Angewandte Rangdynamik: Über die Gruppendynamik am Berg
Für mehr Handlungsoptionen in der Funktion „Leitung am Berg“
Unser Bezug ist dabei die Gruppendynamik des ÖAGG (Österreichischer Arbeitskreis für Gruppendynamik und Gruppenpsychotherapie) sowie einer dessen wichtigsten Wegbereiter, Raoul Schindler – Psychotherapeut und Psychiater –, und das von ihm entwickelte Rangdynamik-Modell. In diesem Artikel wollen wir zuerst auf die Reflexion von Gruppendynamiken outdoor und darauf aufbauend auf Aspekte des Rangdynamikmodells eingehen, welche in der Kombination einen deutlichen Mehrwert für die Sicherheit am Berg bringen.
Distanzierung schafft Überblick, schafft Handlungsmöglichkeiten.
Gruppengeschehen entsteht aus gemeinsamen Handlungen zwischen Leiter*in und Gruppe. Gruppen zu beschreiben und daraus Erkenntnisse für die eigene Leitungstätigkeit zu gewinnen, ist damit eine fordernde Aufgabe. Denn als Leiter*in ist man selbst ins Gruppengeschehen involviert!
Um im oft emotionsbesetzten Geschehen ICH <-> GRUPPE auf Distanz gehen und Dynamiken wahrnehmen zu können, ist es daher notwendig, sich von den Geschehnissen distanzieren zu können (Amann 2009, 404ff ).
Selbsterfahrung
In vielen Arbeitsfeldern, in welchen „Gruppe“ relevant ist (Wirtschaft, Beratung, Therapie etc.), ist es üblich, sich mit eigenen Mustern, Haltungen und Einstellungen im Rahmen von Selbsterfahrung intensiv auseinanderzusetzen. Dieser Zugang findet auch im Sport immer mehr Platz, denn gute Kenntnisse des eigenen Verhaltens und Wirkens in Gruppen und in der Funktion Leitung erweitern die Handlungsmöglichkeiten und ermöglichen ein bewussteres Begleiten von Gruppenprozessen.
Sparring/Kollegiale bzw. Peer-Beratung
Eine weitere Möglichkeit ist das gemeinsame Reflektieren des Gruppengeschehens mit einer vertrauten Person, um so einen anderen Blickwinkel (zusätzlich zum eigenen) auf die Situation zu bekommen (Sparring). Die Austauscharbeit mit Kolleg*innen funktioniert vor allem dann gut, wenn es untereinander keine funktionale Hierarchie gibt und die Beteiligten ihre Wahrnehmungen des Geschehens offen und auf Augenhöhe austauschen können (ebd.) (Abb. 1).
Denkpartnerschaft mit Modellen
Da man im Bergsport als Leiter*in aber oft ohne Austauschpartner*in unterwegs ist und vor Ort entscheiden muss, ist auch eine Denkpartnerschaft mit gruppendynamischen Modellen hilfreich, um mit Hilfe von konkreten Beobachtungskriterien einen Perspektivenwechsel für sich selbst erzeugen zu können. Modelle sind in unseren Köpfen immer griffbereit – praktisch „on the go“. Ein hilfreiches Modell wollen wir im Folgenden näher vorstellen.
Exkurs – Begriffsbestimmung Funktion „Leitung“ & „Rolle“
Grundlegend für das Verständnis des Rangdynamikmodells von Raoul Schindler ist es, die Begriffe „Funktion“, „Rolle“ und „(Rang-) Position“ exakt zu verwenden. Denn in der Anwendung des Modells kommt es hier wiederholt zu Verwechslungen, die die Aussagekraft deutlich reduzieren.
Funktion
Unter „Funktion“ verstehen wir eine wechselseitig vereinbarte Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturierung in einer sozialen Gemeinschaft, die an abgesprochene Tätigkeiten gebunden ist (Dolleschka 1999, 154). Diese hilft, im komplexen Geschehen von Gruppen entscheidungsfähig zu bleiben, oft ist sie auch im Kontext sinnvollerweise vorgegeben, z. B. durch Festlegung von Ausbildungs- oder Kursleitung durch den Anbieter. So ist z. B. ein*e Wander-/Kletter-/Skitoureninstruktor*in für die Sicherheit seiner/ihrer Gruppe während eines Kurses in abgesprochener Weise zuständig. Die Tätigkeiten einer Person in leitender Funktion umfassen diesbezüglich: Beurteilen – Entscheiden – Anleiten – Kontrollieren (Abb. 2).
Rolle
Wie eine Leitungsperson diesen Tätigkeiten nachkommt, ist gleichzeitig stark von ihrem Rollenverständnis geprägt. Unter „Rolle“ verstehen wir also (un-)bewusste Verhaltensmuster, die an Eigen- oder Fremderwartungen gebunden sind (Dolleschka 1999, 154).
Beispiele für unterschiedliches Rollenverhalten einer Leitungsperson:
- Die Instruktorin als skifahrende Heldin, das Eigenkönnen bei jeder Gelegenheit zur Schau stellend, Vorbild für die ganze Gruppe.
- Der Übungsleiter als beratender Experte, die Teilnehmer*innen kollegial coachend.
- Der fürsorgliche Bergführer, für den der Genuss aller Teilnehmer*innen im Mittel- punkt steht.
All das wären unterschiedliche Rollen, in denen die Funktion „Leitung“ am Berg ausgefüllt werden kann. Gleich bleibt dabei jedoch der mit der Gruppe gemeinsam vereinbarte Zuständigkeitsbereich (= Funktion Leitung).
Die klare Unterscheidung zwischen Funktion und Rolle ist im Weiteren deswegen so zentral, da das rangdynamische Positionsmodell oft mit Rollengestaltung verwechselt wird. Dazu später noch ausführlicher unter „Häufige Irrtümer“.
Rangpositionsmodell von Raoul Schindler – die Gruppe braucht ein „G“
Gruppe gibt es nicht per se. Man denke sich, fünf Menschen stehen auf einem Gipfel, jeder ist allein hinaufgestiegen, man kennt sich nicht. Niemand würde auf die Idee kommen, bei dieser Ansammlung bzw. dem kontaktlosen Nebeneinander von Menschen nach Gruppendynamik zu suchen.
Nach Schindler (1964, 172) entstehen Gruppen, wenn sich einzelne Menschen aus einer unverbundenen Menge gegenüber einem gemeinsamen Thema oder Ziel in einer Aktion zusammenschließen. Wenn also ein Gewitter aufzieht und unsere fünf Bergsteiger*innen beschließen, gemeinsam zur nächsten Hütte abzusteigen, um gemeinsam sicherer unterwegs zu sein, dann wird dies ihr Ziel/gemeinsames Thema und sie werden damit zur Gruppe. Im Rangdynamikmodell wird dieses Thema bzw. Ziel als G (wie Gegner oder Gegenüber) bezeichnet. In der Auseinandersetzung mit und in Bezug auf G (z. B.: Zu welcher Hütte steigen wir ab?) kristallisiert sich eine gefühlsmäßig, emotional unterschiedliche (affektive) Positionierung der Gruppenmitglieder untereinander und auf das spezifische G bezogen heraus und die Rangpositionen (Alpha, Omega, Gamma, Beta) werden besetzt (ebd.).
Menge, prägruppal, gruppal, Institution – unterschiedliche Phasen der Gruppe
Wir bleiben gedanklich bei den fünf Bergsteiger*innen auf dem Gipfel. In der anfänglich noch kontaktlosen, unbezogenen Menge bilden sich bei Aufzug des Gewitters Vorschläge, was man nun am besten machen könne. Dabei gibt es unterschiedliche Ideen. Eine ist für Notbiwak, einer für Abstieg zur Hütte, einer für Notruf und dafür, zu bleiben, wo man ist, usw. Jede*r ist für den eigenen oder keinen Vorschlag, das Annehmen und Verfolgen eines Vorschlags anderer ist noch nicht möglich. Schindler beschreibt dies als prägruppale Phase (ebd.).
Oft braucht es einige Zeit, bis ein Vorschlag Gefolgschaft findet und sich eine von mehreren Personen getragene Initiative auf ein Ziel (G) hin entwickelt. Dieses Aushandeln wird von Personen oft als recht mühsam und anstrengend, ja sogar nervig erlebt, ist aber notwendig, damit eine gemeinsame Richtung, die auch ausreichend „Zug“ erzeugt, klar werden kann. Setzt sich dann ein Thema durch, werden in dieser Dynamik auch die Rangpositionen (Alpha, Beta, Gamma, Omega) besetzt – man spricht dann von der gruppalen Phase. Entsteht ein Prozess der Institutionalisierung, bilden sich dauerhafte Strukturen, die die Dynamik der Gruppe erstarren lassen (z. B. eine hierarchische Rangordnung nach Ausbildungsstatus) (Schindler 1966, 2782). Wichtig ist, dass diese Phasen nicht linear gedacht werden, sondern ein lebendiges Sich-Bilden und Zerfallen von „Bezogenheiten“ darstellen.
Von Alpha bis Omega – Rangpositionen in der Gruppe (gruppale Phase)
- Alpha
Die Person, die in der gruppalen Phase die Bewegung der Gruppe auf ein Ziel hin anführt, ist zu diesem Zeitpunkt in der Rangposition Alpha (Abb. 3). Er/Sie ist damit für die Gruppe identitätsgebend und besetzt z. B. das Thema Gipfel (G) auch spürbar affektiv (z. B.: „Sie wird es schaffen, uns auf den Gipfel zu bringen!“). Diese Anführer*innenschaft entsteht in der Gruppe nicht durch physische Dominanz, sondern aus einer sozialen Wechselwirkung zwischen den Gruppenteilnehmer*innen. Der-/Diejenige trifft mit Vorschlägen und Handlungen zu einem bestimmten Zeitpunkt die Bedürfnisse der anderen Gruppenmitglieder am besten, diese folgen ihm/ihr und damit kommt er/sie in die Alpha-Position (Schindler 1957, 115; Schindler 1959, 128). - Gamma
Die anderen haben sich also der Initiative einer Person angeschlossen, identifizieren sich förmlich mit der Art wie er/sie sich mit dem Thema (G) auseinandersetzt. Damit besetzen sie selbst Gamma-Positionen, wobei es hier eine affektive Streuung gibt. Manche eifern der Person auf Alpha euphorisch nach, während andere auch zögerlichere innere Anteile haben, die sie aber in der Regel unterdrücken (Schindler 1957, 115f). - Omega
Die Person, die der Bewegungsrichtung der Person in Alpha gegenüber am zurückhaltendsten ist, kommt damit in die Omega-Position. Das kann z. B. am Berg auch bildlich bedeuten, als Letzter/Letzte zu gehen oder auch vorneweg zu rennen. Je nach Thema. Es gibt jedenfalls die unterschiedlichsten Ausdrucksformen für diese Ambivalenz, er/sie drückt damit die ambivalenten, unterdrückten oder auch tabuisierten Anteile der gesamten Gruppe aus (ebd. 116). - Beta
Personen auf der Beta-Position sind emotional in Bezug auf G recht unabhängig (Abb. 4). Sie befinden sich etwas neben der affektiven Hauptachse der Gruppe, die sich zwischen der Alpha- und Omega-Position aufspannt. Diese Positionierung und die daraus resultierende geringere emotionale Befangenheit ermöglicht einen „objektiveren“ Blick auf die Gesamtsituation (Schindler 1957, 107f ).
Mehr zu Omega
Die Person in der Omega-Position wendet sich mit ihren Affekten gegen Alpha und löst dadurch die Aggression der Gruppe aus. Entgegen den Hoffnungen der Personen in Gamma ist es gruppendynamisch nicht erleichternd, die Person auf Omega im Weiteren tatsächlich auszuschließen. Denn es wird nach einem Ausschluss eine neue Person geben, welche die Ambivalenzen der Gruppe über Handlung oder Sprache ausdrücken und die Omega-Position einnehmen wird.
Woran wird erkennbar, wer in der Omega-Position ist? Oft sind es die Personen, die nerven oder bei denen man sich denkt: „Wenn wir ihn/sie nicht dabei hätten, dann könnten wir … schneller gehen, den steileren Hang fahren, es gemütlicher haben.“ Manche verdrehen auch die Augen, wenn eine Frage oder Aussage aus der Omega-Position kommt. Damit ist die Zugehörigkeit der Person in Omega zur Gruppe gefährdet und sie scheidet oft mit Verletzungen (Sturz, Überforderung, Krankheit usw.) oder über freiwilliges Zurückbleiben aus. (Schindler 1970, 225–226, Schindler 1993, 305).
Wir erachten das Zweifeln und die Hinterfragung der Bewegungsrichtung der Gruppe, welche in der Omega-Position ausgedrückt wird, als hochrelevant und wichtig. Wenn die Gruppe bereit ist hinzuhören, erhöht dies den Diskurs, weitet den Blick auf ausgeblendete Themen und erhöht damit die Sicherheit für die gesamte Gruppe.
5 häufige Irrtümer in der Interpretation und Anwendung des Modells
Irrtum I: Vermischung von Verhalten (Rolle) und Position
Wenn wir das Rangdynamikmodell an der Bundessportakademie und in den alpinen Vereinen lehren, kommt es immer wieder zu der Situation, dass Teilnehmer*innen Rangpositionen mit typischen Rollen- und daher auch Verhaltenszuschreibungen verwechseln. So werden z. B. Alphazuschreibungen („Star“, „Held*in“, „Alpha-Tier“) als Personeneigenschaften und nicht als Positionsmerkmale aus der sozialen Dynamik heraus verstanden.
Irrtum II: Leitungspersonen sind immer in Alpha
Die Funktion Leitung kann mit den jeweiligen Vor- und Nachteilen aus jeder Rangposition wahrgenommen werden (Schindler 1964, 177). Folgende Bilder stellen dar, was die unterschiedlichen Rangpositionen für Leiter*innen mit sich bringen, und geben Einblick in das emotionale Erleben (Abb. 5). Führe ich als Leiter*in aus der Alpha-Position, hat das den Vorteil, dass ich für die Gruppe Identität stifte und begeistere (Schindler 1968, 3). Das fühlt sich oft richtig bestärkend und erhöhend an! Damit bin ich aber auch so intensiv mit dem Erreichen des Themas/Zieles (G) beschäftigt, z. B. „Tiefschneefahren ist das Großartigste – our way to happiness!“, dass es kaum möglich ist, die affektive Gegenrichtung, die in der Gruppe auch vorhanden ist, wahrzunehmen können. Ebenso erschwert es meine „objektive“ Wahrnehmung der Gesamtsituation und somit auch sicherheitsrelevanter Aspekte. Hilfreich kann hier z. B. eine tatsächliche Ortsveränderung in einer Pause sein. Ein Platz etwas abseits ermöglicht eine Distanzierung, welche die Beobachtung des sozialen Kräftefeldes der Gruppe erleichtert.
Die Beta-Position als Experte/Expertin mit hoher (Fach-)Kompetenz – außerhalb des Spannungsfeldes zwischen der Alpha- und der Omega-Position – ermöglicht z. B. einen sachlicheren Blick auf die Situation, welcher für Entscheidungen wichtig ist. In dieser Position ist leichter zu erkennen: Wer trägt das Gruppenziel am stärksten? Wer ist im Widerstand? Wie ist meine eigene Emotionslage? -> Einschätzung von Gruppendynamik und Gesamtsituation.
Man stelle sich eine Skigruppe vor, in der viele noch motiviert sind, die letzte schwere Abfahrt zu fahren. Die Person im Alpha der Gruppe pusht und zieht auch in diese Richtung. Gleichzeitig gibt es schon eine müde Person (damit im Omega und potenziell verletzungsgefährdet). In dem Moment, in dem die Leitung z. B. anmerkt: „Ich habʼ genug, mach ma Schluss für heute“, stellt sie sich auf die Omega-Position (gegen die Affekte der engagierten Gruppenmitglieder). Der Ärger trifft die Leitung, nicht die müde Person, somit rutscht diese wieder in eine sicherere, spannungsärmere Gamma-Position. Achtung: Das funktioniert nur aus einer klaren Leitungsfunktion heraus, denn selbst mit der Funktion betraut bin ich als Person in der Omega-Position ebenso von Ausschlussdynamiken bedroht und riskiere potenziell, den Einfluss auf die Gruppe zu verlieren. Sicherheitstechnisch logischerweise kritisch!
Irrtum III: Personen nehmen in Gruppen immer die gleichen Rangpositionen ein
Sind Personen wiederholt in Rangpositionen fixiert, d. h., dass sie meist nur dieselben Rangpositionen einnehmen können, deutet das auf eingeschränkte Verhaltensmöglichkeiten in Gruppen hin. Ein Entwicklungsziel von gruppendynamischen Ausbildungen ist es, unterschiedliche Rangpositionen anlassbezogen besetzen zu können.
Irrtum IV: Das Ziel/Thema (G) einer Gruppe ist konstant
Das Rangpositionsmodell wird immer wieder als etwas Konstantes gedacht. Aber G kann wechseln, und wenn dem so ist, dann wechseln auch die Personen ihre Positionen bzw. muss das Ziel neu verhandelt werden und die Gruppe fällt in eine prägruppale Phase zurück, wo auch Rangpositionen erst wieder „ausverhandelt“ werden.
Irrtum V: In Freundesgruppen spielt die Rangdynamik keine Rolle, weil wir alle gleich sind
Man darf nicht vergessen, dass Rangdynamik auch im Freundeskreis eine wichtige Bedeutung hat. Klar vergebene Funktionen fehlen, oft haben die Mitglieder Hemmungen, sich zu deutlich zu positionieren. Entscheidungsprozesse werden damit erschwert und das gruppendynamische Risiko steigt. Dazu ein anderes Mal mehr, eine tiefere Diskussion würde den Rahmen hier sprengen.
Abschließend eine Einladung
Wir verstehen das Rangdynamikmodell von Schindler als „Denkpartner*in“! Unser Artikel soll Lust darauf machen, darüber mit anderen in der Szene zu diskutieren und damit zu experimentieren. Wir haben in der Recherche und im Schreiben des Artikels wieder neue Nuancen entdeckt und gelernt. Die Entwicklung als Leiter*in findet unserer Erfahrung nach, durch wiederholte Auseinandersetzung mit der eigenen Positionierung in Gruppen, durch Reflexion mit Kolleg*innen und auch durch die Nutzung von selbsterfahrungsorientierten Lernangeboten statt. Wenn die obigen Zeilen an eigene Erfahrungen aus Gruppensituationen am Berg angeknüpft und Gedankenanstöße geliefert haben, haben wir unser Ziel erreicht!