekommen, verabschiedet sich Larcher mit einer tiefen Verbeugung. „Nicht der Weg ist das Ziel, auch nicht der Gipfel“, sagt er abschließend. „Das Ziel beim Bergsteigen ist heimzukehren, und zwar gesund und bereichert.“ Trotz dreier Stunden konzentrierter Hingabe scheint er nicht ermüdet, geschweige denn erschöpft zu sein.
Vermutlich, weil er mit Leib und Seele für etwas einsteht, das ihn selbst bewegt. „Es ist nicht Freude, die uns dankbar macht. Es ist Dankbarkeit, die uns Freude macht“, zitiert Larcher den Benediktinermönch David Steindl-Rast. Dieser hat seine Lebenseinstellung in einen Dreiklang gegossen: „Stop – Look – Go“, innehalten – hinschauen – handeln. Der Inhalt kurz. Die Form knackig. So wie Larcher es mag.
* Leider entschloss sich Michael Larchers dritter Enkel, nach Redaktionsschluss zur Welt zu kommen, weshalb sein Name erst mit dem Passwort zum „Lawinenupdate 2024/25“ verraten werden wird.
** Robert Renzler war Alpinist, staatlich geprüfter Berg- und Skiführer und langjähriger Generalsekretär des ÖAV. Er starb am 20. Mai 2023 bei einem Abseilunfall an der Stafflachwand.
Unter www.alpenverein.at/lawinenupdate finden sich alle Live-Termine des „Lawinenupdates 2024/25“. Die Vorträge sind abrufbar auf youtube.com/@oeav.