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Schuhmodelle ohne Dämpfung: fast wie Barfußlaufen. Foto: Vivobarefood
20. Aug 2024 - 7 min Lesezeit

Dämpfung adé: Barfußlaufen im Gebirge

Während die einen bei der Herstellung von Bergschuhen auf maximale Dämpfung setzen, gehen andere Unternehmen den umgekehrten Weg: mit Schuhen, die das Barfußlaufen imitieren – und so Beschwerden lindern sollen.

Entgegen dem Trend zu immer mehr Dämpfung, setzen Firmen wie Vivobarefoot oder Bär auf Barfußschuhe. Diese Minimalschuhe zeichnen sich vor allem durch eine dünne, flexible Sohle aus, die die natürliche Form und Stabilität des Fußes fördern. Und dadurch Knie-, Hallux- und anderen Beschwerden vorbeugen sollen. Die Idee ist keineswegs neu – aber in der Outdoor- und Berg-Branche bislang selten. Was die Schuhe können, wo ihre Grenzen im alpinen Bereich liegen – und was die Forschung dazu sagt: ein Überblick. 

1. Barfußschuhe vs. herkömmliche Schuhe

Der Hauptunterschied besteht darin, dass Barfuß- bzw. Minimalismus-Schuhe so konzipiert sind, dass sie das natürliche Barfußlaufen nachahmen und die natürliche Fußbewegung und Muskelaktivierung fördern, während herkömmliche Schuhe mehr Dämpfung bieten. Dies kann sich laut Studien auf die Fußstärke, die Körperwahrnehmung und die Lauf-Gehmechanik auswirken.

  • Sohlendicke und Dämpfung: sehr dünne, flexible Sohlen mit minimaler Dämpfung
  • Fersen-Zehen-Senkung: Barfußschuhe haben eine Fersen-Zehen-Senkung von Null oder nahezu null, d. h. Ferse und Vorfuß befinden sich auf gleicher Höhe. Herkömmliche Schuhe haben oft einen Fersen-Zehen-Abstand von 10-12 Millimetern
  • Breite des Zehenraums: breiter, fußförmiger Zehenraum, der die natürliche Spreizung der Zehen ermöglicht
  • Flexibilität: Dank der Flexibilität kann sich der Fuß natürlich bewegen
  • Unterstützung des Fußgewölbes: Herkömmliche Schuhe haben in der Regel eine eingebaute Fußgewölbestütze, während Barfußschuhe nur eine minimale oder gar keine Fußgewölbestütze haben, so soll das natürliche Fußgewölbe aktivitert werden
Barfußschuhe sollen die kleinen Muskeln, Sehnen und Bänder im Fuß wieder trainieren und fördern so auch im alpinen Gelände das eigene Gleichgewicht. Foto: Vivobarefood
Barfußschuhe sollen die kleinen Muskeln, Sehnen und Bänder im Fuß wieder trainieren und so auch im alpinen Gelände das eigene Gleichgewicht fördern. Foto: Vivobarefoot

2. Warum (fast) Barfuß?

Die Hersteller von Barfuß- und Minimalschuhe werben mit einer Vielzahl von Vorteilen für den ganzen Körper. In erster Linie sollen Barfußschuhe die kleinen Muskeln (vor allem die intrinsische Fußmuskulatur), Sehnen und Bänder in den Füßen wieder trainieren und so für mehr Kraft und Beweglichkeit in den Zehen, Knöcheln und im gesamten Fuß sorgen. Gleichzeitig kann die fehlende Fersenerhöhung zu einer besseren Körperhaltung und Gangmechanik führen, wodurch die Gelenke entlastet werden.

Vor allem die intrinsische Fußmuskulatur soll gestärkt werden. Foto: Bär

Die natürlichere Bewegung des Fußes und die Muskelaktivierung sollen außerdem dazu beitragen, bestimmte Überlastungsschäden wie Plantarfasziitis, Achillessehnenentzündung und Stressfrakturen oder Probleme wie Plattfüße, hohe Gewölbe und Überpronation zu vermeiden. Auch die Belastung des unteren Rückens, der Hüfte und der Knie kann verringert werden. Ein größerer Zehenraum ermöglicht ein natürliches Abspreizen der Zehen, wodurch Probleme wie Ballen- und Hammerzehen vermieden werden können.

Die Lösung: der Fuß selbst

„Die beste Technologie, die jemals in einen Schuh eingebaut wurde, ist der menschliche Fuß selbst. Fußprobleme entstehen durch Schuhe, die versuchen, die Arbeit des Fußes zu übernehmen. Dadurch wird die Funktionsfähigkeit des Fußes eingeschränkt, er wird deformiert, geschwächt und daran gehindert, uns über Aufprallkräfte zu informieren, damit wir uns geschickter bewegen können. 

Fehlstellungen und Entzündungen wie Hallux valgus, Morton-Neurome, Metatarsalgie, Plantarfasziitis, Achillessehnenentzündungen, Knie-, Hüft- und Rückenschmerzen können durch das Tragen von minimalistischen Schuhen gelindert werden. Auf der anderen Seite können wir Probleme verursachen, indem wir zu früh zu viel tun und nicht akzeptieren, dass wir Übungen und Rehabilitationsmaßnahmen benötigen, um unsere Fußgesundheit zu verbessern – genau wie bei jedem anderen Teil unseres Körpers.“ Galahad Clark, Vivobarefoot 

3. Das sagt die Forschung

Form bestimmt Funkion

Eine Studie aus dem Jahr 2016 hat gezeigt, dass eine strukturellere Veränderung der Füße vergleichsweise schnell stattfindet – insbesondere bei jungen Menschen, bei denen die Knochen noch nicht vollständig verknöchert sind. Der Wissenschaftler Hoffman beobachtete die Deformation des Hallux (Ballenzeh) bei einem Teenager, der gewöhnlich barfuß lief, in nur sechs Wochen während er Schuhe trug. Auch bei Kindern, die Laufschuhe trugen, wurden im Vergleich zu Barfußläuferinnen und Läufern veränderte Gangmuster, eine erhöhte Aufprallkraft und eine geringere Zehenbeugung festgestellt. Anders herum, zeigte sich, dass bei einem Patienten die Umkehrung des Hallux Valgus nach zwei Jahren passierte, in denen er anatomisch geformte Schuhe trug. 

Grenzen von Barfußschuhen: Achtung vor Verletzungen

Zwar kann die Fußstärke bei einem gesunden Erwachsenen durch das Training mit Minimalschuhen erhöht werden, aber auch zu Verletzungen führen, wenn es übermäßig betrieben wird, betonen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Während alltägliche Aktivitäten wenig bedenklich sind, sind die Modelle nicht für alle Unternehmungen geeignet bzw. erfordern eine gewisse Übung und vorausgehendes Training der Fußmuskulatur.

Schuhmodelle ohne Dämpfung: fast wie Barfußlaufen. Foto: Vivobarefood
Schuhmodelle ohne Dämpfung sorgen für bessere Balance & Körpergefühl. Foto: Vivobarefoot

Für Läuferinnen und Läufer

Verschiedene Studien zeigen, dass Barfußschuhe vor allem bei älteren Menschen die Muskelaktivität und Stabilität beim Gehen verbessern (z.B. Cudejko et al., 2020). Doch auch im Laufsport bieten Barfußschuhe Vorteile, wie Untersuchungen herausfanden: Die Großzehenposition bei Barfußläufern verringert den Druck auf den Vorfuß und beugt damit belastungsbedingten Veränderungen in Hüfte, Knie und Fuß vor, die oft zu Knieverletzungen führen. Die Struktur des Vorfußes spielt daher eine wichtige Rolle bei der Vermeidung solcher Verletzungen. 

4. Barfuß im alpinen Gelände

Das Barfußklettern hat in bestimmten Regionen wie dem Elbsandsteingebirge oder Fontainebleau lange Tradition – wohl aber auch als der Praxis heraus, dass es früher eben noch keine speziellen Kletterschuhe gab bzw. Material zu teuer war. Mit einem gewissen Kultstatus wird das aber auch heute noch von Protagonisten bewusst so praktiziert, Charles „Mowgli“ Albert bouldert 8C+ barfuß.

Einige Barfußschuhe eignen sich fürs alpine Gelände - allerdings braucht man Zeit und Übung. Foto: Vivobarefood
Einige Barfußschuhe eignen sich fürs alpine Gelände – allerdings mit Zeit und Übung. Foto: Vivobarefoot

Für alle mit weniger Hornhat haben der britische Hersteller Vivobarefoot sowie die deutsche Firma Bär Barfußschuhe speziell für alpines Gelände entwickelt. Die Modelle eignen sich in der Regel zum klassischen Bergwandern und sollen vor allem das Gleichgewicht, die Körperwahrnehmung und die natürliche Form und Funktion des Fußes unterstützen, aber auch ausreichend Stabilität, Schutz und Traktion bieten. Gleiches gilt für den Bereich Trailrunning. Vivobarefoot betont jedoch:

Sowohl beim Wandern als auch beim Laufen braucht man jedoch Zeit, um sich an Barfußschuhe zu gewöhnen, da es wichtig ist, die natürliche Kraft in den Füßen und Knöcheln aufzubauen, bevor man sich auf diese Aktivitäten einlässt.

Ein Barfußschuh für den Berg. Foto: Bär
Der Mountain Barefoot – ein Lederwanderstiefel mit Barfußsohle für den Berg. Foto: Bär

Grenzen und Vorsicht im technischen Terrain 

Barfußschuhe sind jedoch (bis auf die genannten Ausnahmen oben) nicht für vertikale Aufstiege geeignet, da sie nicht die steife Sohle von Kletterschuhen oder Bergstiefeln bieten. Im hochalpinen, vergletscherten Gelände stoßen sie ebenfalls an ihre Grenzen, da ihre flexiblen Sohlen nicht steigeisenfest sind. Es gibt zwar Modelle mit guter Wasserdichtigkeit und Wärmeisolierung, doch auch diese eignen sich nicht für klassischen Alpinismus. Bei leichteren Winterwanderungen mit Schneegrips oder flexiblen Spikes sind sie jedoch problemlos einsetzbar.

Ein Ausgleich für gequälte Kletterfüße?

Für Kletterer und Bergsteiger bieten Barfußschuhe laut Vivobarefoot enorme Erholungs- und Kraftvorteile. Allein das Tragen von Barfußschuhen über einen Zeitraum von sechs Monaten soll die Fußkraft um 60 Prozent erhöhen. „Das macht die Füße weniger anfällig für Ermüdung und erhöht die Widerstandsfähigkeit gegen Verletzungen“, so Galahad Clark.

Ob beim Trailrunning, als Ausgleich zum Klettern oder einfach um die Fußmuskulatur zu stärken: Barfußschuhe sind vielseitig einsetzbar und kombinierbar. Foto: Vivobarefood
Ob beim Trailrunning, als Ausgleich zum Klettern oder einfach um die Fußmuskulatur zu stärken: Barfußschuhe sind vielseitig einsetzbar und kombinierbar. Foto: Vivobarefoot

Quellen
Mick Wilkinson & Lee Saxby: Form determines function: Forgotten application to the human foot? The Foot and Ankle Online Journal 9/2, 2016
Curtis R. et. al.: Daily activity in minimal footwear increases foot strength. Sci Rep. 11(1):18648, 2021
Cudejko T. et. al.: Minimal footwear improves stability and physical function in middle-aged and older people compared to conventional shoes. Clin Biomech (Bristol, Avon),71:139-145, 2020
Richard Stoneham et. al: The influence of great toe valgus on pronation and frontal plane knee motion during running. Foot and Ankle Online Journal, 2020
Francis P. & Schofield G.: From barefoot hunter gathering to shod pavement pounding. Where to from here? BMJ Open Sport & Exercise Medicine, 2020

Pressemitteilung Vivobarefoot, Bär