In extremen Köpfen: Warum Alex Honnold keine Angst kennt
In Verbindung mit Alex Honnold hat sich ein eigenes Verb etabliert: „to honnold“ (Titelbild). Es beschreibt, mit dem Rücken zur Wand an einer hohen, ausgesetzten Stelle zu stehen und direkt in den Abgrund zu schauen. Buchstäblich der Gefahr ins Auge zu blicken.
Das Verb wurde inspiriert von Fotos von Honnold in genau dieser Position am Thank God Ledge, 600 Meter über dem Boden im Yosemite National Park. Honnold bewegte sich diesen schmalen Felssims entlang, Fersen an der Wand, Zehen über dem Abgrund, als er 2008 als erster Kletterer die senkrechte Granitwand des Half Dome allein und ohne Seil erklomm. Wenn er die Balance verloren hätte, wäre er zehn Sekunden lang in den Tod gefallen bis zum Grund weit unten. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Sechs. Sieben. Acht. Neun. Zehn.
Honnold ist einer der besten Freesolokletterer aller Zeiten, das heißt, er klettert ohne Seil und ohne jede Sicherung. Oberhalb von gut 15 Meter wäre jeder Absturz wahrscheinlich tödlich. An den schwersten Stellen mancher Kletterrouten haben seine Finger nicht mehr Kontakt mit dem Felsen als die meisten Leute mit den Touchscreens ihrer Handys, während seine Zehen auf winzigen Leisten stehen, die so schmal sind wie ein Streifen Kaugummi. Selbst beim bloßen Anschauen der Videos von Honnold befallen die meisten Leute schon Höhenangst, Herzklopfen oder Übelkeit, sofern sie überhaupt hinsehen können. Selbst Honnold sagt von sich, dass er feuchte Hände bekommt, wenn er Filme von sich ansieht.
All das machte Honnold zum berühmtesten Kletterer der Welt. Es gibt einen Kinofilm über ihn, der einen Oscar gewann. Er war auf dem Titelbild von National Geographic, in Werbespots für Citibank und BMW und in vielen viralen Videos zu sehen. Zwar mag er noch so viel betonen, dass auch er Angst empfinde (er beschreibt, am Thank God Ledge zu stehen sei „überraschend gruselig“), aber dennoch ist er zum Symbol für Furchtlosigkeit schlechthin geworden.
Eine Neurowissenschaftlerin wird auf ihn aufmerksam
Dazu hat er auch unzählige Kommentare aus der ersten Reihe fußfrei erhalten, die ihm unterstellen, dass wohl die eine oder andere Schraube im Oberstübchen nicht gut fixiert sei. 2014 hielt er einen Vortrag in der Explorers Hall, im Hauptquartier der National Geographic Society in Washington, D.C. Das Publikum war gekommen, um den Regisseur und Kletterfotografen Jimmy Chin und den Forscher Mark Synnott zu hören, aber ganz besonders, um über die Geschichten von Honnold zu staunen.
Synnott erregte besonderes Aufsehen mit einer Geschichte aus dem Oman, wohin das Team gesegelt war, um die abgelegenen Berge der Halbinsel Musandam zu besuchen, die wie das Skelett einer Hand in die Mündung des Persischen Golfs reicht. Bei einem abgelegenen Dorf wollten sie anlanden und die Einheimischen treffen. „An einem bestimmten Punkt“, sagte Synnott, „fingen diese Kerle zu schreien an und zeigten rauf auf die Klippe. Und wir so, ‚Was ist los?‘ Und natürlich dachte ich, ‚Ich glaub‘, ich weiß was los ist.‘“
Und dann zeigte Synott das Foto, das die Menge erschauern ließ. Da war Honnold, derselbe lässige Typ, der gerade neben ihm auf der Bühne saß, doch im Foto sah er aus wie ein Spielzeug, als er eine riesige, knochenfarbene Wand hinter dem Dorf erklomm. („Die Felsqualität war nicht die beste“, meinte Honnold später). Er war alleine und ohne Seil. Synnott fasste die Reaktion der Dorfbewohner so zusammen:
„Im Grunde hielten sie Alex für einen Hexer.“
Nach den Vorträgen in der Explorers Hall saßen die Abenteurer noch da und signierten Poster. Unter den Wartenden war eine Neurobiologin, die mit Synnott über den Teil des Gehirns sprechen wollte, der Angst auslöst. Sie beugte sich zu ihm hinunter, warf einen Blick auf Honnold und meinte: „Die Amygdala des Burschen reagiert nicht.“
Früher, erzählt mir Honnold, hätte er sich davor gefürchtet – so seine Worte –, dass Psychologen und Wissenschaftlerinnen sein Gehirn untersuchen, sein Verhalten prüfen und seine Persönlichkeit studieren. „Mir war es immer lieber, nicht das Innere der Wurst zu erkunden,“ meint er. „Wenn’s klappt, dann klappt‘s. Warum alles hinterfragen? Aber inzwischen finde ich, dass ich darüber hinweg bin.“
Und so liegt er an diesem Morgen im März 2016 in einer großen weißen Röhre an der Medizinischen Universität von South Carolina in Charleston. Die Röhre ist ein funktioneller Kernspintomograph (fMRI), im Wesentlichen ein riesiger Magnet, der Gehirnaktivität in den verschiedenen Gehirnarealen erkennt, indem er die Blutflüsse verfolgt.
Einige Monate vorher hatte ich mich an Honnold gewandt und ihn gebeten, sein viel bewundertes und viel geschmähtes Gehirn ansehen zu dürfen. „Ich fühle mich völlig normal, was immer das heißt“, sagte er. „Es wäre interessant zu sehen, was die Wissenschaft dazu sagt.“
Das psychologische Konzept „Sensation Seeking“
Die Neurowissenschaftlerin, die sich bereit erklärt hat, den Scan durchzuführen, ist Jane Joseph. 2005 war sie eine der ersten, die fMRIs an High Sensation Seekern (HSS) durchführte – Leuten, die extreme Erfahrungen suchen und dafür bereit sind, hohe Risiken einzugehen. Psycholog*innen haben Sensation Seeking seit Jahrzehnten studiert, weil es oft zu Kontrollverlust-Verhalten wie Drogen- oder Alkoholabhängigkeit führt, zu riskantem Sexualverhalten und Spielsucht. In Honnold sah Joseph einen möglicherweise noch ungewöhnlicheren Typ: den extremen High Sensation Seeker, der Erfahrungen am äußersten Limit der Gefährlichkeit sucht, aber fähig ist, die Reaktion von Geist und Körper darauf zu regulieren. Außerdem bewundert sie einfach, was Honnold kann. Sie hatte versucht, Videos von ihm beim Klettern ohne Seil anzusehen, aber als wenig risikofreudige Person fand sie sie bedrückend.
„Ich bin gespannt, wie sein Gehirn aussieht“, sagt sie an ihrem Platz im Kontrollraum hinter Bleiglas, als der Scan beginnt. „Dann untersuchen wir, was seine Amygdala macht, um herauszufinden, ob er wirklich keine Angst kennt.“
Oft als Angstzentrum des Gehirns bezeichnet, ist die Amygdala eher das Zentrum eines Systems der Reaktion auf und Interpretation von Bedrohungen. Sie erhält Informationen von unseren Sinnen auf einem direkten Weg. Das erlaubt uns zum Beispiel, von einem unerwarteten Abgrund zurückzutreten, ohne einen Moment des bewussten Denkens. Und es löst eine Reihe von körperlichen Reaktionen aus, die wir alle kennen: Herzrasen, feuchte Hände, Tunnelblick, Mangel an Appetit. Inzwischen schickt die Amygdala Informationen weiter zur höheren Verarbeitung in den kortikalen Strukturen des Gehirns, wo sie in das bewusste Gefühl übersetzt werden, das wir Angst nennen.
Ein erster anatomischer Scan von Honnolds Gehirn erscheint am Bildschirm von MRI-Techniker James Purl. „Kannst du hinunter zu seiner Amygdala gehen?“, fragt Joseph. Die medizinische Literatur kennt Fälle von Menschen mit seltenen angeborenen Fehlbildungen wie etwa die Urbach-Wiethe-Krankheit, die die Amygdala schädigen und schwächen. Diese Menschen fühlen meist keine Angst, aber sie zeigen auch andere bizarre Symptome, wie etwa das völlige Fehlen einer passenden Einschätzung von Intimsphäre. Eine solche Person kann zum Beispiel Nase an Nase mit einem anderen stehen bei direktem Augenkontakt, ohne dabei ein Unwohlsein zu empfinden.
Hat Honnold überhaupt eine Amygdala?
Purl scrollt hinunter, weiter durch die Rorschach-Topographie von Honnolds Gehirn, bis aus dem Morast plötzlich, wie eine Fotobombe, ein Paar mandelförmiger Knoten auftaucht. „Er hat eine!“, sagt Joseph und Purl lacht. Was immer die Erklärung dafür ist, wieso Honnold ohne Seil in der Todeszone klettern kann – es liegt nicht daran, dass er einen leeren Raum hat, wo sich die Amygdala befinden sollte. Auf den ersten Blick scheint die Apparatur vollkommen gesund, so Joseph.
In der Röhre sieht sich Honnold etwa 200 Bilder an, die so schnell wechseln wie die Fernsehsender beim Zappen durchs Programm. Die Fotos sollen verstören oder aufregen. „Bei anderen Leuten würden sie jedenfalls eine starke Reaktion in der Amygdala hervorrufen,“ sagt Joseph. „Ich gestehe, ich kann manche davon nicht ansehen.“ Die Auswahl umfasst Leichen mit blutigen und völlig entstellten Gesichtszügen; eine Toilette mit Exkrementen; eine Frau bei der Intimrasur – brasilianischer Style; und zwei anregende Kletterszenen.
„Vielleicht reagiert seine Amygdala nicht – er hat keine internen Reaktionen auf diese Stimuli,“ sagt Joseph. „Aber es kann auch sein, dass sein Regulierungssystem so gut ist, dass er sagen kann ‚OK, ich fühle das alles, meine Amygdala arbeitet‘, aber sein Frontalkortex ist so stark, dass er sich beruhigen kann.“
Warum macht er das?
Und dann ist da noch eine grundlegendere Frage. „Warum macht er das? Er weiß, es ist lebensgefährlich – sicher sagen ihm das die Menschen jeden Tag. Also könnte da eine Art von wirklich starker Belohnung vorhanden sein, etwa, dass die Emotion dieses Kicks besonders lohnend ist.“
Dazu stellt sich Honnold nun einem zweiten Experiment im Scanner, der „Belohnungsaufgabe“. Er kann kleine Geldbeträge gewinnen oder verlieren (maximal 22 Dollar), je nachdem, wie schnell er auf ein Signal hin einen Button anklickt. „Wir wissen, dass diese Aufgabe den Belohnungsschaltkreis bei anderen sehr stark anregt“, erklärt Joseph.
In diesem Fall sieht sie sich ein anderes Gehirnareal genauer an, den Nucleus Accumbens, der sich nahe der Amygdala befindet (die im Belohnungsschaltkreis mitspielt) kurz vor dem oberen Ende des Hirnstamms. Er ist ein wesentlicher Verarbeiter von Dopamin, einem Neurotransmitter, der Verlangen und Genuss anregt. „Extreme High Sensation Seeker“, erklärt Joseph, „brauchen vielleicht mehr Stimulation, um einen Dopamin-Impuls zu erhalten.“
Nach etwa einer halben Stunde kommt Honnold aus dem Scanner mit schläfrigen Rehaugen heraus. Aufgewachsen in Sacramento, Kalifornien, hat er eine erfrischend offene Art sich auszudrücken und eine eigenartig widersprüchliche Haltung, die man als äußerst gelassen bezeichnen könnte. Sein Spitzname ist No Big Deal – keine große Sache – was seine Einschätzung von praktisch jeder Erfahrung beschreibt. Wie die meisten Kletterer ist er sehnig und muskulös, eher vergleichbar mit einem Fitnesstrainer als mit einem Bodybuilder. Ausgenommen seine Finger, die so aussehen, als wären sie gerade in einer Autotür gequetscht worden, und seine Unterarme, die an Popeye erinnern.
„Alle diese Bilder anzuschauen, soll das Stress erzeugen?“ fragt er Joseph.
„Die Bilder, die Sie angesehen haben, werden in der Forschung verwendet, um ziemlich starke Reaktionen auszulösen“, antwortet Joseph.
„Weil, ich bin nicht sicher, aber mir war eher so: Was soll’s!“, sagt er. Die Fotos, sogar die „brennenden Kinder und andere Grausamkeiten“, kamen ihm alt und abgestanden vor. „Es war wie in einem Kuriositätenkabinett.“
Ein Monat später hat Joseph Honnolds Scans untersucht und ist mit ihm per Telefon nach Schanghai, China, verbunden, wohin Honnold gefahren ist, um den stalaktitenbehängten Riesenüberhang von Getu zu erklettern. Ungewohnt für Honnold verrät seine Stimme Müdigkeit und sogar Stress. Vor ein paar Tagen war er in der Nähe von Index, Washington State, eine leichte Route geklettert, um Topropeseile für die Eltern seiner Freundin einzuhängen. Als seine Freundin Sanni McCandless ihn zurück auf den Boden ließ, fiel er plötzlich die letzten drei Meter ungebremst in ein Blockfeld – das Seil war nicht lang genug, um den Boden zu erreichen und das Ende war McCandless durchs Sicherungsgerät gerutscht. „Es war einfach ein Murks“, sagt er. Er erlitt Kompressionsfrakturen in zwei Wirbeln. Das war der schwerste Unfall in seiner Felskletterkarriere und er passierte, als er an einem Seil hing.
Kaum Aktivität in der Amygdala
„Was bedeuten all diese Hirnscans?“ fragt Honnold und betrachtet die bunten fMRI-Bilder, die ihm Joseph geschickt hat. „Ist mein Hirn intakt?“
„Ihr Hirn ist intakt“, sagt Joseph. „Und es ist ganz interessant.“ Selbst einem Laien wird der Grund für ihr Interesse klar. Joseph hatte zu Vergleichszwecken einen Kontrollprobanden aufgenommen, einen Felskletterer ähnlichen Alters wie Honnold, der ebenso als High Sensation Seeker eingeschätzt wurde. Auch der Kontrollproband hatte die Scanneraufgaben als nicht stimulierend bezeichnet. In den fMRI-Bildern der Reaktionen der beiden Männer auf die ihnen gezeigten Fotos, in denen die Hirnaktivität lila aufleuchtet, kommt jedoch die Amygdala des Kontrollprobanden wie eine Neonleuchte rüber, während die von Honnold grau bleibt. Er zeigt null Aktivierung.
Weiter zu den Scans der Aufgaben mit Geld als Belohnung: Auch hier leuchten die Amygdala des Kontrollprobanden und mehrere andere Hirnbereiche wie ein Christbaum auf, so Joseph. In Honnolds Hirn sieht man nur Aktivität in den Hirnregionen, die visuellen Input verarbeiten. Das bestätigt lediglich, dass er wach war und den Bildschirm betrachtet hatte. Der Rest seines Hirns verbleibt in leblosem Schwarzweiß.
„Es tut sich einfach wenig in meinem Hirn,“ scherzt Honnold. „Es macht einfach nichts.“
Um zu prüfen, ob sie irgendetwas übersehen haben könnte, versuchte Joseph, die statistische Schwelle zu senken. Schließlich fand sie ein einziges Voxel – das kleinste Volumen an Gehirnmaterie, das der Scanner erfasst –, das in der Amygdala aufgeleuchtet hatte. Auf dieser Ebene waren jedoch Daten nicht von Fehlern unterscheidbar. „Bei einer ordentlichen Schwelle war nirgends eine Aktivierung der Amygdala zu erkennen“, sagt sie.
Könnte dasselbe in Situationen vorkommen, wenn Honnold ohne Seil an Stellen klettert, an denen jede andere Person in Angst zerfließen würde? Ja, sagt Joseph, sie glaube, dass genau das passiert. Wo keine Aktivierung, da wahrscheinlich keine Bedrohungsreaktion. Honnold hat tatsächlich ein außergewöhnliches Hirn und könnte wirklich da oben keine Angst verspüren. Und zwar gar keine.
Honnold hat sich immer gegen die Vorstellung gewehrt, er sei furchtlos. Die Außenwelt kennt ihn als jemanden mit unnatürlicher Ruhe, während er an der schmalen Grenze zwischen Leben und Tod an seinen Fingerspitzen hängt. Doch niemand sah ihn, als er vor mehr als einem Jahrzehnt, mit jungen 19 Jahren, am Fuß seiner ersten großen Freesolokletterei stand, und zwar an der Corrugation Corner, nahe des Lake Tahoes in Kalifornien. Corrugation Corner ist vom Schwierigkeitsgrad her eine 5.7 Route – also mehr als 5 Grade leichter als Honnolds maximales Schwierigkeitsnieveau zu jener Zeit. Dennoch, die Route ist etwa 100 m hoch. „Wenn du fällst, bist du tot,“ sagt Honnold.
Um die Route freesolo zu klettern, musste er das erst einmal wollen. „Ich glaube, mein Talent ist nicht meine Fähigkeit, solo zu klettern, sondern es auch wirklich zu wollen,“ meint Honnold. Seine Helden waren Freesolokletterer wie Peter Croft und John Bachar, die in den 1980ern und 90ern darin neue Maßstäbe gesetzt hatten. Er sah Fotos von ihnen in Klettermagazinen und wusste einfach, dass er sich in genau solche Situationen begeben wollte: wild exponiert, potenziell tödlich, aber völlig unter Kontrolle.
Er ist also ein klassischer High Sensation Seeker. An dem Tag, an dem er in der MRI-Röhre verschwand, beantwortete Honnold mehrere Fragebögen, mit denen Psycholog*innen den Grad der Abenteuerlust messen. Er sollte Aussagen zustimmen oder ablehnen wie: „Ich würde es genießen, sehr schnell einen Steilhang mit Skiern hinunterzufahren“ („Oh ja, ich liebe es, schnell Ski zu fahren“, sagt er); „Ich würde es genießen, Fallschirm zu springen“ („Ich habe Fallschirmspringen gelernt.“); und: „Ich mag es, eine fremde Stadt oder einen Stadtteil selbst zu erkunden, auch wenn ich mich dabei verlaufe“ („Das gehört zu meinem Alltag.“). Auf einer Outdoor-Messe hatte er einmal einen ähnlichen Fragebogen ausgefüllt, bei dem die Frage, ob er je Felsklettern würde, mit einem Foto von ihm illustriert war.
Durch Gewöhnung zur Normalität
Und doch bekam Honnold große Angst an der Corrugation Corner. Er fixierte die riesigen Henkel mit all seiner Kraft. „Ich klammerte mich fast panisch fest, als gäbe es kein Morgen mehr“, meint er. Aber er hat offensichtlich nicht nach dieser ersten Erfahrung aufgegeben. Nein, Honnold zog sich, wie er sagt, seine „mentale Rüstung“ an und überschritt die Schwelle der Angst immer wieder. „Für jede harte Seillänge bin ich wohl 100 leichte Seillängen solo geklettert.“
Mit der Zeit erschienen ihm zuerst als verrückt eingestufte Touren nicht mehr so extrem: Er machte Kletterzüge, bei denen er nur an einer Hand hing, etwa, wobei die Füße frei schwingen wie im Juni auf der berüchtigten Complete-Scream-Route; die überhaupt noch niemand vorher geklettert war. In 12 Jahren Freesoloklettern hat Honnold Griffe ausgerissen, ist ausgerutscht, von Routen abgekommen, wurde von Vögeln oder Ameisen überrascht und hat unter dem Gefühl gelitten, „psychisch auszufransen, wenn du einfach zu lange der saugenden Tiefe ausgesetzt bist.“ Aber weil er mit all diesen Problemen umzugehen lernte, wurde seine Angst sukzessive weniger.
Für Marie Monfils, Leiterin des Monfils Fear Memory Lab an der University of Texas in Austin, klingt Honnolds Entwicklung nach einer klassischen, wenn auch extremen Methode einer Angsttherapie. Bis vor kurzem, so Monfils, glaubten die meisten Psycholog*innen, dass Erinnerungen, auch angstbesetzte, sich kurz, nachdem sie erworben wurden, „verfestigen“. In den letzten 16 Jahren hat sich diese Einschätzung geändert. Studien haben gezeigt, dass eine Erinnerung jedes Mal, wenn wir sie aufrufen, neu verfestigt wird, wir also neue Informationen oder eine andere Interpretation zu unserer Erinnerung hinzufügen und so angstbesetzte Erinnerungen in angstfreie verwandeln können.
Honnold führt ein detailliertes Kletterlogbuch, in dem er Abläufe, Fehler und Erfahrungen in Routen notiert, und danach analysiert, was man besser machen kann. Seine schwierigsten Solos bereitet er minutiös genau vor: Er lernt die Züge ein und stellt sich jede Bewegung in perfekter Ausführung vor. In Vorbereitung eines 400 Meter langen Freesolos beispielsweise ging er zuvor alle Möglichkeiten durch, was schiefgehen könnte, sogar die Option abzustürzen und am Fels darunter zu verbluten. Danach machte Honnold die schwierige Freesolobegehung der Route Moonlight Buttress im Zion National Park in Utah – nach etwa 13 Jahren Klettererfahrung und vier Jahren im Soloklettern.
Erinnerungen wieder aufrufen, um sie in einem neuen Licht zu betrachten, tun wir laut Monfils ständig, ohne dass es uns bewusst ist. Aber es bewusst zu tun wie Honnold, ist „ein besonders schönes Beispiel für „Neukonsolidierung“, also für das Neubewerten und Abspeichern von Sinneswahrnehmungen im Gedächtnis, sprich fürs Lernen.“
Visualisierung – eine Art „Vorkonsolidierung“, bei der sich jemand ein zukünftiges anstatt ein vergangenes Ereignis vorstellt – funktioniert ähnlich. „Wenn er jede Bewegung im Kopf durchgeht und abprüft, ist zu erwarten, dass es seine motorische Erinnerung festigt und ihm so ein stärkeres Gefühl des Könnens gibt. Das ist Kompetenz“, erklärt Monfils. Gefühlte Kompetenz reduziert nachweislich Angst. Das erklärt etwa, wieso Menschen, die sich davor fürchten öffentlich zu sprechen (zu denen auch Honnold gehörte), diese Angst langsam verlieren, wenn sie es öfter tun und ihre entsprechenden Fähigkeiten entwickeln.
„Mit der Zeit wird es besser, wenn man sich in eine Situation begibt, in der man Angst erlebt, sie aber überwindet und das immer wieder tut. Es ist ein ziemlicher Aufwand, aber es wird leichter“, so Monfils.
Auch hier spielt die Amygdala eine wichtige Rolle. Monfils zitiert ein Beispiel aus ihrem Leben. Sie fürchtet sich wirklich vor Schlangen. Eines Tages, als sie mit Freunden im Kanu am Rande eines Sees unterwegs war, sah sie eine giftige Wassermokassinotter von einem Ast hängen. Monfils fing an zu schreien, paddelte verzweifelt auf den See hinaus und vermied Outdoor-Ausflüge für ein ganzes Jahr. Dann traf sie auf einer Wanderung auf eine andere Schlange und flippte wieder aus. Doch diesmal wandte sie ihr Fachwissen an. Sie zwang sich, das Ereignis ruhig und logisch zu überdenken. Sie bewertete ihre angstbesetzte Erinnerung neu und wandelte sie in etwas Nützlicheres um. Nur eine Woche später unterdrückte sie ihre Angst, packte ihren Mut zusammen und ging wieder wandern.
„Die Amygdala wird wahrscheinlich einen Sekundenbruchteil vor dem Moment aktiv, in dem du dich bewusst erinnerst: ah, hier habe ich die Schlange gesehen“, sagt sie. „Deine Hände werden feucht und die Gefühle überschwemmen dich. Und es ist nötig, dass du nun bewusst den präfrontalen Kortex aktivierst und sagst: ‚Die Schlange ist jetzt nicht hier, sie hat auch damals nichts getan, sie war nur da.‘ Und dann bewirkt das, dass dein präfrontaler Kortex die aktivierte Amygdala unterdrückt. Er stellt die Information in den passenden Kontext und sagt: ‚Du musst dich hier nicht fürchten, du kannst einfach weitergehen.‘“
Angeborene Eigenschaften oder hartes Training?
Da es nicht möglich ist, eine Zeitreise zu machen und Honnolds Gehirn vor seiner Karriere als Freesolokletterer zu scannen, bleibt unklar, wie viel von seiner Furchtlosigkeit angeboren und wie viel davon Training ist. Einige Möglichkeiten lassen sich aber ausschließen.
Joseph LeDoux, ein Neurowissenschaftler an der New York University, der seit den 1980ern die Reaktion des menschlichen Gehirns auf Bedrohungen studiert, meint, er habe noch nie von einer Person gehört, die eine von Geburt aus normale Amygdala hat – wie es bei Honnold der Fall scheint –, welche keine Reaktion zeigt. Honnold selbst äußerte die Vermutung, dass seine Amygdala vielleicht durch die ständige Reizüberflutung abgestumpft und inaktiv geworden sei. LeDoux glaubt das nicht. Als ich ihm von den Aufgaben und der fehlenden Amygdala-Aktivität auf den Scans erzähle, meint LeDoux: „Das klingt ziemlich beeindruckend.“
In allen Gehirnarealen gibt es genetische Unterschiede zwischen den Individuen, so LeDoux, also kann man annehmen, dass dieser Bereich in Honnolds Gehirn von Natur aus entspannter auf Bedrohungen reagiert, als es bei anderen Menschen der Fall ist. Das würde erklären, warum ihn in jungen Jahren die Bilder von seinen unangeseilten Kletterhelden eher anspornten als abschreckten. Jedoch genau so wichtig wie das Gehirn, mit dem er geboren wurde, sind die gesammelten Risiko-Erfahrungen, die neue Synapsen bilden. „Sein Gehirn reagiert wohl grundsätzlich weniger auf Bedrohungen als das anderer Leute, einfach wegen der Entscheidungen, die er immer wieder getroffen hat“, so LeDoux. „Und die selbst auferlegten Strategien, die er radikal benutzt, verstärken das noch.“
Klarer ist die Rolle der Genetik bei den Persönlichkeitsmerkmalen, die Honnold zum Freesoloklettern motiviert haben. Sensation Seeking gilt als teilweise vererblich und kann von Eltern an ihre Kinder weitergegeben werden. Das Merkmal wird mit geringerer Angst und schwächerer Reaktion auf eine potenziell gefährliche Situation in Verbindung gesetzt. Das kann dazu führen, dass man Risiken unterschätzt, was eine neue Studie auf ein Ungleichgewicht im Gehirn zurückführt, ausgelöst durch eine geringere Aktivität der Amygdala einerseits und andererseits durch eine fehlende Unterdrückung des suchtartigen Bedürfnisses nach starken Emotionen durch den präfrontalen Kortex. Wie bei einer Drogensucht handelt der High Sensation Seeker sozusagen wider die Vernunft.
Joseph interessiert sich in ihrer Forschung nicht für Einzelfälle (für sie ist der Scan von Honnolds Gehirn eine Untersuchung unter vielen), aber sie hat bereits in anderen Testgruppen von High Sensation Seekern eine stark reduzierte Amygdala-Reaktion festgestellt – und Honnold ist zweifelsohne ein extremer High Sensation Seeker. Verglichen mit dem Datenpool von Josephs Labor ist Honnold doppelt so stark auf der Suche nach heftigen Emotionen wie ein Durchschnittsmensch und ganze 20 Prozent mehr als ein durchschnittlicher High Sensation Seeker. Die plausibelste Erklärung dafür, warum seine Amygdala keine Aktivität in den Scans zeigte, ist laut Joseph, dass die ihm gestellten Aufgaben nicht stimulierend genug waren.
Honnold erwies sich in den Tests als besonders gewissenhaft, was einhergeht mit der Fähigkeit, auf eine Aufgabe fokussiert zu bleiben und sie zu Ende zu führen. Er erzielte auch hohe Werte in der Kategorie „Vorsätze“. Das heißt, er kann Vorsätze diszipliniert in die Tat umsetzen – ein für ihn typischer Modus operandi. Sehr niedrige Werte kamen bei Neurotizismus, also emotionaler Labilität, heraus. So ist er nicht anfällig dafür, sich Sorgen über Risiken zu machen, die man sowieso nicht in den Griff bekommen kann, oder über den ohnehin nicht planbaren Ausgang eines Abenteuers nachzugrübeln. „Wenn man sich von vorneherein nicht fürchtet,“ sagt Honnold, „muss man viel weniger kontrollieren.“
„Er hat Charakterzüge, die es ihm erlauben, unglaublich fokussiert und geduldig zu sein, aber gleichzeitig ist er permanent auf der Suche nach starken Emotionen“, sagt Joseph. Ein einzelnes Fallbeispiel wie Honnold reicht noch lange nicht aus, um eine Theorie zu beweisen. Aber ein Kerl, der Freesoloklettern am Limit zum Alltag gemacht hat, und trotzdem den Spitznamen „No Big Deal“ trägt, überzeugt doch als Nachweis für Josephs Hypothese von Honnold als Super-High-Sensation-Seeker.
„Die Vorstellung von einem Super-High-Sensation-Seeker ist wichtig. Ich verstehe darunter jemanden, der extrem motiviert ist, positive und spannende Erfahrungen zu suchen und gleichzeitig aber die Kontrolle darüber und die Fähigkeit zur Regulierung besitzt. Ich glaube, wir können daraus viel für die Behandlung von Suchterkrankungen und Angststörungen lernen und Strategien entwickeln, die die Menschen anwenden können. Wenn man bloß mit Alex spricht, kann man sich schon eine neue Art der Behandlung vorstellen“, meint Joseph.
So gehören zu den problematischen Verhaltensweisen von Sensation Seekern intensive Erlebnisse, die aus einem Impuls heraus und ohne an die unmittelbaren Folgen zu denken, erfahren werden, wie etwa riskantes Sexualverhalten oder Drogenmissbrauch (Honnold hat sich immer von Alkohol und Drogen ferngehalten und trinkt keinen Kaffee). Joseph fragt sich, ob man diese Energie umleiten könne in hochintensive Aktivitäten wie Felsklettern (aber mit Seil), die positiv besetzte Tugenden wie Disziplin und Zielstrebigkeit stärken und gesündere Lebensmuster fördern.
Ein bisschen zumindest könnte jeder von uns mit Honnolds Mitteln arbeiten. Sie sind vielleicht kein Super-High-Sensation-Seeker und können die Aktivität Ihrer Amygdala nicht willentlich unterdrücken, aber mit bewusster Anstrengung und konsequenter Begegnung mit ihren Ängsten, könnten auch Sie ungeahnten Mut mobilisieren.
Nie genug
Honnolds persönliche Herausforderung ist eine ganz andere, und zwar sind es bei ihm die immer höher werdenden Einsätze. Da sein Angstzentrum von Natur aus ganz speziell programmiert ist, oder er es selbst so programmiert hat, gibt es für ihn auch besondere Risikofaktoren.
Als ich Honnold bat, die ideale Erfahrung schlechthin beim Freesoloklettern zu beschreiben, sagte er: „Du kommst in eine Lage, in der du denkst, das ist nur mehr unerhört! Und genau darum geht’s eigentlich, sich in eine Lage zu begeben, wo du dich als absoluter Held fühlst – völlig überlegen.“
Er erzählt mir, dass einfacheres Soloklettern (was die meisten Felskletterer immer noch als extrem bezeichnen würden) an Glanz verloren hat und ihn sogar Solos auf seiner To-do-Liste manchmal langweilen. „Es war nicht so erfüllend, wie ich gehofft hatte,“ schrieb Honnold über ein schwieriges Freesoloprojekt, bei dem er drei schwierige Routen an einem Tag abhakte. „Die Leute würden glauben, dass solche Kletterleistungen eine große Euphorie auslösen, aber bei mir war es genau das Gegenteil.“
Die Tatsache, dass Honnolds Gehirn während der Belohnungsaufgaben fast durchgehend inaktiv war, passt gut zu der Hypothese, dass Sensation Seeker starke Stimuli brauchen, um Glückshormene auszuschütten. Eine Erfahrung wird erst dann lohnend, wenn der Dopaminschaltkreis aktiviert wird, so Joseph. Das kann dazu führen, dass man permanent nach starken Emotionen sucht, was bei Drogen und Glücksspiel zu Sucht und Abhängigkeit beitragen kann. Honnold könnte in diesem Sinne also „klettersüchtig“ sein und sein Hunger nach Emotionen könnte ihn, so Joseph, immer näher an seine Grenzen bringen.
Joseph hatte bei Honnolds Tests niedrige Werte im Bereich „Impulsivität“ erwartet. Sie hatte angenommen, dass bei ihm demnach auch niedrige Werte bei Ungeduld und Hemmungslosigkeit herauskommen würden. Tatsächlich waren seine Werte in diesen Bereichen jedoch am oberen Ende der Skala. Vielleicht erklärt das auch seine „Fuck-it-Solos“ – um in seiner eigenen Terminologie zu bleiben. Diese Solos machte er in depressiven Phasen, wenn innere Ausgeglichenheit der Angst wich und das Planen der Impulsivität.So erkletterte Honnold 2010 unter dem Eindruck von Beziehungsproblemen, eine etwa 300 m hohe Wand in der Wüste von Nevada, die er einige Jahre davor nur ein einziges Mal mit Seil geklettert war. Für Honnold ein Beispiel dafür, wie er lernte, positive und negative Stimmungen für das Erreichen seiner Ziele zu nutzen. In diesem Fall hat es offenbar geklappt, Honnold ist immer noch unter uns. Auf meine Frage, ob Joseph nach ihren Untersuchungen so etwas wie eine Warnung für Honnold parat habe, antwortete sie: „Möge die Impulsivität nicht sein Verantwortungsbewusstsein besiegen.“Als ich Honnold das nächste Mal treffe, klettert er mit seiner damaligen Freundin, die er inzwischen geheiratet hat, in Europa. Ich will von ihm wissen, ob die neue Erkenntnis, dass er ein atypischesGehirn hat, seine Sichtweise auf sich selbst verändert hat. Nein, sagt er, dass er nun weiß, dass seine Amygdala nicht reagiert, hat sein Klettern nicht beinflusst und auch nicht sein Selbstbewusstsein. Was nicht heißt, dass es ihn nicht zum Nachdenken gebracht hat. Vor kurzem, an einem Ruhetag, beschlossen er und seine Freundin, einen Klettersteig in der Nähe von Lauterbrunnen in der Schweiz zu gehen. Honnold natürlich ohne Gurt.„Aber an einem bestimmten Punkt dachte ich, das ist hardcore. Ich sollte mich wirklich konzentrieren“, sagt Honnold. Der Klettersteig, so stellte sich heraus, führt über eine glatte Felswand 1000 m über der Talsohle. Sie waren im Hochgebirge, das Wetter schlug um, seine Freundin war den Tränen nahe, und nach den jüngsten Regenfällen lief das Wasser die Kalkfelsen herunter und tropfte auf Griffe, Tritte und auf ihre Köpfe. „Ich dachte wirklich darüber nach, wie ich Angst verarbeite“, erzählt Honnold. Ihm wurde klar, dass er das – in dem Fall zumindest – gar nicht macht. Er war so oft in ähnliche Situationen gekommen, dass sie ihm völlig normal vorkamen. Da gab es nichts zu verarbeiten, da war nur die Frage, wer er geworden ist. „Das ist nichtgruselig,“ sagte er zu sich, „weil das ist es, was ich jeden Tag mache.“
Drei Fragen an Hannah Clarlisle, Philosophin und Kletterin, zum Phänomen Honnold
Von Gebi Bendler
Honnold ist in inzwischen der berühmteste Kletterer der Welt. Was fasziniert uns an jemandem, der vermeintlich sinnlos sein Leben aufs Spiel setzt?
Da ist einmal sein herausragendes Können. Es gibt wohl kaum einen zweiten Kletterer, der freesolo durch den El Capitan klettern würde. Er ist der unangefochtene Meister seines Faches. Uns fasziniert, dass jemand etwas kann oder sich etwas zutraut, was sich sonst niemand traut und damit aus der Masse hervorsticht. Das ist die vielzitierte Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn, die für die Durchschnittsbevölkerung schwer zu verstehen und deshalb spannend ist. Das Extreme, das ganz Besondere ist immer spannender als das Banale und Alltägliche. Und dann kommt mit dem möglichen Tod noch ein existenzialistisches Motiv oben drauf – das den Menschen seit seiner Geburt beschäftigt.
Sie meinen die Auseinandersetzung mit dem Tod bringt ihm Fans?
Zweifelsohne ist das so. Der Film Free Solo, der sogar einen Oscar gewann, ist nichts anderes als ein modernes Heldenepos. Die Erzählung ist dieselbe wie in der Antike. In der Odyssee zieht mit Odysseus auch ein Held aus, der sich diversen lebensgefährlichen Abenteuern stellt, aber überlebt – seine Gefährten hingegen sterben. Dieses Heldennarrativ scheint die Menschen seit jeher zu faszinieren und Honnold beschreibt sich selbst in einem Buch als modernen Gladiator. Als jemand, der in den Kampf um Leben und Tod zieht und seinem Publikum eine Show bieten darf. Warum sonst lässt sich jemand dabei filmen, wie er sterben könnte. Der vermeintlich schüchterne Honnold braucht diese Aufmerksamkeit, die ihm nebenbei Millionen einbringt. Und wir geben sie ihm, weil wir (zweifelhafte) Helden brauchen. Und Unterhaltung! Es liegt also auch oder besonders an uns als Publikum.
Als Werther-Effekt wird in der Medienwirkungsforschung die Annahme bezeichnet, dass ein kausaler Zusammenhang zwischen Selbstmorden, über die in den Medien ausführlich berichtet wurde, und einem Anstieg der Suizidrate in der Bevölkerung besteht. Finden Sie es in Anlehnung daran nicht bedenklich oder sogar verantwortungslos, einem Freesolokletterer so viel Raum in einem Sicherheitsmagazin für Bergsport zu geben? Wir könnten ja Nachahmer*innen motivieren…
Provokante Frage! Das finde ich nicht. Ich finde eine kritische Auseinandersetzung immer besser als etwas totzuschweigen, was sich ohnehin nicht totschweigen lässt. Das Phämomen Honnold ist allgegenwärtig. Ob jetzt darüber in bergundsteigen berichtet wird oder nicht, deshalb werden genauso viele Jugendliche seine Aktionen inspierend finden oder nicht. Viel wichtiger ist, zu lernen und zu verstehen, was extreme Menschen antreibt. Daraus kann man viel über menschliche Motive und Risikoverhalten im Allgemeinen lernen. Die philosophische und psychologische Auseinandersetzung damit ist nämlich enorm wichtig, um über pädagogische Ausbildungskonzepte nachzudenken. Welchen Umgang mit Risiko und Angst wollt ihr in Kursen mitgeben? Welche Grundwerte zum Thema Sicherheit – das ja ein gesamtgesellschaftliches ist – wollt ihr vermitteln? Das sind wichtige Grundsatzdiskussionen für die alpinen Vereine, die durch solche Extrembeispiele wie Honnold angestoßten werden könnten.