Auf falscher Fährte: Über das blinde Vertrauen in fremde Abfahrtsspuren
Bereits am Vortag war ich mit zwei Gästen am Stubacher Sonnblick unterwegs. Es war ein stürmischer Tag, zwar bei Sonnenschein, aber bei Windgeschwindigkeiten bis zu 50 km/h und mehr äußerst ungemütlich. Nichtsdestotrotz konnten wir den Sonnblick besteigen und wir planten für den nächsten Tag eine Abfahrt ins Kitzkar vom Nordgipfel der Hohen Fürleg.
Am Beginn der Tour war es um einiges angenehmer als am Vortag, der Wind bei Weitem nicht so stark und auch die Temperatur nicht so kalt wie am Vortag. Heute waren noch zwei weitere Personen dabei, und so machte ich mich mit meinen vier Gästen gemütlichen Schrittes auf den Weg zur Fürleg. In der Scharte unterhalb des Gipfels frischte der Wind jedoch schon wieder gehörig auf und es waren bestimmt an die 80 km/h. Auch am Gipfel wurde er nicht schwächer.
Die nordseitige Einfahrt direkt vom Gipfel schien uns allen bei den Windgeschwindigkeiten etwas zu brisant, obwohl direkt vor uns fünf Wintersportler ins Kitzkar einfuhren. Der Blick hinunter versprach besten Schnee im flacheren und vor allem windgeschützten Kar. Wir machten uns auf den Weg zurück in die Scharte zwischen Nord- und Südgipfel und an einer windgeschützten Stelle machten wir eine Pause und eine neue Lagebesprechung.
Rein in die Abfahrt
Der Entschluss fiel, dass wir entlang der Aufstiegsspur abfahren würden, als plötzlich zwei Skitourengeher das Rabenkees Richtung Westen querten. Einer der beiden – vermutlich Bergführer, ich hatte ihn schon ein-, zweimal gesehen – fuhr zu mir her, kurzer Smalltalk im Wind über die alternative Abfahrt ins Kitzkar und weg waren die beiden.
Ich schlug meiner Gruppe vor, dass wir uns die Einfahrt ansehen und dann entscheiden, ob wir die 2000-Meter-Abfahrt machen oder nicht. Es sah gut aus und ich traf den Entschluss, dass wir auch einfahren, mit der Hoffnung, bald auf besseren Schnee und weniger Wind zu treffen.
Dem war leider nicht so, denn der Wind drehte und ich löste bereits eine kleine eingeblasene Windlippe durch eine Querfahrt aus. Ich wusste, es war äußerste Vorsicht in der Linienwahl geboten, und setzte meine Fahrt nach unten fort, denn das Gelände erschien mir sicher genug. Am flacheren Kessel oberhalb des Kitzkarköpfels war ich kurz unschlüssig: entweder 40 Meter seitlich aufsteigen, um in das laut Karte flachere Gelände ins Kitzkar zu queren, oder den Spuren der beiden Skifahrer vor uns durch ein kleines Couloir folgen …
Genau hier ließ ich mich dazu verleiten, den beiden zu folgen, ohne mir das Gelände vorher nochmal auf der Karte im Detail anzuschauen. Das „blinde“ Vertrauen in den Kollegen vor mir führte dazu, dass ich in immer steiler werdendes Gelände kam, die Hänge waren komplett geladen mit Triebschnee, teilweise lösten sich Schollen mit Anrisshöhen zwischen drei und zehn Zentimetern, nahmen aber keine Fahrt auf und rutschten nicht komplett ab.
Beim Abfahren hoffte ich, dass wir bald zu den flacheren Hängen queren könnten. An einem Punkt auf 2300 Metern sah ich, dass die beiden vor mir rechts durch felsdurchsetztes Gelände in wirklich vogelwildem Stil ausquerten. Mir war sofort klar, das wird mit meiner Gruppe nicht funktionieren. Die Hänge unter uns wurden immer steiler und eine sichere Abfahrtslinie war nicht zu sehen. Ich hatte uns in eine Falle manövriert …
Und jetzt? 140 Alpinnotruf
Ich schlug vor, die ca. 150 Höhenmeter zurück nach oben auf uns zu nehmen, das war aber nicht möglich, da einer der Teilnehmer bis zum Bauchnabel einbrach und im „griesigen“ Schnee keinen Halt fand. Es gab also nur noch eine Möglichkeit: 140 Alpinnotruf. Die Verbindung war sehr schlecht und die Verständigung sehr schwierig, da uns der Wind mit 70 km/h um die Ohren pfiff.
Nach ca. 45 Minuten war der Helikopter da, konnte aber wegen des stürmischen Windes nicht landen und auch nicht nahe genug heranfliegen, um uns mit der Longline zu bergen. Es war eine ausweglose Situation und langsam aber sicher wurde jeder in der Gruppe mehr als nervös, denn es war bereits 15:45 Uhr. Nach weiteren 20 Minuten kam der Helikopter erneut und setzte ein Bergrettungsteam im Kitzkar ab.
Nach telefonischer Absprache mit einem Bergretter wollte das Team auf Höhe der Skispuren von den zwei Skifahrern vor uns zu uns herüberqueren. Das konnte aber dauern. Ich hatte zum Glück eine 30 Meter lange Petzl Radline mit dabei und baute durch Eingraben meiner Ski ein Seilgeländer auf, welches ich mit den Teilnehmern meiner Gruppe einzeln queren konnte.
Das ganze Prozedere – das Seilgeländer um 30 Meter versetzen, die Ski eingraben – machte ich ca. vier- bis fünfmal hintereinander und so kamen wir mit Glück im Kitzkar an. Die Bergretter versuchten in der Zwischenzeit von oben zu uns zu gelangen, was aber auf Grund der Lawinensituation nicht möglich war. Sie waren sichtlich erleichtert, als sie uns im Kitzkar antrafen, denn sie hätten nichts mehr für uns tun können und hätten uns die Nacht oben sitzen lassen müssen.
Für den nächsten Tag wäre ein Wetterumschwung gemeldet gewesen. Es war also wirklich knapp. Mir als Bergführer dieser Gruppe war es peinlich und ich fühlte mich schuldig, dass ich uns durch eine blöde Fehleinschätzung in diese beinahe fatale Situation geführt hatte. Ich war wirklich erleichtert, als wir im Kitzkar auf das starke Team der Bergrettung Enzingerboden trafen.
Alle waren unverletzt. Wir haben riesiges Glück gehabt. Ich bin ein Typ Bergführer wie wahrscheinlich viele von euch, der seinen Gästen gern das Maximum bietet – natürlich den aktuellen Verhältnissen angepasst, aber gerne das Maximum im Hinterkopf. In diesem konkreten Fall war aber das kleine bisschen mehr, das ich durch die Wahnsinnsabfahrt ins Kitzkar bieten wollte, genau das kleine bisschen zu viel – und es endete beinahe wirklich in der Katastrophe.
Den Ernst der Lage anerkennen
Viele Faktoren kamen an dem Tag zusammen und ich habe mich von meinem eigenen Ego treiben lassen, denn für meine Teilnehmer wäre eine Abfahrt zurück zur Rudolfshütte völlig ausreichend gewesen. Meine Vorstellung von der langen Abfahrt im Pulverschnee ins schöne Ödtal wollte mich einfach nicht loslassen und so blendete ich die Ernsthaftigkeit der aktuellen Gegebenheiten aus.
Die Lawinengefahr (am Vortag Stufe 2, an dem Tag Stufe 3!) erschien mir für die ursprünglich gewählte Linie aber trotzdem vertretbar. Jedoch kam es zu einer Abweichung vom ursprünglichen Plan und eine mir unbekannte Variante ins Kitzkar stand plötzlich zur Debatte. Nach kurzem Kartencheck am Handy sah ich, dass die Option durchaus machbar war, auch unter den aktuellen Bedingungen.
Dass sie jedoch nicht notwendig gewesen wäre, da die Gruppe eigentlich schon zufrieden war und bei dem starken Wind eine Tasse Kaffee und ein Kuchen auf der Hütte eine wohl attraktivere Alternative darstellten, wollte ich irgendwie nicht wahrhaben. Plötzlich befand ich mich durch die Konstellation aus Hangneigung und Einzugsbereich, Lawinengefahr und Gruppenstärke in einer lebensbedrohlichen Falle.
„Mit Adleraugen sehen wir die Fehler anderer, mit Maulwurfsaugen unsere eigenen.“
Franz von Sales
Das Gelände, in dem wir uns befanden, wäre sogar für abgebrühte, steilwandaffine Skifahrer nicht ganz ohne gewesen. Die Fehleinschätzung hat dann einen Dominoeffekt ausgelöst, plötzlich fällt Option um Option aus, der Ernst der Lage wird dann unmittelbare Realität, es heißt einen ruhigen Kopf bewahren, der ängstlichen Gruppendynamik sofort den Wind aus den Segeln zu nehmen und durch klare Kommunikation alle verbleibenden Möglichkeiten offen zu besprechen.
Im konkreten Fall wurden unsere Optionen auf Rettung durch die wetter- und lawinentechnischen Gegebenheiten quasi auf null gesetzt. Das realisierten wir aber erst, als wir bereits in der Falle saßen. Das volle Ausmaß meiner etwas kaltschnäuzigen Entscheidung, bei den vorherrschenden Gegebenheiten in die Seite einzufahren, war mir leider nicht bewusst, und genau das werde ich in Zukunft zu einem der wichtigsten Punkte meiner Tourenplanung machen.
Im Laufe der zehn Jahre, in denen ich diesen Beruf nun ausübe, wurde ich immer wieder mit einer ganz komischen, schleierhaften Fehlerkultur und Darstellung konfrontiert. Wichtige Faktoren wie Verhältnisse, Umstände, das eigene Ego usw. wurden oft verharmlost, Fehler unter den Teppich gekehrt, da es vielleicht zu peinlich erscheint, dass man auf Hilfe angewiesen war.
Ich glaube, das Teilen von Erfahrungen ist ein sehr wichtiger Bestandteil in unserem exponierten Beruf, um möglichst lange und unversehrt unterwegs sein zu können, um möglichst umsichtig beurteilen und planen zu können und Faktoren wieder mehr zu berücksichtigen, die durch eine allgemeine Schnelllebigkeit oftmals enorm an Gewicht verlieren.
Es war auch mein erstes Mal, dass ich auf externe Hilfe durch die Bergrettung angewiesen war, und ich war wirklich heilfroh, als die Jungs dann bei uns waren. Am Sonntagabend, wo es auf der Couch sicher feiner wäre, rückten sie aus, um zu helfen. Dafür möchte ich mich nochmals herzlichst bedanken. Ich hoffe, ich konnte dem ein oder anderen Bergsportler mit diesem kleinen Erfahrungsbericht etwas mit auf den Weg geben, damit dieser ein Stück weit sicherer ist.
Auf viele schöne Tage in den Bergen!
Guido Unterwurzacher, Bergführer & Alpinist