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Nina klettert die „Changing Corners” in der Nose am El Capitan.
07. März 2023 - 11 min Lesezeit

4x Alpinklettern: Der Reiz der Vielfalt

Vier Menschen haben in den vergangenen Jahren das Alpinklettern in den Alpen und den Weltbergen geprägt wie wenige andere. Gemeinsam ist ihnen – wie vielen der jungen Generation – der Werdegang vom Bouldern sowie Hallen- und Wettkampfklettern zu Betätigungsformen, die man einem Alpinismus moderner Prägung zuordnen könnte. Barbara Zangerl, Jacopo Larcher, Nina Caprez und Jorg Verhoeven erzählen von ihren Erfahrungen.

1. Barbara Zangerl :„Ein typischer Fall von Selbstüberschätzung ”

Barbara in „Joy Division“, 8b, Val di Mello. Foto: Hannes Mair, alpsolut.com.
Barbara in „Joy Division“ (8b) Val di Mello. Foto: Hannes Mair, alpsolut.com.

Erfahrungsbericht von Barbara Zangerl

Hansjörg Auer hatte eine besondere Gabe: Er konnte einem auch das krasseste alpine Abenteuer so schmackhaft machen, dass man unbedingt dabei sein wollte. Meistens sah die Realität ganz anders aus. Mich überredete er, ihn an die Westliche Zinne zu begleiten, um „Panaroma“ (8c) zu probieren. Ich wusste damals nicht, dass die Route mitten durch ein Riesendach zieht.

Hansjörg meinte, ich könne ein bisschen im Nachstieg klettern, das Jümaren lernen und mir das Ganze einfach mal anschauen. Das war mein erstes alpines Erlebnis, und ich hatte nie zuvor solche Angst. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, mich in dem ausgesetzten Gelände aufs Vorsteigen zu konzentrieren. Selbst im Nachstieg war klar, dass ich nicht einfach rasten konnte – die Wand ist zu steil, man pendelt einfach ins Leere. Das war ein richtiger Crashkurs.

Einige Jahre später, mit viel mehr Erfahrung, kam ich zurück, um selbst die Route „Bellavista“ (8c) an der Westlichen Zinne zu versuchen. Die Leidenschaft für den Alpinismus entdeckte ich eher zufällig! Zuvor war ich meistens bouldern, bis ich mir wegen des ständigen Abspringens aus großer Höhe 2018 einen Bandscheibenvorfall zuzog. Dieses Ereignis hat meine Einstellung zum Klettern stark geprägt.

Damals wurde mir klar, dass mich am allermeisten das Gesamtpaket „Klettern“ reizt – mal Sportklettern zu gehen, mal Alpinklettern, die Disziplinen zu kombinieren und dabei ständig dazuzulernen, neue Erfahrungen zu sammeln, mental zu reifen. Aufgrund der Verletzung kam ich zunächst zum Sportklettern. Mich faszinierte, wie unterschiedlich die beiden Disziplinen sind. Egal, was für einen Griff ich in die Hände bekam, nach zehn Metern Seilklettern war ich so gepumpt, dass ich nicht mehr weiterkam.

Null Ausdauer, das war eine harte Erfahrung.

Obwohl ich acht Jahre lang gebouldert hatte, fühlte ich mich wie ein Anfänger. Aber genau darin lag der größte Reiz für mich. Genauso erging es mir zwei Jahre später, als ich mit dem Alpinklettern anfing. Den inneren Schweinehund zu überwinden, wenn man einige hundert Meter über Grund und weit über dem letzten Haken steht, das war neu, aufregend, furchteinflößend und motivierend zugleich.

Zusammen mit Hansjörg reiste ich 2010 zum ersten Mal ins Yosemite Valley. Auch das war ein wildes, unvergessliches Erlebnis. Das Rissklettern fühlte sich so unmöglich an! Und wieder gab es viel zu lernen. Einmal auf den El Capitan klettern zu können, wurde mein größter Traum. Mit dieser Reise legte ich den Grundstein für viele weitere Abenteuer in großen Wänden. Egal, auf was für einem Niveau man klettert, man muss Erfahrungen sammeln, um sicher im Alpinen unterwegs zu sein.

Außer Kraft kann man wenig vom Hallenklettern mitnehmen. Ich halte den Hallenkletterboom deshalb für eine gefährliche Entwicklung. Alpine Routen sind oft viel komplexer, schwieriger und anspruchsvoller, als ihre Bewertung vermuten ließe. Man denkt, den Schwierigkeitsgrad beherrsche man im Schlaf. Und auf einmal steht man in einem schlecht abgesicherten Klassiker, die wenigen Haken sind alt und die Wegfindung schwierig.

Barbara Zangerl und Jacopo Larcher bei der Rotpunktbegehung von Joy Division (8b, 20 SL) im Val di Mello.
Barbara Zangerl und Jacopo Larcher bei der Rotpunktbegehung von Joy Division (8b, 20 SL) im Val di Mello. Foto: Hannes Mair, alpsolut.com

Schnell geht man dann ein großes Risiko ein. Jacopo und mir erging es so in der Route „Moderne Zeiten“ (6c+) an der Marmolata-Südwand. Wir verstiegen uns, es wurde dunkel und wir verbrachten die gesamte Nacht mit Abseilen. Ein typischer Fall von Selbstüberschätzung. Das passiert, wenn man sein Kletterniveau im alpinen Gelände nicht langsam steigert.

Barbara Zangerl, 34, zählt zu den besten Big-Wall-Kletterinnen der Gegenwart. Ihr gelangen freie Begehungen schwieriger El-Capitan-Routen sowie der „Odyssee“ (8a+) in der Eiger-Nordwand. Barbara und Jacopo bilden eine der weltweit stärksten Seilschaften.

2. Jacopo Larcher: „Ich bin doch kein Alpinist“

Jacopo in „Joy Division”, 8b, Val di Mello. Foto: Hannes Mair, alpsolut.com.
Jacopo in „Joy Division”, 8b, Val di Mello. Foto: Hannes Mair, alpsolut.com.

Erfahrungsbericht von Jacopo Larcher

Ich war zehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal kletterte. Und ich erinnere mich noch genau an das Gefühl der Freiheit, das ich in meiner ersten Route empfand. So etwas hatte ich nie zuvor erlebt. Mir war sofort klar, dass Klettern genau das war, wonach ich gesucht hatte. Ich begann, meine gesamte Freizeit in der kleinen, örtlichen Kletterhalle zu verbringen, meistens mit meinem Vater.

Ich hatte eine Menge Spaß, aber gleichzeitig vermisste ich es, meine neue Leidenschaft mit anderen Kindern erleben zu können. Aus diesem Grund begann ich mit dem Wettkampfklettern; nicht, weil ich mich mit anderen messen wollte – ich bin definitiv kein Wettkampfmensch –, sondern aus dem Wunsch heraus, meine Erfahrung zu teilen und mich selbst herauszufordern.

Das Wettkampfklettern ließ mich um die ganze Welt reisen, von Südamerika bis Australien. Wegen des engen Zeitplans hatte ich aber nie Gelegenheit, die Orte zu erkunden, an die ich reiste. Das Einzige, was ich sah, waren Kletterhallen. Im Alter von 22 Jahren entschloss ich mich deshalb dazu, diese Welt zu verlassen und einen neuen Weg einzuschlagen. Ich wollte neue Gegenden erkunden und mich Herausforderungen stellen, meine Komfortzone verlassen. Der Übergang vom Wettkampf- zum Big-Wall-Klettern verlief langsam und in mehreren Phasen.

Der rote Faden war (und ist) meine Lust am Reisen und an ständiger Veränderung – beides erlaubt mir, als Mensch zu wachsen.

Immer, wenn ich mich zu wohl fühle, suche ich neue Herausforderungen. So verbringe ich natürlich immer mehr Zeit in den Bergen. Ich mag das Gefühl, mich in einer großen Umgebung klein zu fühlen und mit unerwarteten Situationen fertig werden zu müssen; etwas, das ich in meiner Wettkampf- und Sportkletterkarriere nie erlebt habe. Ich würde mich trotzdem noch nicht als Alpinist bezeichnen. Ich bin ein Kletterer, der sich in naher Zukunft mehr und mehr dem Alpinismus zuwenden wird.

Was mir an dieser, für mich neuen Welt am meisten gefällt, ist die Freiheit, sich selbst ausdrücken zu können. Unser Spielplatz ist für alle gleich, aber jeder definiert seine eigenen Regeln. Natürlich gibt es verschiedene Kletterethiken – aber du selbst kannst dich für eine entscheiden.

Dabei spielt es keine Rolle, ob du an einem zehn Meter hohen Felsblock oder in einer abgelegenen großen Wand kletterst. Das ist es, was Klettern und Alpinismus für mich ausmachen: die Freiheit zu wählen. Letzten Endes zählt nur deine Einstellung.

Jacopo Larcher, 32, gelangen neben zahlreichen Big Walls weltweit auch Erstbegehungen von Trad-Routen bis zum Schwierigkeitsgrad 8c. Sein Meisterwerk „Tribe“ im italienischen Cadarese ließ er unbewertet.

3. Nina Caprez: „Zusammenhalt statt Konkurrenzkampf“

Nina klettert die „Changing Corners” in der Nose am El Capitan.
Nina klettert die „Changing Corners” in der Nose am El Capitan. Foto: John Glassberg

Erfahrungsbericht von Nina Caprez

Ich bin in den Schweizer Bergen aufgewachsen. Daher habe ich das Bergsteigen gelernt, bevor ich überhaupt eine Halle von innen gesehen oder einen Plastikgriff angefasst habe. Als ich 13 war, trat ich einer Jugendgruppe des Schweizer Alpenclubs (SAC) bei. Neben Ausflügen zum Klettern, Bergsteigen, Skifahren und Skitourengehen gingen wir auch immer wieder in eine Kletterhalle.

Mich packte dann schnell die Leidenschaft für das Klettern und ich trainierte regelmäßig in der Halle. Mit 17 startete ich in meinem ersten Kletterwettkampf, zwei Jahre später kam ich in die Schweizer Nationalmannschaft. Drei Jahre lang nahm ich an internationalen Wettkämpfen teil. Auch in dieser Zeit war ich immer gerne mit meinen Freunden draußen am Fels.

Das war wichtig für mich, als Ausgleich zum Wettkampfklettern. Dass ich meine Wettkampfkarriere schließlich beendete, lag vor allem am mangelnden Teamgeist. Heute ist das sicherlich anders; die Athletinnen wachsen gemeinsam auf und sorgen selbst für guten Spirit. Damals herrschte im Schweizer Team vor allem unter den Frauen ein großer Konkurrenzkampf.

Anstatt sich zu unterstützen, wollten die Mitstreiterinnen, dass du runterfällst. Das hat mich immer sehr gestört. Zudem hatte ich das Gefühl, zu viel Zeit in der Halle zu verbringen. Plastik ist einfach nicht mein Element. Im Grunde habe ich mich im Wettkampfsport nie richtig wohl gefühlt. Es war frustrierend, so viel Energie in etwas zu investieren, in dem ich mich überhaupt nicht wiederfand.

Mit dem Wettkampfklettern aufzuhören war für mich trotzdem nicht einfach. Aus diesem Leistungssystem mit all dem Druck und den Erwartungen auszubrechen, ist ein harter Prozess. Etwas Wichtiges konnte ich dabei aber lernen – es ist nicht schlimm, wenn man für etwas nicht gemacht ist. Wichtig ist nur, auf sich selbst zu hören. Nachdem ich meine Wettkampfkarriere beendet hatte, konzentrierte ich mich verstärkt auf Mehrseillängenrouten. Je mehr ich davon kletterte, desto mehr wollte ich auch wieder Bergsteigen und Mixed-Klettern. Meine wichtigste Erkenntnis war:

Während ich im Wettkampf immer nervös und gestresst war, irgendwie verloren, war ich am Fels komplett entspannt.

Natürlich gibt es einen gewissen Druck, wenn du in ein Projekt einsteigst – aber dieser Druck ist positiv. Mir wurde klar, wie viel das Draußensein, die Natur, die Kletterfreunde zu meiner Leistung beitragen.

Man muss nicht immer alles messen und vergleichen. Du machst eine Route, weil sie dir gefällt. Dein Ziel ist, irgendwann hinaufzukommen, ohne Zeitdruck, ohne Konkurrenz. Die Unsicherheit, die immer dabei ist, macht das Erlebnis zum Abenteuer. Sich ständig neuen Umständen anpassen zu müssen – das ist es, was mir am Alpinismus so gefällt.

Das Klettern hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zum Breitensport entwickelt. Meiner Ansicht nach gilt das nicht für den Alpinismus. Ich finde es sehr positiv, dass immer mehr Leute klettern – egal wie man diesen Sport ausübt, ist er gesund für Körper und Geist. Durch den Kletterboom differenziert sich der Sport immer mehr aus.

Einerseits gibt es eine große Menge an Fitness- und Hallenkletterern, andererseits wenige, die an den Fels gehen, Mehrseilrouten klettern oder bergsteigen. Das sorgt dafür, dass die passionierten Alpinkletterer näher zusammenrücken. Das ist ja auch die beste Sportart, die es gibt.

Nina Caprez, 35, konnte als erste Frau die Route „Silbergeier“ (8b+) an der Vierten Kirchlispitze im Rätikon wiederholen. Dasselbe Meisterstück gelang ihr mit Barbara Zangerl in der „Unendlichen Geschichte“ (8b+).

4. Jorg Verhoeven: „Die Lust am Abenteuer“

Jorg Verhoeven in seinem Element. Foto: Heiko Wilhelm.
Jorg Verhoeven in seinem Element. Foto: Heiko Wilhelm.

Erfahrungsbericht von Jorg Verhoeven

Ich bin wegen des Kletterns und der Berge aus den Niederlanden nach Österreich gezogen – der Schritt vom Bergwandern mit der Familie hin zum Alpinismus kam daher sehr natürlich. Dabei spielten Neugier, Interesse und Leidenschaft eine wichtige Rolle. Und meine Lust am Abenteuer hat sicherlich auch geholfen.

Mich fasziniert der Klettersport in seiner ganzen Vielfalt; sowohl Hallentraining und Wettkampfklettern als auch Felsklettern und Alpinismus. Weil aber gerade die Vielfalt so einen Reiz ausübt, fiel es mir oft schwer, mich auf eine spezifische Disziplin zu fokussieren. Das ist besonders für einen Wettkampfsportler schwierig.

Sinnvoll wäre ja, den Fokus voll und ganz auf die Halle zu legen. Für den Erfolg gewiss von Vorteil … Weil meine Leidenschaft für die Berge aber nie nachgelassen hatte, kam es regelmäßig vor, dass ich zwischen internationalen Wettbewerben in einer großen Wand vorzufinden war. Meiner Leistung kam das nicht unbedingt zugute; im Hinblick auf meine Einstellung und mentale Stärke konnte ich aber vom Gebirge profitieren.

Ich habe die eine Disziplin als Ausgleich für die andere gebraucht und so meine Vorlieben kombiniert. Das brachte andererseits aber auch mit sich, dass ich für meine alpinistischen Abenteuer oft nicht ideal vorbereitet war. Dafür war die Motivation umso größer. Nach dem Ende meiner Wettkampfkarriere verlagerte sich mein Fokus auf das Felsklettern, und somit hatte ich auch mehr Vorbereitungszeit für alpinistische Aktivitäten.

Zwei Fähigkeiten konnte ich aus dem Wettkampfsport mitnehmen: Selbsteinschätzung und Durchhaltevermögen. Als Wettkampfkletterer befasst man sich intensiv mit sich selbst und seinem Können und lernt sich sehr gut kennen.

Sich selbst einschätzen zu können, ist für einen Alpinisten extrem wichtig, da diese Fähigkeit Hand in Hand mit der Gefahr geht.

Man muss ehrlich zu sich sein. Wie reagiere ich auf Gefahr? Bin ich in der Lage, diese richtig einzuschätzen? Wie verhalte ich mich in unerwarteten Situationen? Wie ist mein physischer und mentaler Zustand? Das sind einige von vielen Fragen, von deren richtiger Beantwortung eine sichere Rückkehr ins Tal abhängt. Auch das Durchhaltevermögen ist von großer Bedeutung, sowohl im Wettkampfsport als auch im Alpinismus.

In beiden Disziplinen benötigt man es, um seine Ziele erreichen zu können. Besonders, wenn man an seine Grenzen geht und sich selbst herausfordert. Ich sehe also Parallelen zwischen Hallen- bzw. Wettkampfklettern und Alpinismus und glaube, dass sich die Disziplinen gegenseitig befruchten können. Dennoch bin ich der Meinung, dass dies nicht für die breite Masse an Kletterern gilt. Vielen Besuchern einer Kletter- oder Boulderhalle geht es darum, ein paar Stunden sportlich aktiv zu sein und Gleichgesinnte zu treffen.

Aus diesem Freizeitverhalten eine Linie zum Alpinismus zu ziehen, entspräche nicht der Realität. Die Entwicklung des Kletterns hin zum Breitensport sowie der Boom des Hallenkletterns haben deshalb, meiner Meinung nach, keinen wesentlichen Einfluss auf den Alpinismus.

Jorg Verhoeven, 37, zählt zu den besten Allroundkletterern seiner Generation. Der Niederländer gewann 2008 den Gesamtweltcup im Lead, kletterte „The Nose“ (5.14a) am El Capitan frei und beging unter anderem den gesamten Peutérey-Grat am Mont Blanc.

Mehr zu Jorg Verhoeven auf bergundsteigen.com: Über Klettern & psychische Probleme

Erschienen in der
Ausgabe #120 (Herbst 22)

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