19 Minuten gefangen in einer Lawine
„Auch mir passiert es trotz aller Erfahrung, dass ich dem psychologischen Mechanismus auf den Leim gehe. Ich erzähle das, um zu zeigen, wie sehr so simple, altbekannte psychologische Mechanismen, die in jedem von uns stecken – wie die, meine eigenen oder fremde Erwartungshaltungen erfüllen zu wollen –, eine Rolle spielen können, wenn es um Unfallursachen geht“, erzählt Chris Semmel.
„Zum Beispiel als Bergführer. Du hast Gäste, die kommen von weit her. Für sie ist eine Tour vielleicht das Highlight eines ganzen Jahres. Sie kommen und wollen etwas unternehmen. Sie sind voll motiviert. Sie haben ja auch für die Leistung bezahlt. Du willst deinen Gästen etwas bieten. Du weißt, es ist vielleicht eine nicht ganz optimale Wettersituation. Sie bringt dich in eine Zwickmühle. Es schneit. Es ist heikel. Aber wenn wir jetzt nicht aufbrechen, sitzen wir hier fest auf der Hütte am Piz Kesch – vielleicht sogar für Tage.
Denn morgen können wir auch nichts machen. Weil das Gelände hier sehr steil und es der erste Tag nach dem Neuschnee ist, werden wir ein erhöhtes Lawinenrisiko haben, das einen Aufbruch nicht erlaubt. Und wir kommen auch nicht über den Pass rüber … Aber wenn ich heute während des Schneefalls mit etwas Sichtbehinderung versuchen würde, über dieses andere Joch und das nächste flache Tal hinten rum auf die nächste Hütte zu kommen, wären wir morgen im richtigen Gelände.
Wir könnten unsere Tour wie geplant gehen, denn dort ist die Hangneigung unter 30 Grad und entsprechend nicht lawinengefährdet. Da ist es flach genug. Das wäre supergeil. Wir hätten Neuschnee und alles wäre perfekt. Du denkst dir: ‚Das müsste doch eigentlich funktionieren.‘ Eine Teilnehmerin aus der Gruppe ist besonders begeistert. Sie motiviert dich. ‚Au ja. Wir ziehen heute los, gehen da hinüber und hängen nicht hier auf der Hütte herum.‘
Also ziehst du los mit den Leuten. Eingepackt. Im Schneesturm. Mit Null-Sicht-Blindflug. Navigierst mit deinem Navigationsgerät. Ich hatte mich gut vorbereitet. Hatte mir eine genaue Route zurechtgelegt in der ‚White Risk‘-App – das ist die App des Schweizer Instituts für Schnee- und Lawinenforschung und sie ist wirklich hervorragend. Hangneigungs-Layer, Auslaufzonen, Risikokarten – alles drin. Nach der Karte müssten wir den Hang immer nur auf gleicher Höhe queren, um uns außerhalb des gefährdeten Bereichs zu halten.
Wegen des starken Schneefalls musste ich öfter das Handy zur Orientierung zücken, mehr als mir lieb war. Das fraß auf dem kurzen Stück erheblich Zeit. Ich wurde ungeduldig mit mir. ‚Jetzt schau halt nicht alle 20 Meter aufs Handy‘, ermahnte ich mich. ‚Das sind doch nur eineinhalb Kilometer. Steck das mal weg, du kommst ja überhaupt nicht vom Fleck. Du weißt jetzt, du musst anderthalb Kilometer immer die Richtung halten, etwas Höhe abbauen, einfach geradeaus, da bist du im sicheren Korridor.
Schau halt erst da vorne wieder drauf, wo du den Durchschlupf finden musst.‘ Instinktiv will ich Höhe halten, will natürlich unsere gewonnene Höhe nicht verschenken. Und dann läufst du und schaust nicht mehr aufs Handy. Plötzlich ist da ein grauer Schatten voraus im Schneetreiben. Du denkst: ‚Ist das ein Felsen? Da kann doch laut Karte keiner sein.‘ Du hast kaum Sicht. Hast die Skibrille auf. Es schneit. Es stürmt. Jeder ist eingepackt.
Verirrt
Ich hatte längst Abstände zwischen uns angeordnet, damit im Fall einer Lawine nicht alle betroffen sind. Es war kein gefährliches Gelände, die Steilheit betrug etwa 20 Grad. Einzig: Ich wusste nicht mehr genau, wo ich war. Der Felsen ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Eigentlich dürfte da kein Felsen sein?! Ich holte mein Handy wieder raus und sah: ‚Naja. Da bin ich 20, 30 Höhenmeter zu hoch. Ich bin zu nah dran an der Steilflanke.‘
Also Handy weg. Weiter, und zwar eine 90-Grad-Kehre und leicht bergab. Weg von dem Steilhang. Ich habe gerade die 90-Grad-Kehre gemacht, das Gelände ist flach. Auf einmal kommt von hinten eine Riesenwelle an, reißt mich nach vorne, ich merke plötzlich, dass ich mich überschlage, mein Hirn denkt: Oh, Scheiße! Eine Lawine!‘ Sie hat mich einfach mit sich mitgerissen und ein paar Mal ‚durchgewaschen‘, als wär’ ich in der Trommel einer Waschmaschine, wie man so sagt zu den Überschlägen im reißenden Schnee.
Ich spüre, wie sie langsamer wird. Ich werde unter den Schneemassen in Rücklage mit dem Kopf nach unten bergab geschoben, mein Hirn sagt: ‚Reiß die Arme hoch vors Gesicht, um dir eine Atemhöhle zu schaffen. Nimm die Hände hoch, vielleicht kannst du rausgreifen aus dem Schnee!‘ Doch in diesem Moment kommt alles mit einem Ruck zum Stehen. Stille. Ich bin wie einzementiert. Ich kann nichts mehr machen, nicht mal meinen kleinen Finger kann ich noch bewegen.
Mein rechter Fuß hängt verdreht nach hinten. Ich bekomme kaum Luft – nicht weil ich Schnee im Mund habe, sondern weil der Schnee derart Druck auf meinen Brustkorb ausübt. Mein Hirn fragt: ‚Scheiße. War’s das jetzt?‘ Ich denke an meine beiden Töchter und meine Frau. ‚Fuck!‘ Aber mein nächster Gedanke ist: ‚Nein. Die anderen holen dich raus. Einer von den Kerlen, der Italiener, der ist echt fit. Die haben die Abstände eingehalten. Die finden dich. Die holen dich hier raus.‘ Der Italiener: Er hat sich voll ausgekannt mit Verschüttetensuche.
Das Schlechtwetter am Tag zuvor hatten wir noch genutzt und am Nachmittag mit dem LVS, dem Lawinenverschütteten-Suchgerät, Übungen gemacht. Ich hatte gesehen, dass er das wirklich beherrschte. ‚Die holen dich raus. Horch mal, ob du etwas hörst.‘ Von Lawinentrainings weiß ich, dass du da unten alles hörst. Du hörst den Hund oben scharren. Du hörst das Piepsen der Suchgeräte. Du hörst alles. Aber ich hörte nichts. Ich hatte keine Zeit mehr. Es dauerte keine Minute, da hatte ich das Bewusstsein verloren und war weg.
Ich hatte keine Atemhöhle. Aber ich hatte es im letzten Moment geschafft, den Schnee aus meinem Mund auszuspucken und wenigstens den Kopf nach unten in den Kragen zu ziehen, sodass die Jacke wie eine Membran zwischen mir und dem Schnee funktionierte. Das war wahrscheinlich der Grund, warum ich so schnell ohnmächtig wurde: weil ich zu wenig Sauerstoff bekam, um bei Bewusstsein zu bleiben. Aber es war auch mein Glück, dass meine warme Atemluft nicht meine Atemhöhle vereiste und ich noch Restsauerstoff aus meiner Bekleidung bekam.
Die Suche
Was ich in meiner misslichen Lage nicht mehr mitbekam: Der Letzte in der Gruppe war als Einziger nicht mitgerissen worden. Er war draußen geblieben. Die beiden vor ihm steckten bis zum Bauch im Schnee, er hat ihnen instinktiv zuerst rausgeholfen.
Die beiden hinter mir steckten bis zum Hals im Schnee, wobei einer nur noch mit dem Gesicht aus dem Schnee ragte. Die mussten sie erst ausbuddeln. Und danach fiel jemandem auf, dass der Bergführer weg ist. Der Italiener war es, der nach mir zu suchen begann. Er hatte wohl auch gleich ein Signal. In der Feinsuche zeigte sein Gerät eine Entfernung von 2,8 Metern an, als kleinsten Wert.
Jeder weniger Erfahrene hätte sich gesagt: ‚Ich muss die Fläche weiter absuchen, um irgendwie einen kleineren Wert zu finden, um möglichst nah an den Verschütteten ranzukommen.‘ Aber weil er den Umgang mit seinem Gerät trainiert hatte und es deshalb gut kannte, urteilte er in dieser Situation einfach richtig und sagte den anderen: ‚Wir müssen nicht weitersuchen. Wir brauchen auch gar nicht erst zu sondieren. Er liegt hier tief unter uns.‘
Der Mann war echt fit in der Verschüttetensuche. Lebensrettend war auch, dass alle schaufeln konnten. Aber das Wichtigste war, dass einer den Umgang mit seinem Gerät trainiert hatte und es perfekt beherrschte. Ohne das hätten sie mich nicht so schnell gefunden. Ihre GPS-Uhren dokumentierten alles: Wer sich wann wo befand, wer wann wo buddelte und wann sie gemeinsam begannen, nach mir zu graben. 19 Minuten lag ich unter gut anderthalb Metern Schnee begraben. Die Überlebensstatistik weist für 19 Minuten in der Lawine sehr geringe Überlebenschancen aus.
Als sie mich rausholten, fehlte mir nichts. Nur kalt war mir und speiübel. Es war ein Riesenschneebrett gewesen, das uns gerade noch in seinem Auslauf erwischt hatte. Es war flaches Gelände, aber es lag genau in dem Bereich, in den ich nicht hatte kommen wollen. Genau die 20, 30 Höhenmeter, die ich abgewichen und doch zu hoch geraten war.
Scheitern als Chance
So blöd das auch gelaufen ist: Dieser Fall hat mich weitergebracht. Ausrüstungstechnisch und vom alpinen Gruppenverhalten her hatten wir alles richtig gemacht. Wir waren nicht fahrlässig gewesen, was unsere Ausrüstung und die Ausbildung angeht. Wir waren alle geschult im Umgang mit dem LVS. Wir hatten das am Vortag geübt. Ich hatte die Route nach der White-Risk-App ausgewählt. Basierend auf den Schweizer Landeskarten zeigt sie hoch aufgelöst, lawinengefährdete Bereiche an – mit Hanglayern für Fernauslösungsbereiche, Auslaufzonen und Hangsteilheiten.
Aber die Learnings waren ebenso unübersehbar: Ein Handy muss man im Schneetreiben immer wieder herausholen. Muss anhalten. Mit nassen Fingern auf das Display tippen. Das Handy schnell wieder ausschalten, um den Akku zu schonen. Ich war getrieben vom ständigen Gedanken: ‚Steck endlich das Handy weg und mach, dass du vorwärts kommst. Marschier halt mal. Es geht immer geradeaus, leicht fallend.’ Du gehst und bist plötzlich unsicher.
Du denkst: ‚Bin ich jetzt fallend? Bin ich nicht fallend?‘ ‚Geh ich? Oder steh ich?‘ Das spürst du gar nicht mehr. Was ich aus dieser Geschichte wirklich lernte: Die Ausrüstung war perfekt. Mein Fehler war rein psychologischer Natur. Ich wollte meiner Gruppe etwas bieten. Und ich habe einmal zu wenig aufs Handy geschaut und dadurch meinen festgelegten Korridor verlassen, weil mir die Zeit im Genick saß.
Darum kam ich prompt der heikelsten Stelle zu nahe. Mein Fehler steckte in meiner Ungeduld. Und in meinem Wunsch, Erwartungen erfüllen zu wollen. Es war meine Psychologie, die Gruppe hat nicht den geringsten Druck auf mich ausgeübt. Ich habe mir selber den Druck gemacht. Ich allein habe das entschieden, mir gesagt: ‚Das ist schon zu schaffen, wenn du aufpasst, hier nicht zu nah und dort nicht zu nah ranzukommen.‘ Eigentlich hätte ich sagen müssen: ‚Leute, das hat keinen Sinn, lasst uns was anderes machen.
Das ist mir heute zu heikel. Zeitmäßig. Sichtmäßig. Sturm. Temperaturen.‘ Stattdessen sagte ich mir: ‚Das schaff ich schon. Die sind alle fit. Und morgen haben wir die Trumpfkarte. Sonne. Neuschnee. Powder. Flaches Gelände.‘ Ich bin heute überzeugt, ich habe diese Lawine selber fernausgelöst. Da muss ich mir nichts vorlügen. Nur ein Prozent der Unfälle sind dem Material geschuldet. Der Rest den objektiven Gefahren, aber vor allem der Psychologie des Menschen.
Und zu welcher Ursachengruppe, die einer Fehleinschätzung aufgesessen sind, gehöre ich? Ich habe bei meinem Unfall nicht die Verhältnisse falsch eingeschätzt. Mir war vollkommen klar, was für ein Lawinenproblem herrscht. Was die Schlüsselstellen sind. Wo es tricky ist. Was ich machen muss. Auch meine Tourenplanung war okay. Ich habe nur das Risiko in Kauf genommen:
… und hatte am Ende unverschämtes Glück. Ich war zu frech. Zu überheblich.
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